Jan

Ächzend stampfte die Fähre gegen den Wind an, der sie ans Ufer schob. Jan schätzte, dass es keine zehn Minuten dauern würde, bis die Fähre endlich angelegt hatte und er mit Hartwig sprechen konnte. Er unternahm einen weiteren Versuch, Oda zu erreichen, legte auf. Wartete eine Weile, stopfte, als kein Rückruf kam, sein Telefon zurück in die Hosentasche. Bis gestern Abend hatte Oda nicht genug von ihm bekommen können, und jetzt ignorierte sie ihn, und das gefiel ihm gar nicht. Es war schon ein Uhr, sie dürfte längst unterwegs nach Hause sein, vielleicht sogar angekommen. Hoffentlich war ihr unterwegs nichts zugestoßen. Heike hatte er zuvor aber erreicht. Ich bin 1981 geboren, wie sollte ich Horst kennen , hatte sie gesagt. Meinen Vater habe ich allerdings mal von Wahlverwandtschaft sprechen hören, als die Rede auf ihn kam, mit einem Hochwohlgeborenen. Er mochte ihn nicht, glaube ich.

Jan legte den Sicherheitsgurt ab und schloss das Autofenster. Connie war mit einer Zeitschrift beschäftigt, die sie an der Tankstelle gekauft hatten. Leise stieg er aus.

Mutti hatte nicht viel von Hans’ Geltungssucht gehalten und keinen Hehl daraus gemacht. Von Horst hingegen hatte sie viel gehalten und es offen gezeigt. Sie war am Boden zerstört gewesen, als Horst starb, er erinnerte sich genau. Er war mitten in der Nacht aufgewacht, weil das Telefon geklingelt hatte. War die Treppe heruntergeschlichen, hatte einen Fuß nach dem anderen zwischen die Stäbe des Treppengeländers gesetzt, weil die Stufen so knarrten. Wie ein Magnet hatte ihn ihr leises Wimmern ins Wohnzimmer gezogen. Da hatte sie auf dem alten braunen Sofa gesessen, kerzengerade, in völliger Dunkelheit. Horst wird nie mehr herkommen. Er hatte einen Unfall. Ihre Stimme war aus einer anderen, einer freudlosen, leeren Welt gekommen, die ihm entsetzliche Angst einjagte. Er hatte sich nicht getraut, nach dem Lichtschalter zu tasten, obwohl er es unbedingt hatte tun wollen, tun müssen, weil diese Welt dabei war, ihn zu verschlingen. Aber gesagt hatte er etwas, das er in der Schule gehört hatte, von Katharina, der Pfarrerstochter, die er nie zur Geburtstagsfeier einladen durfte. Im Himmel sehen wir ihn vielleicht wieder, Mutti. Ehe er das hatte zurücknehmen können, weil bei ihnen nicht gesprochen wurde, als würde man im Gestern leben, hatte sie ihn in die Arme genommen. Schön wäre das, mein Sohn, wirklich schön. Und bis dahin stehen wir zwei zusammen, nicht wahr?

Am nächsten Morgen war sie durch die Küche geflirrt wie aufgezogen, es hatte ihn in tiefe Unruhe versetzt. Er hatte losgeplappert, vom Sportfest, dem Kuchen, den er am Geburtstag in die Schule mitnehmen wollte, von Svens dunkelblauem Rennrad, und sie hatte sich wieder beruhigt. Ihn in ihre Arme gezogen. Wir werden dir wohl auch so ein Rad besorgen, was, mein Sohn?

Er bekam einen leichten Schlag auf die Schulter.

»Du siehst schrecklich aus«, sagte Silvio.

Connie hockte auf seinem Arm, Jan hatte gar nicht mitbekommen, dass sein Sohn ausgestiegen war, konnte sich auch kaum aus seinen Gedanken lösen. Jan strich ihm übers Haar, während er ein jähes Auflodern in seinem Inneren spürte, wie einen warmen Schauer. Horsts ungeteilte Aufmerksamkeit, seine Bereitschaft, herumzutoben, mit ihm zu spielen, die offenen Blicke für ihn, Jan. Er hatte ihn lieb gehabt, das war echt gewesen, immer.

»Danke, dass du kurzfristig Zeit für mich hast, Silvio«, brachte er heraus. Natürlich kann ich mich loseisen , hatte Silvio auf seine SMS geantwortet, umso lieber, als es um meinen alten Herrn geht . »Und stell dir vor, ich hab auf dem Boden geschlafen, deshalb sehe ich aus wie ausgewrungen.«

»Dann kommt ihr heute Abend zu mir, wir bestellen Pizza.«

Sein Sohn jubelte.

»Von mir aus gern.«

Und er hatte ihn vermisst, diesen Wunschvater, den er nicht wirklich gekannt hatte. Einen Mann, der die Mittel hatte, herauszufinden, was aus Oda geworden war. Und den Mumm besessen, ihr ihr Kind wegzunehmen. Er rief seine Spiele-App auf und hielt Connie das Telefon hin. »Silvio und ich haben kurz was zu besprechen. Wartest du solange im Auto?«

Es dauerte keine zehn Sekunden, bis sein Sohn auf dem Beifahrersitz saß. Leises Wummern war zu hören, weil seine Füße vor Aufregung gegen das Handschuhfach schlugen, Jan beließ es dabei.

Dann holte er das Foto aus der Jackentasche und erzählte Silvio von seinem Gespräch mit Frau Willmer, dem mit Heike. »Das Schlimmste ist, dass sie ihn mir als Onkel Horst präsentiert haben, dabei ist er wohl nicht mal ein echtes Familienmitglied, wie meine Cousine vermutet. Aber das bin ich ja auch nicht.«

Vor ihnen ging die Fähre an Land, knirschend schob sich die Auffahrrampe ans Ufer. Eine Handvoll Autos rollte herunter, zwei Fußgänger entfernten sich mit verkniffenen Gesichtern. Hartwig schaute sich suchend nach Fahrgästen um. Dann sah er sie beide, stemmte die Fäuste in die Seiten und setzte sich in Bewegung, runter vom Schiff.

»Zu blöd, dass sie mir nicht mehr Rede und Antwort stehen können.«

»Bist du sicher, dass sie es tun würden?«

»Nein.«

Silvio trat einen Schritt vor, sodass er genau neben ihm stand.

Hartwig, der von Eis und Schneekristallen glitzerte wie ein Weihnachtsbaum, baute sich vor ihnen auf. Zog das fleischige Gesicht grinsend in die Breite. »Na sieh einer an, wer wieder im Lande ist. Mein Beileid wegen Ronald, hättest dich ruhig eher mal blicken lassen können.« Hartwig hustete, spuckte in den Sand. »Und jetzt seid ihr zwei gekommen, um mich zum Kaffeetrinken einzuladen, oder was?«

Silvio zog eine Grimasse. »Wir sind hier, weil du gleich Jans Fragen beantworten wirst.«

»Ach so. Denkst du?«

»Anderenfalls kannst du dir das mit dem Tor abschminken.«

»Was für ein Tor?«, fragte Jan.

»Er will ein Tor in der Mauer haben, auf meinem Teil des Grundstücks, damit er mit seinem Rasentraktor reinfahren kann, weiter vorn ist der Weg zu schmal zum Abbiegen, dort stehen die Nachbarhäuser.«

»Nicht dein Ernst«, sagte Hartwig.

»Und ob.«

»Bitte«, sagte Jan. »Können wir uns entspannen, es geht immerhin um Margit. Sie hat sich um Silvio gekümmert und dir damit geholfen, das weißt du genau.«

»Und wenn schon«, kläffte Hartwig. Trat mit dem dicken Arbeitsstiefel gegen einen gefrorenen Schneehaufen, fluchte, verzog das Gesicht. »Ich weiß nur, dass ich sie nicht auf dem Gewissen hab! Und Ronald auch nicht.«

»Wissen wir«, sagte Silvio. »Aber woher weißt du es?«

»Von ihm natürlich.«

»Warum hast du dann nicht gesagt, dass ihr sie begraben habt?«

»Ach, leck mich doch.«

Zwischen den Gesichtern von Vater und Sohn wirbelten Atemwolken. »Du wirst Jan jetzt alles sagen, was sich im Zusammenhang mit Margits Tod ereignet hat, damit er da einen Strich drunter ziehen kann. Oder die Mauer bleibt, wie sie ist. Es ist nämlich eine schöne Mauer. Findet das Denkmalamt bestimmt auch.«

Hartwig stierte seinen Sohn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Zog die Boxernase hoch und wischte mit dem Ärmel drüber. »Ronald hatte mich damals angerufen, am Dienstag war das, nachdem Margit weg ist. Gegen halb zwölf, da geh ich immer in die Mittagspause. Dass er sie gefunden hat im Wald beim Gatower Ufer, wo sie vor ihrer Abfahrt zur Weiterbildung angeblich noch hatte spazieren gehen wollen. Ohne ihn, was ihn gewundert hatte, aber er hatte das geschluckt. Die von der Weiterbildung hatten ihn wohl am späten Montagnachmittag angerufen und gefragt, wo sie bleibt.«

Die Erinnerungen in Jans Kopf überschlugen sich. »Und danach war er auf die Suche gegangen, weil ihm das mit dem Spaziergang gleich so komisch vorgekommen war?«

»Haargenau.«

»Er hat sie doch aber mit mir gesucht, am nächsten Wochenende. Da war sogar die Polizei dabei.«

Hartwig zuckte die Achseln. »Da war sie schon … äh … beerdigt, sozusagen.«

»Die hatten eine Hundestaffel!«

»Hat doch gestürmt wie verrückt, was sollen die Viecher denn da riechen.«

Jan atmete so tief ein, als würde er gleich lange unter Wasser zubringen. »Und warum wollte sie spazieren gehen?«

»Weil sie durch den Wind war, vielleicht? Irgendwas musste am Wochenende passiert sein, was, hat Ronald aber nicht gesagt.«

»Sicher?«

»Er war ziemlich aufgelöst. Und sie genauso.«

Jan dachte an ihr letztes Gespräch im Hausflur. »Ging es um mich?«

»Die Welt dreht sich nicht nur um dich, du …«

»Das Tor«, unterbrach Silvio ihn. »Fehlt gerade nicht viel.«

»Mann!«

»Wie auch immer. Warum hat er nicht gleich die Polizei verständigt? Oder wenigstens, nachdem er sie gefunden hatte?«, fragte Jan.

Hartwig blickte stur an ihnen vorbei.

Silvio trat einen Schritt an seinen Vater heran.

Der hob eine dreckige Hand, ließ sie fallen. »Weil er sie angefasst hat, als er sie fand. Die hätten ihm dann alles in die Schuhe geschoben.«

»Das mit dem Anfassen hätte man erklären können. Aber warum hätte er ihr was antun wollen?«

»Erstens: Die beiden waren allein unterwegs. Zweitens: Es lief nicht mehr so doll zwischen ihnen, wegen Ronalds Sauferei. Drittens: Sie hatte das Geld.« Hartwig drehte ihm das breite Gesicht zu. »Der Liebling wusste auch nicht alles, was?«

»Ich würde sagen, das Tor kann er sich abschminken. Los, Jan, wir gehen.«

Hartwig versperrte Silvio den Weg. »Sie wollte ihn in eine Entziehungsklinik verfrachten. Hatte sich ’nen Anwalt genommen, um rauszufinden, ob das geht, so zwangsweise. Sie hatte zu Ronald gesagt, sie könne nicht länger zugucken, wie er sich selbst kaputt macht. Das hat er mir mal erzählt.«

Jan spürte leichte Benommenheit. Und Gewissheit. Sie wollte nicht, dass Ronald trank, und sie war es gewohnt, Dinge durchzusetzen, die sie für richtig hielt.

Hartwig zog die Nase hoch. »Hatte ja nix, das arme Schwein, der war richtig arm, als sein Job weg war. Das Haus hatte sie schon auf ihren Goldjungen überschrieben, das hatten ja ihre Eltern gekauft und bezahlt. Und das Sparbuch war auch ihrs. Die gute Margit hat Ronald geldmäßig knappgehalten, damit er gezwungen ist, sich Arbeit zu suchen. Und dann ihr ewiges Genörgel, das alles kann einen Mann echt fertigmachen.«

»Um ihn gegen seinen Willen in einer Klinik unterzubringen, hätte man ihn entmündigen müssen.«

»Keine Ahnung. Sicher ist sicher , hab ich zu ihm gesagt. Wenn die rauskriegen, was sie vorhatte, bist du dran.«

»Und da mein Onkel Hans gerade abgehauen war, hattet ihr eine Geschichte für den dummen Jungen, der sie wie blöd gesucht hat. Und für die Polizei«, sagte Jan trocken.

Hartwig stand kerzengerade. »Ich hab Ronald geholfen, wie das meine Aufgabe ist als Kumpel.« Dann schielte er zur Fährrampe, wo ein einziges Fahrzeug im Begriff war, aufzufahren. »War’s das? Manche Leute müssen arbeiten.«

»Der Damm ist frei«, sagte Silvio.

»Bis heute Abend zieh ich durch.«

»Moment noch. Jan?«

Jan zog das Foto aus der Tasche und hielt es Hartwig hin. »Es geht noch um jemanden, den du kennen könntest.«

Hartwig schob die dicken Fäuste tief in die Hosentaschen, während er das Bild betrachtete. Grinste. »Ach nee. Deshalb.«

Jans Puls schoss in die Höhe, er hörte es deutlich in seinen Ohren. »Deshalb was?«

»Ronald war mies drauf, jedes Mal, wenn der kam, dieser Schönling, so ein hundertfünfzigprozentiger Sozialist.« Seine fleischigen Lippen reichten ihm bis zu den Ohren vor Begeisterung. »Der ist doch mit ’nem West-Motorrad vorn Baum, war’s nicht so? Wo hatte der das Ding eigentlich her? Wie auch immer, Ronnie hat ihn nicht vermisst.«

»Hartwig, verdammt!«

Hartwig grinste. »Gab Leute, die gestichelt haben, dass der und Margit was miteinander hatten, so ähnlich, wie du dem sahst. Wusste ja keiner, dass sie genauso wenig deine Mutter ist wie Ronnie dein Erzeuger. Die drei haben euch alle an der Nase rumgeführt, was?«

Jetzt war Jan es, der in den Schnee spuckte, dicht neben Hartwigs ölverschmierte Stiefel. »Hau einfach ab. Ehe mir die Hand ausrutscht.«

Silvio legte seinen Arm um ihn und zog ihn zum Auto. »Und es gäbe nicht mal einen Zeugen.«


Später hockten sie gemeinsam vor dem Computer im Foyer des Polizeireviers und suchten nach Jürgen Schubert und Horst Schaller. Connie saß auf dem Fußboden und riss gelbe Haftnotizzettel von einem Block, die er zuvor mit kleinen Fischen vollgemalt hatte, und klebte sie zu einer Reihe an die Wand. Dieser Raum braucht dringend Kunst , hatte Silvio bloß gesagt, als Jan das hatte unterbinden wollen, und Connie einen weiteren Block gereicht, in knalligem Orange. Ab und an langte Connie in die Tüte mit Schokobonbons, die Silvio aus einer Schublade hervorgezaubert hatte, ab und an hielt er Silvio eines hin, der es jedes Mal genussvoll aß.

Die Suche war erfolglos. Keine der zwei Personen Jürgen Schubert oder Horst Schaller war vorbestraft, auch nicht zu DDR-Zeiten. Dafür gab es Autos, die auf diese zwei Namen zugelassen waren.

Silvio lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Dann fange ich mal an, die alle durchzutelefonieren?«

»Wir suchen einen Mann mit zwei Namen und wissen nicht mal, welcher der richtige ist. Wir brauchen einen besseren Plan.«

»Ach was«, beschied Silvio. »Wir brauchen Expertise.«


»Welchem Zweck könnte die Tarnung deines Vaters Jürgen Schubert als Horst Schaller überhaupt gedient haben?«, fragte Diana, kaum, dass sie auf dem Bildschirm aufgetaucht war und er sein Anliegen vorgebracht hatte. Sie saß in einem grün gestrichenen Büro, soweit er sehen konnte, befanden sich große Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch. Auf einem stellte sie ihre Kaffeetasse ab.

»Ich sollte nicht wissen, dass dieser Mann mein Vater ist. Ich sollte ja überhaupt nie erfahren, dass ich adoptiert bin. Vielleicht haben sie auch gemeinsam beschlossen, mich im Dunkeln zu lassen. Die Frage ist, warum? Meine Welt wäre nicht untergegangen, wenn ich es eines Tages erfahren hätte, das muss ihnen doch klar gewesen sein. Aber ihre vielleicht. Was hatten sie zu verbergen?«

»Viele Menschen bleiben aus Bequemlichkeit an ihren Lebenslügen kleben.«

»So war Margit nicht.«

Räuspern. Nicken. »Unterstellen wir also, dass dir diese Vaterschaft aus einem bestimmten Grund verschwiegen wurde. Horst oder Jürgen brauchte die Lüge. Möglichkeit eins: weil er schon vergeben ist, als er deine Mutter kennenlernt. Verheiratet eventuell. Er scheut die Mühen einer Auseinandersetzung mit der Ehefrau, gar eine Scheidung. Lieber will er mit ihr, seiner Geliebten, im Westen ein neues Leben anfangen. Das geht schief, sie werden geschnappt.«

»Dann erfährt er, dass sie ein Kind von ihm hat und dieses Kind mit in den Westen nehmen will. Aber woher? Wer sagt ihm das?«

»Lass uns erst das eine zu Ende denken. Die Geliebte ist weg, er hier, sein Kind auch bald weg, vielleicht hat er keine Kinder und wünscht sich eins, oder er will sich an ihr rächen, weil sie es doch noch nach drüben schafft und er nicht. Oder er hat Schuldgefühle, weil er sich für ihren Knastaufenthalt verantwortlich fühlt, für deine Geburt dort … In jedem Fall hat er Verantwortungsbewusstsein, ansonsten hätte ihn sein Kind nicht gekümmert. Wie in so vielen anderen Fällen.«

Silvio schüttelte den Kopf. »Wenn es ihm wirklich um das Kind ging, warum versucht er es nicht ein zweites Mal mit der Mutter, warum sucht er keinen Kontakt zu ihr? Stellt einen Ausreiseantrag? Da muss mehr dahinterstecken.«

Diana nickte. »Vielleicht ist seine Liebe zur Geliebten bereits erloschen, und er ist wieder bei seiner Ehefrau untergekrochen. Ohne freilich das Kind aufgeben zu wollen.«

»Mies.«

Jan dehnte den Nacken, der sich fest und schmerzhaft anfühlte. »Sie mochten sich, Mutti und Onkel Horst, das weiß ich. Da war eine tiefe Verbundenheit, für sie war er Familie. Ansonsten hätte sie nicht sein Kind als ihres aufgezogen.« Wie brutal das in seinen Ohren plötzlich klang, wie berechnend, nach einem Tauschgeschäft zu beiderseitigem Vorteil, dabei war es um ein Menschenleben gegangen, um seins. Und das von Oda, das sie damit zerstört hatten. Hatten sie sich darüber je Gedanken gemacht?

»Demnach könnte er tatsächlich Horst Schaller geheißen haben. Ein entfernter Cousin?«

»Ich weiß es nicht. Mir haben meine Eltern gesagt, dass er mit Mutti über ein paar Ecken verwandt ist und deshalb mein Onkel ist, und ich habe das natürlich geglaubt, schließlich trug er Muttis Mädchennamen, Schaller.«

»Und wir wissen nicht sicher, ob er diesen Namen nur benutzte oder ob es tatsächlich seiner war. Also sind wir nicht wirklich weitergekommen, tut mir leid, Jan.«

»Er war jedenfalls ein Idiot«, sagte Silvio. »Wie konnte sich Oda nur in ihn verlieben, die ist doch bestimmt eine kluge Frau.«

Jan hielt das Foto, das sie ihm gegeben hatte, vor den Bildschirm.

Dianas Blick wurde weit. »Der sieht ja gut aus! Ich könnte mir vorstellen, dass die beiden verrückt nacheinander waren. Also, sie nach ihm.« Sie sah Jan in die Augen, lachte ein tiefes Lachen.

Connie fuhr zu ihm herum, richtete sich kerzengerade auf, als wittere er eine Bedrohung. Nur das leise Klacken des Sekundenzeigers war zu hören, nicht einmal das Schmatzen von Papier, das sich von einem Klebefalz löste. Jan sah zu Diana, zuckte entschuldigend mit den Achseln. Dann beugte er sich zu seinem Sohn herunter. »Nicht mehr lange, mein Schatz, ja?«

Connie nickte.

Silvio stupste seinen Sohn an. »Die Schokobonbons sind alle, wie ich sehe, na, so was.«

»Du hast sie aufgegessen.«

Silvio schob die Unterlippe vor. »Sollen wir zwei nachsehen, ob Herr Ringer noch was in seinem Büro liegen hat? Saure Schlangen zum Beispiel. Die liebt er nämlich.«

Connie streckte die Arme aus, ließ sich von Silvio durch den Flur tragen, lachte, strampelte mit den Beinen.

»Mein Vater muss jedenfalls Verbündete gehabt haben«, sagte Jan, als die beiden verschwunden waren, »wie hätte er sonst erfahren, dass es mich gibt? Auskünfte über Inhaftierte wurden sicher kaum erteilt, schon gar nicht, wenn man nicht mit ihnen verheiratet war. Außerdem gibt es da diese Unklarheit in meinen Adoptionsunterlagen.« Er erzählte von dem Gespräch mit Frau Willmer, dem Verdacht, dass man Oda das Erziehungsrecht bereits rückübertragen hatte, ehe jemand entschied, dass er doch in der DDR bleiben sollte.

Eine Weile sagte sie nichts, sah nur die Tischplatte an. »Es ist tatsächlich öfter vorgekommen, als man immer denkt«, sagte sie dann.

»Was denn?«

Sie stützte den Kopf in die Hände, massierte ihre Stirn. »Oje.«

»Diana?«

»Möglichkeit eins haben wir durchgespielt: die Annahme, dass er verheiratet war, sich also aus privaten Gründen nicht zu Oda und zu dir bekennen konnte.«

Der Groschen fiel so schnell, dass ihm schwindlig wurde. »Hartwig hat behauptet, dass Horst ein Hundertfünfzigprozentiger gewesen sei, das klang nicht nach Anerkennung, im Gegenteil, dabei ist er selbst in der Partei gewesen.«

»Du denkst also, was ich denke.«

»Oda sagt, er habe den Staat abgelehnt, wollte ihn verlassen.«

Diana kam dicht an ihren Bildschirm heran. »Das eine schließt das andere nicht unbedingt aus.«

Ihr zartes Gesicht war auf einmal so nahe, dass Jan die feinen Linien darin erkennen konnte. »Was meinst du damit?«

»Ich habe mal eine Fortbildung besucht, es ging um die Strafverfolgung in der DDR und staatlich gelenkte Möglichkeiten, ihr zu entgehen. Besonders gern hat man politische Häftlinge für die Staatssicherheit verpflichtet.« Sie verschränkte die schmalen Hände ineinander. »Stell dir folgendes Szenario vor: Du versuchst, in den Westen abzuhauen, wirst geschnappt. In U-Haft in Hohenschönhausen bekommst du als Staatsfeind monatelang einen sehr eindrücklichen Vorgeschmack auf die Zustände in DDR-Gefängnissen. Da bietet man dir an, die Seiten zu wechseln. Politische waren oft Intellektuelle, schlaue Leute, die die Stasi gut brauchen konnte, schon, um diese Kreise zu infiltrieren. Sie waren dort bekannt, sprachen deren Sprache. Unser Mann lässt sich darauf ein.«

»Und bekommt als Gegenleistung Zugang zu Informationen. Dass seine Freundin in Haft sitzt und schwanger ist. Später, dass er einen Sohn hat, der zusammen mit der Mutter in den Westen soll. Die tun auf seine Bitte hin, was sie können, um das zu verhindern. Im Zweifel könnten sie ihm einen anderen Namen verschafft haben. Den der Familie, die sein Kind adoptieren wird, wenn er es nicht selbst tun darf. Oder kann. Horst Schaller.«

»Ein ziemlicher Aufwand für einen Einsteiger, der frisch aus dem Knast kommt und sich erst noch bewähren muss.«

Vielleicht hatte sein Vater darum gekämpft, dass die Stasi sich für ihn und sein Kind einsetzt. »War so etwas wirklich möglich?«

»Du würdest staunen. Hast du eine Stasiakte?«

»Keine Ahnung.«

»Lass danach suchen. Eine Anfrage ist schnell gestellt. Ich gebe dir die Kontaktdaten.«

Sie schrieb etwas auf einen Zettel, hielt ihn an den Bildschirm.

Er schoss ein Foto der Telefonnummer darauf. Legte das Handy zur Seite, wagte sich näher an den Bildschirm. Spürte nun doch ein inneres Kribbeln, mindestens ein Echo davon. »Danke, dass du mir so großzügig hilfst. Immerhin wäre aus uns beinahe mal was geworden, und ich habe einen Rückzieher gemacht. Mich nicht mal verabschiedet, glaube ich. Oder?«

Sie lächelte. »Wir waren Kinder, Jan. Ich bin drüber weg.«

Dann wurde der Bildschirm schwarz.

»Guck mal, Papa.« Connie stand plötzlich neben ihm, hielt einen Schlüssel in der Hand und strahlte übers ganze Gesicht. »Wir wohnen jetzt bei Silvio, weil wir kein Haus mehr haben.«


Am Nachmittag lag Connie unter einer dicken Decke auf Silvios Sofa und schlummerte. Schon im Auto war er eingenickt, gleich nach einem kleinen Zwischenfall hinter einer Kurve, wo er die verzehrten Süßigkeiten in den Schnee gespuckt hatte. Jan hatte seinen Sohn in Silvios Haus getragen, das sie empfangen hatte, als hätte es nur darauf gewartet, dass sie kämen. Seitdem hatte er Zeit gehabt, mit einem mürrischen Herrn von der Stasiunterlagenbehörde zu telefonieren und ein paar Formulare auszufüllen. Danach hatte er das Frauengefängnis Hoheneck gegoogelt und eine Dokumentation angeschaut. Hatte Frauen wie Oda ins Gesicht gesehen, klugen, sensiblen Frauen, deren Jugend und Lebensfreude zerrieben worden waren von gemeinen Mitinsassinnen und brutalem Wachpersonal. Die bewusst mangelernährt wurden, damit sie fortwährend froren, ihre Arbeitsnormen nicht schafften, schleichend krank wurden und blieben, ihr Menschsein vergaßen. Himmel, er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, jahrelang immerfort zu frieren. Wie man sich in so einer Umgebung zusammenhielt, was es Oda abverlangt haben musste, inmitten dieser Grausamkeiten Mensch zu bleiben.

Im Flur legte er sich seine Jacke über die Schultern und öffnete die Tür, um seinen Kopf zu kühlen. Und blieb wie angewurzelt stehen.


»Dein Freund Silvio hat mir den Weg erklärt, ich habe ihn eben getroffen, in der Dienststelle der Polizei«, sagte Oda und nahm die Hand von der Türklingel.

Sie stand da wie ein mürbes Stöckchen, strichdünn, zerbrechlich. Eine Hand hatte sie unter den dicken Rollkragen eines roten Strickpullovers gegraben.

Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Aber wieso das denn?«

Der Wind wehte eine Brise Schnee von einem Strauch, genau in ihr Gesicht. Sie wischte ihn halbherzig ab. Kein Scherz darüber, kein Lachen.

»Komm doch rein. Ich mache uns Tee.«

Sie trat in den Flur. »Wo ist Connie?«

»Schläft nebenan auf der Couch.« Er holte ein Handtuch aus dem Bad, reichte es ihr mit klammen Fingern.

Sie fuhr sich damit übers Gesicht. »Dann gern. Aber lass mich den Tee machen, du siehst aus, als wäre dir der Schreck in alle Glieder gefahren. Dabei war es nur Schnee.« Der Schatten eines Lächelns.

Jan sah, dass sie mit sich rang, etwas Wichtiges sagen wollte und nicht wusste, wie. »Ich habe eine Dokumentation über Hoheneck gesehen«, sagte er in die Stille. Sah, wie Oda schrumpfte, fühlte sich hilflos, ahnungsvoll allein. Wartete.

Es geschah nichts, außer dass sie die Finger tiefer ins Handtuch grub.

Er räusperte sich. »Danke für das Foto.«

Sie atmete tief, angestrengt. »Eine Freundin hat es mir vor vielen Jahren geschickt, sie hatte es bei einer Geburtstagsfeier aufgenommen und mir Jürgens Kopf herauskopiert, freiwillig ließ er sich ja nicht gern fotografieren.«

»Das ist bei mir ähnlich.«

Sie lächelte matt. »Und wie du steckte er voller Tatkraft. Überlegte nicht lang, legte einfach los. Nach Heidelberg wollte er, stell dir vor. Jura studieren. Er hatte sogar einen alten Stadtplan, aus einem Antiquariat. Jürgen hatte sehr genaue Vorstellungen von den Dingen, die er haben wollte.«

Jürgen, der Lügner. »Da war kein Platz für ein Nein zur Flucht?«

Sie reichte ihm das Handtuchknäuel. »Er hatte den Plan schon gefasst, bevor er mich kennenlernte. Ohne mich wollte er dann nicht mehr gehen.«

Mit ihr bleiben aber auch nicht. Jan lauschte nach drüben, im Wohnzimmer war es still. »Ich verstehe jetzt einiges besser. Nach dieser Dokumentation«, sagte er. Spürte, dass er um etwas herumzureden versuchte, das ihnen beiden gleich den Boden wegreißen würde. Dass er davor wegrennen wollte und auch nicht. Es war wie in der Mitte durchgerissen werden.

»Oh. Das musst du nicht. Kannst du auch nicht, kein Mensch kann das.« Ihr Blick war leer, wie erloschen.

»Trotzdem bin ich sauer, dass du mich nicht schon vor
dreißig Jahren gefunden hast, mir wäre einiges erspart geblieben.«

»Uns allen. Oh, uns allen.«

»Ich bin stinksauer, um ehrlich zu sein. Auch auf Margit, auf Ronald, aber die sind tot«, fuhr er fort.

»Danke für deine Ehrlichkeit.«

»Danke für deine. Aber gut, dass du nicht mir zuliebe irgendwelche Geschichten erfunden hast, die mich trösten sollen. Es geht nur ohne Geheimnisse und Hintergedanken, wenn wir uns weiter sehen wollen.«

»Genauso ist es. Hör mir zu, Jan.«

»Warte. Hör du erst kurz zu, ehe mich der Mut verlässt. Jürgen, mein Vater. Ich kenne ihn …« Er holte Luft. »Als meinen Onkel Horst.«

Oda sank gegen die Wand neben der Tür, als hätte man ihr die Luft abgelassen.

Er stützte einen Arm neben ihren Oberkörper, um sie notfalls auffangen zu können, schnell, aus reinem Instinkt. »Er hat uns besucht. Mir Geschenke gemacht. Er war ein Teil meiner Kindheit. Bis 1980, da starb er bei einem Unfall mit dem Motorrad.«

»Oh Gott!«, keuchte sie und beugte sich vornüber.

»Möglich, dass er im Gefängnis die Seiten gewechselt hat.«

Ein Ruck ging durch Oda, ein Aufbäumen wie gegen einen nahen Tod. »Nein. Nein! Ich habe doch auch nicht unterschrieben!«

Sein Arm fing sie, hielt sie vom Umkippen ab. Am liebsten hätte er zurückgenommen, was er gesagt hatte, um nicht ansehen zu müssen, wie sie in Stücke zersprang. »Ihr Frauen seid so viel stärker als wir.«

Sie rang nach Luft, brauchte eine Weile, ehe sie ruhiger atmen konnte. »Ich war nicht stark, Jan, niemand ist stark in so einer Situation. Red weiter, bitte.«

»Die haben ihm dann geholfen, seine Spuren zu verwischen. Ihm einen anderen Namen gegeben. Horst Schaller.«

Keuchend wiederholte sie den Namen, spuckte ihn regelrecht aus.

»Oda?«

Sie schlug die Hände an die Wangen. »Er hat mich geliebt, das kann man doch nicht ablegen wie ein zerschlissenes Hemd!«

»Nein, niemals, das kann man nicht. Ich weiß es genau.« Er zog einen Schemel heran, der neben der Flurgarderobe stand, bedeutete ihr, sich zu setzen. »Ist ihm bestimmt nicht leichtgefallen. Es waren ja auch ganz andere Zeiten damals. Vielleicht haben die ihn gefoltert. Physisch. Oder psychisch.«

»Diese Verbrecher!« Oda schluchzte, schlug die Hand vor den Mund.

»Freiwillig hat er das bestimmt nicht getan.« Ein lächerlicher Versuch, sie zu trösten, und gelogen wahrscheinlich, aber Jan wusste nicht, was er sonst tun sollte.

Sie schüttelte den Kopf, drückte sich schluchzend von der Wand, ballte die Fäuste. Sammelte sich. Wartete minutenlang.

Er ließ sie gewähren.

»Und nun ich, Jan«, sagte sie dann.

Eine dumpfe Ahnung beschlich ihn. »Erst mal mache ich uns Tee, ja? Und dann setzen wir uns in Ruhe hin.«

Sie schob sich vor die Tür zur Küche. Blickte ihm fest in die Augen. Beschwörend. »Hör mich bis zum Ende an, versprichst du mir das?«

Sein Herz schlug plötzlich überall in seinem Körper.

»Und, wenn du mich hassen musst, Jan, dann geht das in Ordnung.«