»Papa, ich will nicht allein aufs Klo gehen!«
Jan schälte sich aus den Decken, in seinem Kopf schlug jemand eine Trommel, der Klang einer zu kurzen Nacht. »Warte, mein Schatz.«
Sein Sohn streckte nicht die Arme aus, als er ihn aus dem Bett heben wollte, sondern drehte das Gesicht zur Seite. »Ich hab eingepullert, aber nur ein bisschen.«
»Nicht schlimm, hab ich früher auch gemacht.«
»Wirklich?«
»Du verrätst es keinem, ja?«
»Nur Mama«, erwiderte Connie, als sie durch den eisigen Flur nach oben stiegen.
Es war, als käme die Kälte aus einem unerschöpflichen Vorrat in den Tiefen der Erde, direkt unterm Haus. Da fehlte ein Keller, der das abfing, eindeutig. »Mama. Na gut.«
Er setzte Connie auf der Toilette ab, reichte ihm trockenes Unterzeug. Connie grinste, als ein spätes, sehr kleines Plätschern zu hören war.
Dann standen sie nebeneinander und putzten Zähne, er dicht am Fenster, weil der Platz vorm Waschbecken nur für eine Person reichte. Der Himmel draußen war tiefblau, Wolkenfetzen rasten darüber, unten stoben Schneeschleier umher, die Sträucher waren bereits leer gefegt. Die kleine Uhr an der Wand neben dem Fenster zeigte halb zehn Uhr an. Halb zehn! »Connie, wir müssen uns beeilen.«
Sein Sohn sah auf, das Gesicht nass vom Wasser. »Ich hab Oma gesagt, sie soll heute wieder mit mir malen. Hier.«
Er wusch sich ebenfalls das Gesicht. »Das wird nicht gehen, ich gebe heute den Schlüssel für das Haus ab, damit der Makler es mit Leuten besichtigen kann, die es kaufen möchten. Wir fahren ja bald heim.«
»Ich möchte das Haus haben. Schenkst du es mir?«
»Das kann ich nicht.«
Sein Sohn starrte die Wand an.
»Connie?«
Sein Junge wandte ihm den Kopf zu.
Genauso blicklos hatte Connie ihn angesehen, wenn er und Gesa gestritten hatten, stundenlang hatte Connie das durchgehalten. Jan setzte sich auf den Rand der Badewanne. »Weißt du, ich habe hier gewohnt, als ich ein Kind war. Meine Eltern Margit und Ronald haben mir die ganze Zeit nicht gesagt, dass sie nicht meine richtigen Eltern sind. Darüber bin ich sehr traurig und möchte deshalb nicht mehr herkommen.«
Connie bohrte den Blick in ihn hinein. »Wer sind denn deine richtigen Eltern?«
»Oda, die du schon kennst, und Jürgen.«
Connie bohrte den Blick in ihn hinein. »Ihr seid aber meine richtigen Eltern?«
»Das sind wir, und wir würden dich niemals darüber belügen. Sollen wir fragen, ob du die Zwillinge besuchen kannst, solange ich was zu erledigen habe?«
»Von mir aus«, sagte Connie und schlich aus dem Bad.
Jan raffte die nassen Sachen zusammen und trug alles, was ihnen gehörte, nach unten, wo Connie dabei war, seine Malsachen in den Rucksack zu stopfen.
»Wir machen Fotos von der Wand, dann kannst du sie zu Hause abmalen.«
Keine Reaktion. Er begriff.
»Was hältst du davon, dass wir Oda zu uns nach Berlin einladen und ihr dort zusammen weitermalt?«
Ein großes Lächeln. »Sie hat sowieso was vergessen.«
Connie hatte seine Mutter also schon ins Herz geschlossen. Seine Mutter. Er hatte es tatsächlich gedacht. »Was denn?«
Connie deutete zum Fenster.
Auf dem schmalen Brett stand gegen die Scheibe gelehnt ein Foto, er ging hin, nahm es in die Hand. Sein Herz hielt inne.
»Papa?«
Er starrte das Bild an. Starrte sich selbst ins Gesicht.
»Papa, wer ist das da drauf?«
Connie zog Jans Arm zu sich herunter. »Ist das dein Bruder?«
Irgendwie bekam er ein bisschen Luft in die Lungen, sein Herz schlug wild. »Nein. Mein Papa.«
»Besucht er uns auch?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Weil er nicht mehr lebte. Jan brachte es nicht fertig, das auszusprechen, es ging einfach nicht.
»Papa? Bist du traurig?«
»Ja. Oh ja, das bin ich.«
»Warum?«
Er sank auf die Knie, matt, wie erschlagen. »Weißt du, mein Schatz, der Ronald, mein alter Adoptivvater im Krankenhaus, ist gestern Abend noch gestorben.«
Connies Augen wurden groß.
»Weil er alt war, ganz, ganz alt. Es war gut, dass wir noch mal bei ihm waren, du vor allem. Das war große Klasse.«
Connie schlang die Ärmchen um seinen Hals, der Knoten in seiner Brust lockerte sich. Wie schade für Ronald, dass er eine solche Nähe nie zugelassen hatte.
»Ich hab Hunger, Papa, und meine Medizin dürfen wir auch nicht schon wieder vergessen«, sagte Cornelius nach einer Weile.
Er gab seinem herrlichen Kind einen Kuss. »Dann laden wir jetzt unser Gepäck ins Auto. Auch den Schlitten. Und dann schließen wir zwei hier zu.«
Nach seinem Termin im Beerdigungsinstitut machte er halt in einem Café, um endlich seinen Magen zu füllen. Beim Frühstück in der Bäckerei hatte er nichts heruntergebracht, nur ab und an einen verstohlenen Blick auf das Foto geworfen, mit wachsender Gewissheit, an einem entscheidenden Punkt angekommen zu sein. Am Tresen bestellte er die Quiche, die auf einer schwarzen Wandtafel in Kreideschrift angepriesen wurde, und reichlich Kaffee, danach setzte er sich an einen Tisch am Fenster, von dem aus er den Ausgang des Marionettentheaters gut sehen konnte. Connie würde noch eine halbe Stunde mit Manuel und den Zwillingen in der Kindervorstellung zubringen. Er hatte die Karten spendiert, nachdem Manuel seine Bereitschaft bekundet hatte, liebend gern wieder den Hütehund für dieses prächtige Dreigestirn zu spielen .
Als der Kaffee kam, trank er ihn in großen Schlucken aus, rief nach einem zweiten. Dazu aß er große Happen Quiche, die scharf schmeckte und irgendwie grün, nach Frühling.
Dann holte er das Foto aus seiner Hosentasche und lehnte es gegen seine Tasse, nach mehreren Versuchen, das mit seinen zittrigen Fingern hinzukriegen. Dieser Mann also.
»Hat Pauline diese Nacht zu Hause geschlafen?«, begann er, nachdem Frau Willmer abgehoben hatte. Spürte sie lächeln.
»Oh, das hat sie.«
Dann fragte er, wie es dazu kommen konnte, dass man ihn in der DDR zurückgehalten hatte, obwohl seine Mutter seine Freilassung in den Westen betrieb.
»Puh, das ist eine große Frage. Erst einmal aber haben wir Glück, dass Ihre Jugendhilfeakte heute Morgen auf meinem Rechner eingetrudelt ist.«
Ein Klatschen, dünne Pappe auf einem Tisch, Blättern.
»Die Akte beinhaltet zwei Vorgänge. Erstens einen Beschluss. Am 31. Mai 1971 wurde Ihrer Mutter Oda Scheurich auf Antrag der Jugendhilfe nach Paragraf einundfünfzig Absatz eins des Familiengesetzbuchs der DDR das Erziehungsrecht entzogen.«
Die Zeit dehnte sich, fiel in sich zusammen. Ihm war flau im Magen vor Anspannung.
»Herr Biege?«
»Ich bin hier. Weiter, bitte.«
»Zur Begründung heißt es, dass aufgrund der versuchten Republikflucht der Mutter während der Schwangerschaft, die zur Verurteilung nach Paragraf zweihundertdreizehn Strafgesetzbuch der DDR führte, ein schweres Staatsverbrechen vorliege, das ein Eltern-Kind-Verhältnis im Sinne des FGB von vornherein unmöglich gemacht habe.«
»Ein Kind braucht seine Mutter, was ist damit?«, fragte er scharf.
»Ihre Mutter hat sich auch nicht damit abgefunden. Es liegt ein Antrag auf Rückübertragung des Erziehungsrechts nach Paragraf einundfünfzig Absatz drei FGB in der Akte, Antragstellerin ist Oda Scheurich, der Antrag ist vom 2. Juni 1971.«
Sein Daumen zog eine dünne Schweißschicht über den Rand der Fotografie. »Gemäß diesem Beschluss hätte ich von vornherein nicht mitgekonnt in den Westen, was man meiner Mutter aber zugesichert hatte. Sie wurde Ende Juni 1971 in die BRD entlassen, ohne mich.«
»Offenbar.«
Er brauchte alle Kraft, seine Gedanken durch den Aufruhr in seinem Inneren zu lotsen. »Sie erzählt, dass man ihr an der Grenze die Entlassungspapiere übergeben und gesagt hat, ich sei aus Versehen bereits mit einem früheren Transport in den Westen überführt worden.«
»Sie haben Sie bereits kennengelernt?«
»Kaum, dass ich Kontakt aufgenommen hatte, stand sie vor meiner Tür.«
»Dann muss sie Sie sehr vermisst haben.«
Der Satz legte sich um ihn wie eine sehr gute Decke, warm, federleicht. »Sie hat dann von drüben aus versucht, mich nachzuholen, und viel Geld für meine Freigabe angeboten. Was wohl erneut zu Versprechungen seitens der DDR-Behörden führte.«
Ein Rascheln im Hintergrund. »Über einen solchen Vorgang kann ich nichts in Ihrer Akte finden.«
»Sie denken, sie hat diese Legende gestrickt, um besser mit ihren Schuldgefühlen fertigzuwerden?«
»Das habe ich nicht gesagt. Nur, dass alles, was nicht bewiesen werden kann, mit Vorsicht zu genießen ist. Tatsache ist jedenfalls, dass die Familienzusammenführung, also die Überführung von Kindern aus der DDR in die Bundesrepublik zu ihren Eltern, erst recht in den frühen Siebzigerjahren, so gut wie nie praktiziert wurde, nur in ganz streng geregelten Ausnahmefällen. Wenn das Kind schwer krank war, zum Beispiel, wenn es schwer erziehbar war oder aus anderen Gründen ein Klotz am Bein der DDR.«
»Ich war ein Frühchen. Habe mich nicht gut entwickelt, das haben wir schwarz auf weiß.«
»Geldzahlungen waren außerdem willkommen.« Sie seufzte.
»Das ist das Härteste an meinem Job: zuzusehen, wie die Menschen auf diese Löcher starren. Fangen Sie trotzdem nicht an zu spekulieren, das bringt nichts, glauben Sie mir.«
Er stellte das Bild wieder auf, das sein Atem umgeweht hatte. »Darf ich trotzdem einen Gedanken äußern?«
»Natürlich.«
»Wenn sie das Erziehungsrecht nicht zurückerhalten hätte, hätte man sie an der Grenze doch nicht belügen müssen. Dann hätte man ihr von vornherein gesagt, dass sie nur allein gehen kann, weil sie laut Beschluss vom einunddreißigsten Mai keine Rechte als meine Mutter mehr innehat. Man muss ja nicht lügen, wenn man rechtsgültige Fakten auf seiner Seite hat.«
Sie ließ eine Pause. »Stimmt.«
»Und noch etwas. Meine Adoption fand im November 1971 statt.«
»Richtig.«
»Meine biologische Mutter sagt aber, man hätte ihr bis Juni 1973 in Aussicht gestellt, dass ich in den Westen nachkommen könne. Dann erst erhielt sie plötzlich die Mitteilung, dass ich längst adoptiert bin. Das ist doch eigenartig.«
Stille am anderen Ende. Blätterrascheln. »Frau Willmer?«
»Jaja, ich bin noch dran.« Wieder Blättern, ein Seufzer. »Ah so. Verstehe.«
»Was denn?«
»In dem Beschluss der Jugendhilfe über die Bewilligung des Antrags auf Annahme an Kindes statt durch Margit und Ronald Biege steht, dass die Einwilligung der Eltern in die Adoption nicht erforderlich sei.«
Wieder war das Foto umgefallen, diesmal ließ er es liegen. »Und?«
»Der Verzicht auf diese Einwilligung wurde selten vom Referat Jugendhilfe einfach so erklärt, normalerweise wurde die Einwilligung ersetzt durch einen Gerichtsbeschluss auf Antrag der Jugendhilfe. Um die Adoption rechtlich weniger angreifbar zu machen.«
»Ich verstehe gar nichts.«
»Einfacherweise hätte es zur Begründung heißen können, dass Ihrer Mutter das Erziehungsrecht entzogen worden war und eine Einwilligung deshalb nicht erforderlich. Hier steht aber, dass man ihren Aufenthaltsort nicht ermitteln konnte.«
Weil sie in der BRD war, wie praktisch. Sein Herz schlug zu seinen Ohren hinaus. »Dann hatte man ihr das Erziehungsrecht tatsächlich zurückübertragen. Und musste diese Rückübertragung irgendwie aushebeln, um mich dabehalten und adoptieren zu können, weil jemand das so wollte.« Jemand, der danach erst erfahren hatte, dass es ihn gab. »Und das hat zwei Jahre gedauert? So lange hat man meine biologische Mutter hingehalten.«
»Herr Biege, die ganze Sache tut mir sehr leid, aber ich werde mich an keiner Spekulation beteiligen. Sie müssen wohl damit leben, dass es auf diese Frage vielleicht keine Antwort gibt.«
»Jedenfalls ist der Vorgang nicht ganz einwandfrei.«
»So weit kann ich mitgehen. Am besten fragen Sie Ihre biologische Mutter nach den Akten ihres damaligen Rechtsbeistands.«
Der Platz vor dem Theater füllte sich mit Menschen, Jan erkannte Connies grünen Anorak und zwei hüpfende blaue Jacken neben ihm und musste lächeln. Der Kellnerin gab er ein Zeichen, noch einen Moment zu warten, während er zusah, wie die Jungs heranstürmten. Wie gut, dass Connie sich seiner Mutter so sicher sein konnte, was für ein Geschenk.
»Herr Biege?«
»Ich bin noch da.«
Das Foto bekam einen Knick, als er es hastig umdrehte. Wenn er ihn hatte behalten wollen, warum hatte er ihn dann nicht zu sich genommen, ihn selbst adoptiert? »Geht aus den Unterlagen hervor, wer mein Vater ist? Wurde er in das Verfahren einbezogen?«
Die Kinder rannten den Fußweg entlang, auf das Café zu, Manuel ihnen nach. Jan stand auf und winkte mit dem freien Arm.
»Soweit ich es sehen kann, nicht. Ihre Mutter hat angegeben: Vater unbekannt. Dafür hat sie sich einiges anhören dürfen.«
Sie hatten ihn entdeckt und betraten das Café. »Was denn?«
»In dem Beschluss zum Entzug des Erziehungsrechts stehen noch zwei hässliche Sätze in Richtung Promiskuität, die lese ich Ihnen nicht vor.«
Woher hatte dieser Mann gewusst, dass es ihn gab? »Sie konnte sich nicht sicher sein, ob er die Flucht überlebt hatte. Zum Zeitpunkt, als ich geboren wurde, muss sie noch gehofft haben, dass er es nach drüben geschafft hatte oder auch aufgegriffen und irgendwo eingesperrt worden war. Sie wollte ihn aus der ganzen Sache raushalten, um ihm nicht zu schaden.«
Die Jungs kamen an seinen Tisch, Paul langte in eine Dose voller Zuckertütchen, die beiden anderen taten es ihm gleich. Ratsch, waren drei Tüten offen, ein Teil ihres Inhalts ergoss sich auf die Tischplatte. Die Jungs machten sich daran, den verkrümelten Zucker vom Tisch zu lecken. Manuel versuchte, sie zurückzuhalten, mit einem Gesicht, als wäre er am liebsten mit von der Partie.
»Kann ich Ihnen sonst noch helfen?« Noch einmal Frau Willmer.
Manuel kippte sich den gesamten Inhalt der Zuckerdose in eine Hand. »Wir warten draußen auf Jan, los, ihr Rangen.« Dann bugsierte er die Jungs zurück zur Tür.
»Im Moment nicht. Danke nochmals für alles«, sagte er und legte auf, drückte der verblüfften Kellnerin einen Zwanzigeuroschein in die Hand und folgte den anderen hinaus auf den belebten Markt. Das Foto hatte er außen in seiner Jackentasche verschwinden lassen, um es nicht zu nah am Körper zu haben.