Sein Oberkörper arbeitete wie ein Blasebalg. »Du warst schon einmal hier. Du hast mich belogen!« Er war laut geworden.
»Ich habe es dir eine Zeit lang verschwiegen. Das war falsch.«
»Das ist alles?«
»Nein, aber Connie soll das nicht hören, bitte. Lass uns rausgehen.«
Sein Magen zog sich zusammen. »Nicht alles? Was kommt denn noch!«
Sein Telefon schrillte.
Jan öffnete die Tür, trat hinaus, während er sein Telefon aus der Hosentasche rupfte.
»Ich bin fast da, um Connie abzuholen. Wo seid ihr denn gerade?«, fragte Gesa am anderen Ende.
Er versprach ihr den Standort von Silvios Haus zu schicken, legte auf, ein schlimmes Geräusch in den Ohren. Wumm, wumm, wumm. Sein Herz war so laut, dass er kaum etwas anderes hörte. Er wandte sich wieder zu Oda um, die zitternd in der Tür stand.
»Weißt du, was so schlimm daran ist? Dass Connie dich kennt und mag! Dabei bist du ein Mensch, der lügt, und ich möchte nicht, dass er von Menschen umgeben ist, die so was tun. Ich habe die Nase voll davon! Und es macht für mich keinen Unterschied, ob man die Unwahrheit erzählt oder bloß die Wahrheit verschweigt oder sich herausredet, das Ergebnis ist dasselbe.«
Sie sah ihn an, die Augen groß wie Scheunentore.
Sein Telefon klingelte erneut.
»Jan, ist alles gut, du warst so kurz angebunden?«, fragte Gesa.
»Alles in Ordnung«, sagte er. Seine Stimme bebte. »Bis gleich.«
»Moment! Wie geht es Connie?«
»Gut, er hält Mittagsschlaf. Er freut sich, dass du kommst.«
»Gib ihn mir bitte mal.«
Jan drückte sich an Oda vorbei zurück ins Haus. Öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Fror auf der Schwelle ein.
Die Decke lag auf dem Fußboden, das Fenster stand offen. Er stürzte hin. Draußen Spuren im Schnee, die vom Haus wegführten.
Oda war ihm gefolgt, schlug die Hände vors Gesicht, als sie das leere Sofa sah.
»Was ist los bei euch?«, fragte Gesa an seinem Ohr. »Jan?«
»Connie ist raus in den Garten, ich melde mich gleich wieder.« Er ließ das Telefon fallen, stürzte zurück in den Flur und aus dem Haus.
Folgte den Schuhspuren bis vor zum offen stehenden Gartentor. Dahinter verloren sie sich im platt getrampelten Schnee des Pfads, der um das Grundstück herumführte, raus zu den Feldern.
An dessen Ende blieb er atemlos stehen, vor sich nichts als Weiß, wie mit dem Messerrücken glatt gestrichen. Brüllte nach seinem Jungen. Keine Antwort, nur das einsame Sirren der Luft.
Connie konnte unmöglich weit gekommen sein, er hatte doch bis vor ein paar Minuten ganz ruhig geschlafen!
»Papa?«
Er fuhr herum, stürzte zurück zu dem alten Holunderbusch am Zaun, daneben hockte sein Sohn, die Arme um den Oberkörper geschlungen.
»Um Himmels willen, Connie, was machst du da?« Er zog sein schlotterndes Kind unter seine Jacke.
»Du hast geschimpft. Mit der Oma. Laut.«
»Es tut mir leid, so leid, dass du das hören musstest.« Er drückte, küsste seinen Jungen, bestand für den Moment aus nichts als Dank.
Bis jemand an seiner Schulter rüttelte. »Sagt mal ihr zwei, was macht ihr da?« Silvio.
Sein Sohn drückte sich weiter an ihn, kroch ihm regelrecht unter die Jacke. »Und du, was machst du hier?«
»Ich dachte, ich schaue besser mal bei euch vorbei, nach dem, was deine Mutter den Kollegen … Aber ihr zwei kommt jetzt mit ins Warme, und zwar augenblicklich.«
Jan stand auf, lief los. Oda stand mitten auf dem Weg. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, trug er Connie an ihr vorbei. Meinte zu sehen, dass sie nickte. Fühlte gar nichts.
»Ich frage nicht, was passiert ist«, flüsterte Silvio, nachdem sie das Haus betreten hatten. »Aber du musst mir zuhören.«
Jan ging ins Wohnzimmer, wickelte seinen Sohn in die Decke und schlang die Arme um ihn.
Silvio öffnete einen großen Schrank dem Sofa gegenüber, schaltete einen Kindersender im Fernsehen ein. Holte ein Glas Wasser und eine Tüte Salzstangen und stellte alles vor Connie ab. »Kann ich kurz drüben in der Küche mit dem Papa sprechen? Es ist sehr, sehr wichtig.«
Eine dumpfe Ahnung schälte sich aus dem Durcheinander in seinem Kopf. Er strich seinem Sohn über den Kopf.
»Kommst du dann her zu mir?«, fragte Connie und lachte zu Silvio hin.
Der lachte zurück. »Aber sicher, mein Freund.«
»Du musst keine Angst haben«, sagte Jan, ohne zu wissen, warum. »Die Mama ist gleich hier. Dann wird alles gut.«
»Es gibt Neuigkeiten«, sagte Silvio, als sie in der Küche standen.
Jan lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, stützte die Arme darauf. »Allerdings. Du hast ja keine Ahnung.«
»Habe ich. Von allem. Wo ist deine Mutter eigentlich hin?«
»Wieder gegangen.«
»Pass auf. Diana hat mich eben angerufen. Das Pseudonym, unter dem dein Vater bei der Stasi arbeitete, war nicht Horst Schaller, sondern Jürgen Schubert. Er war auf sie angesetzt, Jan.«
»Jürgen Schubert?«
»Er lebte in Berlin, seine Frau ist letztes Jahr verstorben. Aber es gibt zwei Töchter. Nadja und Tamara Schaller.«
In ihm schlugen tausend Glocken auf einmal. Zwei Schwestern. Von seinem Vateronkel Horst Schaller. Jürgen Schubert, als er Oda kennenlernt. Die er im Auftrag der Staatssicherheit überreden soll, mit ihm aus der DDR abzuhauen. Vorgibt, sie zu lieben. Herrgott.
Es klingelte, Silvio verließ die Küche. Jan hörte Connies Jauchzen, Gesas klingenden Alt, Gemurmel. Erleichterung durchströmte ihn. Seine Familie war hier bei ihm, er war nicht allein.
Silvio kam zurück, schloss die Tür. »Odas Vater war ein bekannter Onkologe. Ist drüben geblieben nach einem Kongress in Westberlin. Er sollte mit ihrer drohenden Inhaftierung erpressbar gemacht werden und aus Angst um die Tochter in die DDR zurückkommen.«
Jans Kopf war klar, wie durchgefegt. »Und woher weiß Diana das so schnell?«
»Der Typ in der Behörde ist ihr Exmann.«
Frohes, liebevolles Geschwätz strömte zu ihnen herüber, das Herz ging ihm auf. »Stell dir vor, Silvio, sie hat mir eben gesagt, dass sie vor dreißig Jahren schon einmal hier war und meine Adoptivmutter getroffen hat. Deswegen war sie bei euch, bei der Polizei, nicht wahr?«
Silvio nickte. »Was wirst du jetzt tun?«
Jan zuckte die Achseln, dann stürzte er zur Tür hinaus.