Oda

Verbrauchte Luft und Stimmengewirr strömen ihr entgegen, als sie die Stufen zum Kellerklub hinuntergeht. Gleich hinterm Eingang hängt sich Moni an ihren Arm. »Steudtner hat gesagt, er hat große Zweifel an mir. Scheiße, na und?« Sie hebt ihr Glas, in dem es grün schimmert.

Oda murmelt etwas Nettes.

Moni wird nicht die Einzige sein, die das Vorspiel morgen vergeigt. Wenn Sie weiter einen Wettbewerb nach dem anderen gewinnen, werde ich Masur nach Ihrem Abschluss wohl einmal anrufen , hat Steudtner im Sommer nach einem ihrer Triumphe weinselig gesagt. Sie sollte das nicht aufs Spiel setzen, ihre Finger sind die gewandtesten im Studienjahr, und sie hat nie Schmerzen, doch schon am Vormittag hat sie mit dem Üben aufgehört.

Siegfried drängt heran, der schöne Siegfried, Kontrabass. Er reicht ihr ein Glas Wein. Kopf hoch, Schneewittchen, das klappt morgen. Sie dankt, verkrümelt sich in ihre angestammte Ecke. Ihr Stuhl ist besetzt, also steht sie mit dem Rücken zur Wand, die sie kalt anhaucht.

Sie kann alles, das ganze Konzert, und kann es nicht. Es klingt nicht, sie hört es genau. Warum, verflucht noch eins, ist ihr Gehör so gut!

»Schneewittchen?«, spottet jemand neben ihr. Sie verschränkt die Arme.

Die Schönheit, der Glanz, der nicht im Können wurzelt, der Technik, sondern in ihr, ist weg, sie vermisst ihn grausam. Alles andere ist Maschinenspiel, das will sie nicht. Ach, Papa, konntest du nicht warten mit dem Weglaufen, bis ich älter bin, wenigstens ein paar kleine Jahre, bis nach dem Studium? Ich bin so einsam ohne Familie.

»Allein hier, Schneewittchen?«

Sie dreht sich nun doch um, weil dieser angespitzte Ton gewaltig nervt. »Hör mal, du …« Der Mann ist so groß, dass er sitzen kann und ihr geradeaus ins Gesicht sehen.

Er legt den langen Kopf schräg, eine helle Locke fällt über seine Wange. »Ich bin Jürgen.«

»Jürgen.« Es klingt, als hätte sie Honig im Mund, das ärgert sie. »Siehst auch nicht gerade beschäftigt aus, würde ich sagen.« Ihr fällt ein, dass sie ihn schon mal gesehen hat, eine langbeinige Schöne am Arm, in der Schlange vorm Eiscafé.

»Man ist eben schneller allein, als man denkt«, sagt er.

Oda starrt zur Tanzfläche, auf der Paare zucken. Allerdings. Mama, Papa, in der Reihenfolge. Dass Papa lebt, ist ein Trost, aber ein ferner, er ist in Bochum. Sie nimmt noch einen Schluck von dem grauenvollen Gesöff.

»Ich bin lange nicht so traurig darüber wie du, wie auch immer du heißt.«

Was bildet der sich denn ein! Sie drückt sich von der Wand, schlendert zur Bar, wütend, dass ihr nichts Gepfeffertes eingefallen ist.

Er taucht neben ihr auf.

Natürlich, es kann gar nicht anders sein. Ein naher, wahrer Gedanke, der sie verblüfft.

»Wie heißt du denn nun? Schneewittchen sicher nicht, oder doch?«

Wenn er jetzt, wie der schöne Siegfried, sagt, dass sie eine Märchenprinzessin ist, hat er den Wein im Gesicht. Sie wartet eine Weile. »Oda, nur, damit du Ruhe gibst.«

»Oda. Was für ein Name. Oda, allein und traurig an einer Bar.«

Da ist ein Schlingern in seiner Stimme, die ziemlich tief ist, so als wäre sie aus der Spur gekommen, er räuspert sich umständlich. Oda holt tief Luft. »Ich bin nicht allein, bei mir geht es nur um eine Prüfung. Für dich tut es mir allerdings leid, aber das wird schon wieder.« Der lässige Ton gelingt ihr überhaupt nicht.

Die Musik verlischt, Licht blitzt auf, Protestgeschrei überall. Sie sehen einander an, die Welt rückt einen Millimeter woandershin.

»Da bin ich sicher«, sagt er. Nach einer ziemlichen Weile.

Sie löst sich, guckt in ihr Glas. Er hat schieferfarbene Augen, Meeraugen, die leicht schräg stehen, unter dichten Brauen.

»Wovor hast du solche Angst, dass du dich an deinem Glas festhältst, als wäre es ein Rettungsboot?«

Erschreckend, dass er das gemerkt hat. »Die Note in der Prüfung ist Voraussetzung für einen dreimonatigen Aufenthalt am Konservatorium in Moskau, jeder will dahin, die russische Schule ist Weltspitze. Oistrach nur einmal von fern sehen!«

»Du studierst also Geige.«

Woher weiß er, wer Oistrach ist?

»Ein Freund war dort«, schiebt er hinterher.

Fester Boden, dieses Thema. Sie neigt ihm den Kopf zu, um interessiert zu wirken, gelassen. Als machte es ihr nichts aus, dass er so nahe ist. »Wer denn?«

»Ist vier Jahre her, du kennst ihn nicht.«

»Wo spielt dein Freund jetzt?«

»Budapest.«

Sie plappert los. Was für ein Orchester, Kóródi ist ein großartiger Lehrer, ein Studienfreund ihres Professors. Einer seiner Bratschisten ist inzwischen in den USA, wie man hört, so was aber auch, das macht man doch nicht, sich ausbilden lassen und dann ab durch die Mitte.

»Wenn es dort nicht mehr ging … Hast du daran mal gedacht?«

Beschämt denkt sie an Papa. »Wie auch immer.«

»Er hatte ziemliche Schwierigkeiten, hat mir mein Freund gesagt, aber davon erzähle ich dir ein anderes Mal, wenn …« Er sieht sich um.

Wenn sie allein sind. Ihr Blut bauscht sich zu kleinen Wellen. »Und dein Beruf?«

»Ich habe Philosophie studiert, in Berlin, habe dort meine Dissertation angefangen, aber nun arbeite ich hier auf einer Baustelle.«

»Warum das denn?«

»Ich sage, was ich denke.«

»Das ist nicht besonders klug.«

»Und wenn schon.«

»Aber hier? Berlin ist in jeder Hinsicht besser als die Provinz.«

Er stützt den Kopf in die Hand und guckt, als wäre das Universum exakt so groß wie sie. »Ich bin froh, hier zu sein.«

Sie verkneift sich, ich auch zu sagen, gerade noch.

»Trotzdem denke ich darüber nach, woanders neu anzufangen.«

»Und wo wäre das?«

»Berlin natürlich.«

»Aber …« Sie versteht. Nicht das Berlin. Und das sagt er einfach so? »Ich würde in jedes Konzert der Philharmoniker gehen, wegen Schwalbé, er ist ein Wunder«, flüstert sie. Er spielt, was er fühlt, das ist Kunst.

Jürgen drückt sich einen schmalen Zeigefinger auf die geschürzten Lippen. Volle Lippen. Hitze steigt in ihrem Schoß auf, auf der Zunge schmeckt sie Salz. Er ist wirklich groß, lang gezogen, mit kraftvollen Händen. Ob sie ihm bis zur Schulter reicht? »Solche Wünsche sind gefährlich.«

»Wie mutig bist du?«, fragt er.

»Normal mutig.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Lässt du mich?«

»Wie das? Wollen wir durchbrennen?« Sein Lachen reißt sie mit. Dass sie das noch kann, so lachen!

»Um Himmels willen, nein. Nicht jetzt. Jetzt tanzen wir.«

Es ist inzwischen so voll, dass sie nicht bis nach vorn durchkommen und im Gang zwischen den Tischen tanzen. Oda ist schwerelos, eins mit den pulsierenden Rhythmen im Raum. Hinter ihr tanzt Jürgen, sie spürt seine Existenz wie ihre eigene.

»Lass uns gehen«, sagt er bald, den Kopf über ihre linke Schulter gebeugt, »hier ist es zu laut. Ich will dich so viel fragen.« Und nimmt einfach ihre Hand.

So gehen sie zur Garderobe, dem Ausgang, nach oben.

Draußen haben sie Hände und Augen beieinander. Eine Turmuhr schlägt, sie zählen laut mit. Zwölf Schläge.

»Schönen dritten Advent, Schneewittchen«, sagt er lächelnd, eine neue Welt tut sich auf. Und morgen wird sie darin spielen wie nie, sie weiß es einfach.