Margit

Es ist noch nicht acht Uhr, als sie am Hotelparkplatz ankommt. Der Morgen ist zugig und kalt, der Schnee zu Harsch gefroren, die Füße tun ihr von dem Marsch hier raus weh. Die Frau steht in der Dämmerung gegen den Kotflügel eines hellen Mercedes gelehnt und wartet wohl, dass sie zu ihr rüberkommt. Um klarzustellen, wer hier wem etwas schuldet und was sie materiell einzubringen hat in diesen Kampf.

»Ich hatte früher mit Ihrem Anruf gerechnet«, sagt sie, als sie dort ankommt.

Der Blick der Frau, der ihr Jan kein bisschen ähnlich sieht, ist schmal, die Brauen hat sie zusammengeschoben. Sie trägt das klare, schöne Gesicht erhoben, ihre Gestalt erinnert an eine junge Birke. Es gibt in manchen Dingen eben keine Gerechtigkeit auf dieser Welt. In manchen. »Ich musste einiges an Überzeugungsarbeit leisten, Jans Vater will sich gar nicht damit arrangieren, dass sein Sohn nicht mehr sein Sohn sein soll«, lügt sie. Vor einer halben Stunde ist Ronald nach kurzem Abschied am Schalter der Gepäckaufgabe davongeschlichen, als sei der Kampf um Jan längst verloren. Es hatte sich angefühlt wie ein Fausthieb. Sie ist wütend über Ronalds Mutlosigkeit und hofft, dass die Mitropa noch nicht geöffnet ist. Oder nur Kaffee ausschenkt.

»Sie dürfen doch aber weiter seine Eltern sein, ich respektiere, was Sie drei miteinander haben.«

»Und Jan, tja, mit ihm war es noch schwieriger, er war äußerst ungehalten am Telefon. Und lässt ausrichten, dass Sie ihn bitte in Ruhe lassen mögen. Er versteht, dass Sie ihn sehen wollen, doch er möchte das nicht. Ich rate Ihnen dringend, darauf Rücksicht zu nehmen.«

Der schicke Wagen bekommt einen Hieb mit der flachen Hand. »Das kann ich nicht, wie sollte ich auch? Er wurde mir gegen meinen Willen weggenommen und weiß es nicht einmal!«

»Er weiß es, natürlich weiß er das, es spielt keine Rolle für ihn.«

»Sie lügen!«

»Wie bitte?«

»Was weiß er denn? Was genau!«

»Ich bin nicht bereit, auch nur eine Minute länger mit Ihnen zu diskutieren, wenn Sie sich nicht im Griff haben.«

Die Frau gräbt perlweiße Zähne in die Unterlippe. Nickt. Bedeutet ihr, ein Stück zu gehen. Schön, dann gehen sie eben spazieren. Eine ganze Weile schwebt diese Person neben ihr her, als bestünde sie aus Luft.

Bald taucht das Gatower Ufer in der Ferne auf, schroff, überwältigend. Das Atmen wird leichter. Ihr schönes Rügen, die See, die es in den Armen hält. Die immer eine Freundin gewesen ist, Retterin, Verbündete. »So leid es mir für Ihren Verlust tut, die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Können wir es nicht darauf beruhen lassen?«, sagt sie, als sie am Ende des geräumten Spazierwegs ankommen. Dahinter ist der Schnee unberührt, Gestrüpp wuchert in den Pfad, der sich nach rechts windet, zum Wasser, den schlägt sie ein, will den Blick hinausrichten können ins Weite.

»Die Vergangenheit ist, wie sie ist, was ich will, ist eine Zukunft. Es wird sie geben, zwecklos, sich dagegenzustemmen.«

»Das haben Sie nicht allein zu entscheiden. Was ist mit
Jan?«

»Natürlich nur, wenn mein Sohn das möchte. Wir beide entscheiden nichts, das tut er. Aber dazu muss er mich kennen!«

»Und genau das will er nicht!«

»Weil Sie ihm im Weg …« Die Frau bleibt stehen. Senkt den kleinen Kopf. »Entschuldigung. Ich benötige ja Ihre Hilfe. Nur Sie können ihm gut zureden. Bitte.«

»Jan ist ein eigenständiger Mensch, den ich nicht bedränge.«

»Sie haben die Pflicht dazu, das müssen Sie doch fühlen!«

»Pah!« Mehr fällt ihr nicht ein. Sie wendet sich ab. Nicht weit bis zum Ufer, sie hört die See und sehnt sich, läuft weiter.

»Sie haben mein Kind zugeschanzt bekommen, als ich schon dabei war, es auf legalem Weg zu mir zu holen, von der Bundesrepublik aus. Irgendetwas wurde getan, um das hinauszuzögern und zu hintertreiben, und das lässt sich irgendwie, irgendwann herausfinden, Ihr Land hat schließlich über alle Leute Akten geführt. Wollen Sie, dass er von einem Rechtsanwalt davon erfährt, oder finden wir beide einen anderen Weg?«

»Zu hintertreiben? Lächerlich!«

Die kleine Frau neben ihr schlägt die Hände ans Gesicht. »Wissen Sie wirklich nichts über dieses unselige Adoptionsverfahren?«

»Es würde nichts an den Tatsachen ändern«, sagt Margit fest.

»Sie wissen auch nicht, wer sein Vater ist? Und wo er geblieben ist?«

Sie tritt fest auf, kalt ist es heute Morgen. Schüttelt den Kopf. Horsts Geheimnis ist sicher bei ihr.

»Ich auch nicht, ich kann ihn nicht finden, nicht in der Bundesrepublik, nicht hier im Osten. Es ist zu viel Zeit vergangen.«

»Dann wären Sie doch verdammt noch eins dageblieben und nicht in den schönen Westen gegangen.«

Jetzt laufen der Frau die Tränen übers Gesicht, sie reißt an ihrem Schal.

»Wollte ich ja, ich wäre nie ohne Jan gegangen, nie! Wissen Sie, was die mit mir gemacht haben? Mich unter dem Vorwand, mein Sohn wäre bereits mit einem anderen Transport über die Grenze gebracht worden, in die Grenzanlage gelockt.«

Sie dreht sich weg, ihr Mund wird sturztrocken. Wie durch Nebel hört sie etwas von gewaltsamem Packen und Davontragen, von kläffenden Hunden und Gebrüll. Einem Anwalt namens Heinrich, siebenundvierzigtausend Westmark, die der für Jan aufgebracht hat, einem Antrag im Oktober 1971, ihn in den Westen ausreisen zu lassen. Der Ankündigung im Frühjahr 1973, dass er vielleicht kommen darf. Der Mitteilung, die im Juni an Jans Stelle eintrifft, über seine Adoption im November 1971. Es gibt ein paar rechtliche Hürden, die wir noch überspringen müssen. Hatte Horst das nicht gesagt, als er Jan im November zu ihr brachte?

»Frau Biege, was haben Sie?«

Sie schluckt und schluckt. Alles Leid der Welt steht hier vor ihr, das sieht sie glasklar. Und ihr eigenes Gesicht muss ein offenes Buch sein, in dem der einzige Gedanke zu lesen ist, zu dem sie gerade fähig ist: dass nun alles kaputtgehen wird, wenn ihr nichts einfällt.

Sie stakt der Frau hinterher, die federleicht über den Harsch läuft. Jan würde ihnen beiden gegenüberstehen, wenn er davon erfährt, ungläubig von einer zur anderen schauen, seine Schlüsse ziehen. Die Wurzeln nicht mehr spüren, die er in ihr geschlagen hat. Ihr Tod wäre das.

»Das alles erzählen Sie ihm bitte, solange verzichte ich auf seine Adresse und jedes weitere Gespräch. Sie haben vier Wochen.«

Vier Wochen bis zu ihrem Ende. Und diese Frau müsste nur noch die Arme ausbreiten.

»Kann ich mich auf Sie verlassen? Wir müssten das doch hinbekommen, wir zwei Mütter.«

In Margits Kopf arbeitet es fieberhaft. »Sind Sie nun fertig?«

Die Frau, die Jan kaum bis zur Brustmitte gehen dürfte, wischt sich das Gesicht am schicken Mantelärmel. »Sagen Sie, haben Sie vielleicht ein Foto dabei?«

Margit blickt umher, wie um Hilfe. »Oh. Nein.«

»Dann erzählen Sie ein bisschen von ihm, ja?«

Und dieses Schwingen in der zarten Stimme, Jan würde sich augenblicklich dafür begeistern, bei seinem feinen Gehör. »Man kann zwanzig Jahre nicht in ein paar Sätze pressen.«

»Was liebt er? Fußball, so wie alle heutzutage? Ein Mädchen? Musik?«

»Du meine Güte, nein, er spielt Handball, und er liest ganz gern.« Sie muss brüllen, es ist laut geworden, in das Keuchen des Windes hat sich ein lang gezogenes, klagendes Pfeifen gemischt, wo er über die eisige See fegt.

»Spielt er ein Instrument?«

»Das interessiert ihn nicht.«

»Oh. Und das Meer? Liebt er das Meer?«

»Er hasst es.«

»Deswegen ist er weggezogen, nicht wahr? In eine große Stadt, so wie alle Jugendlichen, raus ins pralle Leben. Macht er Zivildienst?«

»Er wird ab Herbst studieren. Etwas Technisches.«

»An einer TU? Dresden vielleicht? Magdeburg? Die sollen gut sein.«

»Das werden wir dann sehen.« Die Kälte kriecht an ihren Strümpfen hoch.

»Wie ist er überhaupt zu Ihnen gekommen?«

Margits Herz schlägt so laut wie eine dieser grässlichen Kirchenglocken. »Er kam im Herbst.«

»Er muss schrecklich nach mir gebrüllt haben.«

»Ganz und gar nicht.«

Die Frau blinzelt.

»Ein bisschen geweint hat er vielleicht. Bis man ihn mir in die Arme legte.« Sie zeigt ihr breitestes Lächeln. »Da war ein Funke, der sofort übergesprungen ist.«

»Das glaube ich nicht.«

»Er war von Anfang an Familie.« Wie sehr, kannst du dir nicht mal in deinen Träumen vorstellen. Sie seufzt. Bedauerlich, was dieser Frau widerfahren ist, und nun heult die auch noch wie ein geprügelter Hund, aber sie ist nicht schuld daran. »Wissen Sie, wir sind Materialisten, vernünftige, moderne Menschen, wir glauben an nichts Ewiggestriges, aber andere Leute würden sagen: Das war vorherbestimmt. Wir zwei, er und ich.« Sie war da, für Horst, für Jan, deren Mütter anderweitig beschäftigt waren. Die beiden teilen ein Schicksal, und sie ist das Bindeglied.

»Sie lügen doch!«

»Das hätten Sie gern, ich weiß. Würde mir auch so gehen. Und um jetzt endlich zum Ende zu kommen, weil ich zurück zum Bahnhof muss: Ich werde die sein, die es ihm sagt, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem es passt. Das ist unser Angebot. Das ganze Angebot.« Bis dahin würde ihr schon was einfallen. Sie würde nicht zusehen, wie ihr Jan auseinanderbricht, und das würde er. Er ist zu jung, die Mutter zu verlieren. Sie.

»Wann wird das sein?« Die Frau schaut sie direkt an.

»Jan ist sensibel. Er würde einen sehr, sehr schweren Schaden davontragen, wenn seine Welt von jetzt auf gleich einstürzt. Ich habe viel Mühe aufgewandt, ihn zu einem glücklichen Menschen zu machen. Das ist es, was Mütter tun. Sie wenden Gefahren ab, mit aller Macht.«

»Aber ich bin seine Mutter. Ich! Und ich weiß, dass er sensibel ist, er ist wie ich!«

Margit spuckt in den Schnee, sie hat lange keine solche Bitterkeit geschmeckt. »Eine Mutter ist die Frau, die da ist!«

»Eine Mutter sagt ihrem Kind die Wahrheit, und wenn sie noch so schlimm ist«, schreit die andere zurück.

»Sie schützt es davor, das tut sie, ich habe ihn immer beschützt!«

Alles steht still.

Sie starren einander an, blicken tief in die andere hinein. Es gibt kein Teilen, das begreift sie in dem Moment. Keine zwei Mütter, eine hübsch neben der anderen. Die andere weiß es ebenso, baut sich vor ihr auf, wächst in die Höhe.

»Eine wahre Mutter macht ihr Kind stark. So stark, dass es mit allem fertigwird. Ich hätte es getan.«

Da holt sie aus, es geht nicht anders.

Die andere Frau reißt die Augen auf vor Überraschung. Hält sich die Wange. Flüstert: »Sie werden ihn verlieren, und Sie wissen es!«

Sie erkennt, dass sie aufhören muss, sofort, kann es nicht. Geht ein Stück in die Knie. Der nächste Schlag trifft schnell und präzise, wie Vaters Rechte.

Die Frau reißt die Arme hoch, kriegt die Füße nicht aus dem Schnee, knallt mit dem Rücken gegen einen Baum, japst nach Luft. »Das wird Jan erfahren!«

Margit legt ihre ganze Kraft in ihren rechten Arm, ist nichts als Raserei. Alles, sie hat alles gegeben, um zu halten, was ihr zufiel: Horst, Jan. Und gelernt, drauf aufzupassen.

Die kleine Person weicht geschickt aus und will weg, mit komischen Bewegungen, als hätte sie die Hosen voll.

Margits Hand packt zu. »Entweder Sie kommen nie wieder, oder ich …«

Gebrüll.

Der kleine Körper jagt auf sie zu wie ein Geschoss, landet in ihrem Bauch. Fällt sie wie einen Baum.

»Huch«, sagt ihr Mund. Ihre Arme kreiseln durch die Luft. Ihr Kopf schlägt hart auf. Es knackt. Zwei Worte flimmern durch jähes Dunkel, verglühen.

Wie dumm.