Margit

Ronald tritt rülpsend aus dem Schlafzimmer, sie hastet zurück nach oben, aber es ist zu spät. Jan ist aus der Tür getreten, eine halbe Stunde vorm Weckerklingeln. Groß, blond, aufrecht, das Gesicht wie aus Marmor gehauen. Seit Monaten tritt jeden Morgen ein zweiter Horst aus diesem Zimmer.

»Gehst du mal aus dem Weg?«, nörgelt Jan und hält sich die Nase mit spitzen Fingern zu. »Ich hab’s nämlich eilig.«

Ronald richtet sich auf, eine Hand im Türrahmen, die andere tastet nach dem Geländer. Eine Antwort bekommt er nicht zustande, obwohl er darum kämpft.

»Du kannst dich noch mal hinlegen, Ronald, es ist erst halb acht.«

Ronald schlägt nach ihrer Hand, ein paar unverständliche Brocken fallen aus seinem Mund. Heiser geschrien ist er, das ist der Entzug, der sich in der Nacht meldet, bei ihnen allen. Das muss aufhören, niemand weiß das mehr als sie. Sie wünschte, dass Ronald es längst geschafft hätte, damit ihr Sohn nicht mehr so oft das Haus verlässt. Immer größer werden die Distanzen, immer kürzer die Zeiträume, in denen er es hier nicht mehr aushält.

Jan schiebt den Koffer mit dem Fuß zum Treppenabsatz. »Und könntest du bitte aufhören, abends Bier in dich reinzuschütten? Nimm Wein, der riecht besser.«

Beim Ausholen mit der Linken kippt Ronald gegen die Wand, sie stößt einen Schrei aus. Jan schlüpft an ihnen vorbei, der Koffer hüpft krachend, Stufe für Stufe, nach unten.

»Dein Zug geht doch erst nach dem Mittagessen, mein Sohn!«

»Hab’s mir anders überlegt.«

»Aber … deine Fahrkarte.« Sie geht ihm nach die Treppe herunter. »Hast du die umgetauscht?«

»Nö.«

Er nimmt seine leuchtend rote Skijacke vom Haken. Aus Westberlin, gekauft vom Begrüßungsgeld, ein richtiges Angeberstück.

Sein Koffer ist aufgesprungen, Pullover, Socken sind herausgerutscht. Er hebt den Deckel mit dem Fuß an und lässt ihn auf das Durcheinander fallen. »Lieber jetzt als später. Tschüss.«

Nun reißt er die Haustür auf, als hätte dieses Haus ihm was getan. Dann dreht er sich noch einmal um. »Er soll sich endlich zusammenreißen. Besprich das inzwischen mit ihm.«

Das hat sie, nicht nur einmal. Die neue Zeit macht mich kaputt, verstehst du das nicht? , hat Ronald nur gesagt. Verfluchte Kerzen, verfluchte Gebete zu einem Fantasiegebilde von vorgestern, verfluchtes Geschrei nach Freiheit und dem Ende der DDR, wie sie sie kennen, hinter dem nichts steckt als Konsumgier. Verfluchtes Herumgetrampel auf einem wehrlosen Land.

»So redet man nicht mit seinem Vater, das muss ich einmal mit dir besprechen.« Ronald tappt die Stufen herab, eine Schulter an der Wand. Ein Bilderrahmen kullert die Stufen herunter, sein Glas zerschellt auf den Flurdielen.

»Ronald, liebe Güte!«

Er lässt sich gegen die Tür fallen, die Jan aus der Hand gerissen wird und zufällt.

Gebrüll von beiden. Sie muss sich Augen und Ohren zuhalten, so nah am Weinen ist sie. »Aufhören, sofort!«

Keine Reaktion.

Sie stößt einen Schrei aus, als ihr die Luft ausgeht, ist es still im Haus. »Wir haben doch noch nicht mal gefrühstückt.«

Jans Lippen sind weiß vor Anstrengung. »Hab keinen Hunger.«

»Aber ich.« Ronald wackelt an ihr vorbei zum Stuhl neben der Kommode. »Gibt’s Spiegeleier?«

Jan öffnet die Tür erneut, Schnee weht herein, eine frische weiße Brise. Der Vorgarten dahinter ist eine Märchenlandschaft, wie schon so oft.

»Warte. Jan!« Und doch hat sich alles, alles verändert. »So gehst du mir nicht aus dem Haus. Ohne Frühstück. Bitte.«

Er späht zum Gartentor hinunter, schließt die Tür. Schiebt den Arm in den Rücken, als sie die Hand danach ausstreckt. »Wenn ich sage, dass ich keinen Hunger hab, dann hab ich keinen. Darf ich das bitte selbst entscheiden?«

Ronalds Faust knallt auf die Kommode. »Solange du deine Füße unter unseren Tisch stellst, hörst du auf das, was deine …« Der Rest geht in einem Hustenanfall unter.

So darf das nicht enden, nicht, wenn sie sich eine ganze Woche lang nicht sehen. »Lass uns wenigstens überprüfen, ob du an alles gedacht hast, mein Sohn.« Sie kniet sich neben den Koffer. Hebt zwei Pullover heraus und faltet sie anständig, mit gesenktem Kopf, um ihr Gesicht zu verbergen. Es ist nicht nur die Wende, die wie ein Sturm durch dieses Haus gefegt ist. Dreizehn Jahre ist es her, dass sich der erste Riss auftat in dieser Familie. Dreizehn Jahre, seit Horst mit einem Motorrad gegen einen Baum fuhr und aus dem Leben gerissen wurde, das sie so behütet hat. So unglaublich lange fehlt Horst schon, ihnen allen, aber nur Jan sperrt sich stundenlang in sein Zimmer, starrt die Wand an und spricht nicht. Oder schrummelt auf einer jämmerlichen Gitarre und denkt, sie merkt es nicht. Horst hatte diese jugendliche Bekümmernis auch, und sie war es, die ihm da rausgeholfen hat.

»Wo ist der blau-weiße Pullover, den du zu Weihnachten bekommen hast? Der ist am dicksten.«

Mit spitzen Fingern hebt er einen Stapel Wäsche an.

»Ah, da.« Aber ihm darf sie nicht zur Seite stehen so wie Horst. Ronald lässt den Kopf auf die Flurkommode sinken. Sie stupst ihn an. »Wirklich, leg dich noch einmal hin und schlaf ein bisschen, ich bringe dir später eine Hühnerbrühe.«

Jan linst durch das Schlüsselloch nach draußen. »Aber bitte oben, im Schlafzimmer.«

»Ich habe ausreichend Brötchen da, erwartest du jemanden?« Vor drei Wochen saß Jan auch noch am Sonntagmorgen am Küchentisch und guckte selig in seinen Kakao.

»Schaffst du es, oder soll man helfen?«, fragt er in Ronalds Richtung.

»Wir sind dem feinen Herrn peinlich.«

»Sie nicht.«

Ronald fuchtelt mit der Faust, die kleine Lampe auf der Kommode kracht zu Boden.

Für Sekunden ist nur das Ticken der Standuhr zu hören und das Ächzen unter den Wandverkleidungen. Dann das Ratschen des groben Reißverschlusses am Koffer.

»Vati kann nichts dafür, dass er die Arbeit verloren hat. Und einfach in den Westen rüber, das ist doch auch keine Lösung, wir sind hier zu Hause.«

»Muss man ausprobieren.«

Gut, dann anders. »Weißt du, wie viele Kinder letzten Monat im Heim abgegeben worden sind? Elf. Elf Kinder. Eine alleinstehende Mutti ist einfach in mein Büro marschiert und hat gesagt, sie müsste für drei Tage ins Krankenhaus, dabei hat sie drüben eine neue Arbeitsstelle, bei der ihr die Kinder im Weg sind. Hast du eine Ahnung, wie die nach ihr weinen? Der Kleinste ist zwei, zwei Jahre alt! Und das ist kein Einzelfall im Kapitalismus.«

Jan schielt durch den Türspalt in den weißen Vorgarten, sein Gesicht wird leuchtend hell. »Trotzdem. Gut, dass die DDR weg ist.«

All ihre Mühe, die Liebe, die sie ihm eingepflanzt hat zu diesem Land – umsonst! Wie bitter das ist.

»Du könntest auch mal nach Paris fahren oder London, raus in die Welt, dann verstehst du, was ich meine.«

Die Tür wird aufgeschoben, die kleine Diana Hagenow tritt ein, mit roten Wangen unter einer weißen Pudelmütze, und sagt artig Guten Tag. Die beiden sehen sich an, als bestünde die Welt aus nicht mehr als einem Augenpaar.

»Leningrad ist viel schöner«, sagt Margit.

»Nur leider schön kaputt«, sagt Diana keck und hebt die zarten Schultern. »Das soll sich aber ändern, wie man hört. Es werden internationale Gelder fließen, UNESCO und so.«

Jan nickt. »Gute neue Zeit eben.«

Er klingt wie diese Kirchenleute. Verräter an dem Land, das sie in Frieden hat groß werden lassen.

»Na klar«, sagt Ronald, der sich erstaunlich aufrecht hält. »Und wir sind alle Verbrecher. Dass ich mir das mal sagen lassen muss, hätt’ ich auch nicht gedacht.«

»Keiner sagt das zu euch. Allenfalls zu Onkel Hans. Dass der sich überhaupt noch auf die Straße traut.«

Diana schiebt ihre kleine rote Hand unter Jans Arm. »Du weißt es noch nicht? Steht heute in der Zeitung. Hans Schaller ist vorgestern vermöbelt worden, am helllichten Tag. Vor seinem Haus.«

Margits Herz schlägt laut zwischen den Ohren. »Da siehst du’s, Jan!«

Jan presst Dianas Arm an seinen Körper, die beiden stehen fest wie eine Mauer.

»Kein Stress, Leute, ihr wart keine so hohen Tiere. Und jetzt müssen wir.«

Er nickt Ronald zu, umarmt sie flüchtig, ohne Dianas Arm loszulassen. Sie will sich nicht gehen lassen, das will sie wirklich nicht, aber das Herz liegt ihr auf der Zunge und wird größer und größer. »Wir werden ausgespuckt. Alle werden ausgespuckt, die nicht mehr gebraucht werden. Und wer weiß, ob ihr je einen guten Platz abkriegt in diesem neuen Deutschland.«

Diana löst sich von Jan. »Ich warte draußen.«

Jans Gesicht wird wachsweich. »Wir suchen uns einen, wir kriegen das hin.«

Wie sie diesen Tonfall kennt, diese Kraft des Neubeginns. »Und lasst euch kaputtwirtschaften vom Kapitalismus.«

»Dafür kriegen wir ja auch was. Und jetzt ist gut.«

Ronald steht auf und schlappt ins Wohnzimmer, krumm wie eine Säbelspitze.

»Ich schmiere euch schnell noch ein paar Brö…«

»Mutter!«

Die Tür zum Wohnzimmer knallt zu.

»Es wäre auch genug für die anderen da. Ihr seid doch zu viert, nicht wahr?« Wann durfte sie ihn eigentlich das letzte Mal ungestraft mein Schatz nennen?

Er deutet auf ihren Koffer vor der Kommode. »Tschüss, Mutti. Und alles Gute für deine Weiterbildung.«

Es klingt, als wäre das ein Abschied für immer, oder bildet sie sich das ein? Sie schielt zur Wohnzimmertür. »Nur eins noch.« Er kann wohl gerade nicht zeigen, dass sie einander nahe sind, aber er war, ist und bleibt ihr Kind. »Ich habe das Haus auf dich überschreiben lassen. Es gehört dir.«

»Was? Wieso das denn?«

»Damit du auf der Welt immer ein Zuhause hast, mein Sohn.« Wenn schon alles andere auf und davon flog. »Ein Haus steht fest. Das bleibt. Außerdem hast du gute Hände, Tatkraft. Du hältst es in Ordnung.«

»Oh. Mann. Und Vater?«

»Musst du nicht los?«

»Schon. Ja.«

Die Leere, die er gleich hinterlassen wird, dehnt ihre Brust, ihre Stimme verliert sich darin. »Wir reden ausführlich, wenn wir beide wieder da sind.«

»Okay«, sagt er achselzuckend und lässt sie zurück.

Stapft durch den jungen, blitzweißen Schnee, den der Himmel zur Erde schickt, mit Horsts aufrechtem, noblem Gang. Zu seiner kleinen Freundin herabblickend, als wäre die ein Weltwunder, den Koffer wie einen Schirm über ihre Köpfe haltend.