Jan

Er war noch nicht am Haus, als ein Reißen in der Brust ihn zum Stehenbleiben zwang. Er legte die flache Hand auf die Stelle, unter der sein Herz so hart schlug, dass es schmerzte. Nein, keine ausstrahlenden Schmerzen in den linken Arm, kein Druck, kein Engegefühl. Nur ein fiebriges Schwitzen, ein bisschen Schwindel, und er zitterte wie Espenlaub. Angst. Nichts als Angst.

Er wandte sich um. Vorn zwischen den Bäumen des waldigen Küstenstreifens verschwand ein roter Punkt. Oda.

Der Mensch, auf dem er gründete.

Er lief los. Langsam, mit gebeugten Knien.

Den Trampelpfad am Zaun entlang, am Holunder vorbei, raus aufs Feld, wo ihm der Wind entgegenschlug. Er lehnte sich dagegen, seine Schenkel brannten in der Kälte, aber er wurde schneller. Fasste die Fußspuren vor sich ins Auge, kleine Löcher im Schnee, dicht beieinander, ein Hasenpfad.

Schnell war er beim Wäldchen, hastete weiter bis vor zum Strand. Sah nach rechts, links. Nichts, keine Oda. War sie im Wald geblieben, weil es hier vorn zu kalt war in einem Strickpullover? Er sammelte sich, richtete den Blick aufs Wasser. Nichts als rumorendes Grau. Bis auf …

Bis auf einen roten Punkt im Wasser, ein paar Meter vom Ufer entfernt. Eine Welle kam, rollte darüber. Sie würde doch nicht …

»Oda!« Er rannte darauf zu. »Was fällt dir ein!«

Er sah keinen Kopf, nicht mal Arme, nur Rot, das sich ein Stück hob, senkte, als würde es willenlos getragen, etwa zehn Meter draußen, fünfzehn vielleicht. Seine Lunge schloss sich wie eine Faust um die Kälte, die er einsog.

Er sah sich um, da war niemand außer ihm. Schnell zog er die Schuhe aus. Trat ans Ufer. Das Eiswasser schnitt ihm die Füße ab.

Nein. Er konnte nicht weitergehen. Aber er musste.

Er riss sich die Jacke vom Leib, schmiss sie weg. Schob einen Fuß vor den anderen. Flammendes Inferno in Waden, Knien, Oberschenkeln. Der rote Punkt trudelte davon, er brüllte ihm hinterher. Noch ein Schritt, der nächste.

Die See färbte sich dunkel, sein rechter Fuß geriet in eine Untiefe, riss ihn um. Die Kälte war so umfassend, so machtvoll, dass er nichts spürte und dann alles.

Die Qual der Erstarrung. Bewegung ringsum, grausame, alles zermahlende Bewegung. Er war allein im Wasser. Und konnte nicht schwimmen!

Er begann zu strampeln, stieß sich ab, als sein Fuß auf etwas Festes traf, seine Kopfhaut zog sich zusammen. Vom Wind, er war mit dem Kopf über Wasser, stand fest, hatte Boden unter den Füßen! Er hörte die See schmatzen. Durch einen brennenden Salzschleier sah er Weiß und Braun, das beschneite Ufer. Einen laufenden Punkt. Er war rot. Aber …

Er fuhr herum. Alles grau. Links, nicht weit, ein paar Findlinge in Ufernähe. Konnte sein, Oda hatte sich dort verfangen und verletzt, konnte doch sein.

Ein Versuch, einer. Er sah einer anrollenden Welle ins Gesicht, brüllte sie an. Sie verstrich, helles Wasser zeigte sich. Eine Sandbank, schräg nach links verlaufend, zu den Steinen. Eine neue Welle kam, er streckte die Arme nach vorn, legte sich darauf. Die Rückkehr ins Wasser war grausam, er ruderte mit den Beinen wie ein Verrückter. Die Welle hob ihn auf, stieg hoch, noch höher. Ein Moment der Ruhe, ehe sie ihn runter und ans Ufer werfen würde. Noch einmal gab er alles. Sah nicht viel, aber da, der rote Punkt, nah bei den Steinen, was für ein Glück! Er streckte die Hand aus, rutschte daran ab. Plastik. Eine Plastiktonne.

Die Welle zog sich zurück, nahm ihn mit, an den Steinen vorbei nach draußen ins offene Meer. Leichtes Spiel, er war bis ins Innerste gefroren. Seine Füße fanden keinen Halt. Schreien ging nicht, gar nichts ging.

Er sank, schluckte Wasser und Eis, würgte. Wurde mit der Flanke gegen etwas Hartes geschoben, ein Schmerz wie ein Weckruf. Er schlug mit den Armen, paddelte irgendwohin, stieß auf Grund, drückte sich hoch, raus aus dem Wasser. Zersprang in der eisigen Luft wie Glas.

Vor sich sah er das Ufer, gar nicht weit weg. Da, ein roter Punkt, der sich auf ihn zubewegte. Dahinter, fern, ein weiterer, noch ein Mensch. Raus, er musste raus, zu ihnen hin. Er beugte sich vornüber, winkelte die Arme an, grub sich voran. Auf den roten Punkt zu.

Der auf einmal nahe war. Er sah den Pullover, Odas Gesicht. Ausgestreckte Hände. Ihm war nach Lachen.

Und er war müde, unendlich müde. Seine Lider flatterten, er gab sich Mühe, sie offen zu halten. Es war schwer. Unmöglich. Aber sie war ja da.

Ganz leicht wurde ihm. Festhalten, dachte er noch, halt mich bloß fest.