Oda

Da kommt er übers Feld auf sie zu, ihr lieber, lieber Junge. Der Mann über der Mitte des Lebens, der Säugling, der immerfort nach ihr weint, und alles dazwischen. Die Zeit ist eingestürzt, die Momente, in denen sie beisammen waren, haben alle anderen aufgesaugt. Er hebt den Arm, will wohl weiterreden mit ihr, das ist gut. Ein Gefühl von ihrem Leben als etwas Ganzem, Abgeschlossenem, stellt sich ein. Sie ist hier bei ihm, wirklich hier. Wo er so viele Jahre lebte, unbeschwert, und doch sich selbst ein Geheimnis.

Die Insel ist an dieser Stelle flach, die Landschaft weit. Wie oft mag er hier herumgestromert sein? Mit dem netten Silvio, mit anderen Jungs, kleinen, verschlagenen Rotzlöffeln? Hat sich die Knie aufgeschlagen, Räuber und Gendarm gespielt, Bonbons zerknackt, bis die Plomben aus den Zähnen bröselten? Drachen steigen lassen, als die Blätter fielen, die Farbe des Sommers im Gesicht? Das Meer in der Ferne grollen gehört, sich gefürchtet?

Die letzten Schritte geht er langsam, schwankend. Drückt die Füße in den Schnee, als wolle er prüfen, ob der Boden darunter trägt.

»Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass ich dich das frage«, ruft er, als er ein paar Meter vor ihr stehen bleibt. Sein Blick geht an ihr vorbei. »Was dann passiert ist. Aber ich muss.«

»Es ist in jedem Fall richtig. Und sehr mutig«, ruft sie zurück. Der Wind überm Feld ist schneidend. Sie zieht den weiten Rollkragen ihres Pullovers fest zusammen.

»Also?«

Sie geht langsam, einen Schritt nach dem anderen, auf ihn zu, schaut und schaut, will den Anblick in ihre Netzhaut einbrennen. Das ist ihr Kind. Sie ist seine Mutter. Die für den Augenblick nicht mehr tun kann als hoffen, dass es stark genug ist. Oda zieht sich zurück hinter ihre Stirn, wo die Erinnerungen bereitstehen. Bomben, die gleich alles in die Luft jagen werden.

»Wir haben uns am Montagmorgen noch einmal getroffen, nach jenem Samstagnachmittag, an dem ich bei euch vor der Tür stand.«

Er rollt mit den Schultern. Sein Blick hetzt umher, findet keinen Halt, es reißt sie in Stücke. »Ich wünschte, alles, was geschah, wäre nicht passiert. Ich hatte kaum einen anderen Gedanken seit diesem Tag. Nach wie vor denke ich, dass wir beide gute Absichten hatten, sie und ich. Wir wollten eine Lösung finden.«

»Ohne mich.«

»Du warst noch so jung. Deine Adoptivmutter hat mich beschworen, dass man deine Welt nicht einfach so aus den Angeln heben darf, dass man behutsam mit dir sein muss. Und ich hasse mich dafür, dass ich es doch getan habe. Es ist unverzeihlich.«

»Ein Treffen also? Am Bahnhof?«, ruft er.

Leuchtend hell sind die Bilder in ihrem Kopf, die Konturen messerscharf. Die braune Hotelhalle, ein gelber Polsterstuhl. Der Konsalik mit dem orangefarbenen Einband auf ihrem Schoß. Grauweißer Himmel, Möwen, die umherschweben wie Tücher. Die Angestellte mit der Auberginentönung im Haar, die mit dem Telefonhörer an sie herantritt.

»Deine Adoptivmutter hatte im Hotel angerufen und gesagt, wir sollten vor ihrer Abreise noch besprechen, wie wir es dir beibringen. Sie musste zu einer Weiterbildung, wenn ich mich recht entsinne.«

»Und dann?«

»Von meinem Hotel aus sind wir losgegangen. Durch die Stadt Richtung Steilküste, einen ziemlich langen Weg. Ich wollte alles über dich wissen. Und sie davon überzeugen, dass keine Gefahr von mir ausgeht.«

Er zieht den Kopf ein, sinkt ein Stück in sich zusammen.

Sie muss daran denken, wie er sich als Baby zu verstecken suchte, wenn laute Geräusche von irgendwoher kamen, die kleine Stirn runzelte. Wie sie sich glättete, wenn sie für ihn sang. Wie einfach das war, wie kostbar. »Sie wollte mich vertrösten, einen fernen Zeitpunkt bestimmen, wann du es erfährst, das wollte ich aber nicht. Ich wollte dich sofort sehen, es dir schonend beibringen, gemeinsam mit ihr.«

Er stößt ein hartes Lachen aus. »Wie lange habt ihr über mich verhandelt?«

»Eine Stunde etwa.« Sie fühlt, was er fragen muss und nicht über die Lippen bringt, und wie ihn das quält. »Nur ich habe danach den Heimweg angetreten.«

»Was war mit ihr?«

»Ach, Jan. Sie ist gestürzt.«

Er richtet sich auf. Langsam. »Das weißt du?«

In seinem Blick ist pures Entsetzen, klar und kalt. Ihr Herz presst sich in ihre Ohren, sie kann fast nichts hören. »Ich war dabei.«

»Und du hast ihr nicht geholfen? Warum nicht?«

Lieber, lieber Gott. »Ich bin doch schuld daran. Es kam zum Streit. Plötzlich hat sie mir eine runtergehauen, dann noch eine. Ich bin mit dem Rücken ziemlich hart gegen einen Baum geknallt.«

Ihr Atem setzte aus. Tiefes Schwarz senkte sich über sie. Darin zogen Papas Hände vorbei. Mamas Haar. Graue Augen, Jürgens schmales Gesicht. Das Meer. Sie beide im Sand. Zwei Soldaten. Gesang. Das Gefühl von Holz im Rücken, Neonlicht in den Augen. Ein Ziehen, das ihren Leib öffnete, ein Schieben. »Ich dachte, das ist mein Ende.«

»Das glaube ich nicht, sie hat … nein, niemals!«

Aber die Faust schoss erneut auf sie zu, weitere Augenblicke ihres Lebens rasten vorbei, wie in einem Kaleidoskop, das sich immer schneller dreht. Zwei nachtdunkle Äuglein, ein saugender Mund. Eine Geige. Ein altes Männergesicht, Tränen. Menschen, die auf einer Mauer tanzen. Die große, dicke Frau im braunen Mantel. »Den nächsten Schlag hab ich …« Sie beugt sich vornüber, alles dreht sich. »Hab ich kommen sehen und …« Ihr Mageninhalt schießt aus ihrem Mund.

Als es vorbei ist, stützt sie sich mit den Händen auf den Knien ab. Sieht ihm in das verwüstete Gesicht. »Ich habe zurückgeschubst und bin weggelaufen.«

Er verkrallt die Hände in seinen Haaren, als wollte er sie rausreißen.

Sie hört es wie damals. Einen Aufschrei, im nächsten Augenblick dieses stumpfe, hässliche Knacken. Stille, klar und absolut. Sie drehte sich um, sah nichts als Baumstämme und Schnee, die Apokalypse war weiß und braun. Weiß und braun.

»Du hast … du hast dreißig Jahre lang geschwiegen?«

»Ich meinte, du würdest daran zugrunde gehen.«

»Verdammt. Oh, verdammt!«, schreit Jan. Schluchzt, schlägt die Hände vors Gesicht.

»Und ich habe mich grausam bestraft. Gewusst, der einzige Mensch, der zählt, ist endlich greifbar, und ich kann nicht zu ihm.« Sie sieht, was es ihn kostet, sich aufrecht zu halten. Die paar kleinen Schritte zu schaffen, von ihr weg, zurück zum Haus.

»Verschwinde«, brüllt er.

Ihr Magen stülpt sich noch einmal nach oben.

»Verschwinde aus meinem Leben!«

Eine Gewissheit überkommt sie, wie damals.

Da tappte sie durch den Schnee zurück, während eine Ahnung siedend heiß in ihr aufstieg. Margit Biege lag mit verdrehten Beinen da, ein Schwall Luft wich aus ihr, in genau dem Moment. Als hätte sie gewartet, bis Oda da war und zusehen konnte. Margit Biege fiel in sich zusammen, über ihre Augen legte sich ein Schleier. Oda hatte noch nie einen Toten gesehen, aber sie wusste es.

Es ist vorbei. Alles ist aus.