Epilog

Oda

Ein Luftzug, das Bauschen einer Gardine. Licht, das ihr entgegenfällt, Schatten darin. Dann Umrisse, größere, kleinere. Ein Ziehen an den Augenlidern, vergeblich nahezu, sie bekommt die Augen nur ein winziges Stück auf.

Raue Haut streift ihre Hand, ihr Blut erwärmt sich, sie wird leicht wie Schaum.

»Die Oma kann ein ganz kleines bisschen blinzeln, siehst du das, Connie?«

Jans Stimme. Ihr Sohn ist da, ihr Junge!

»Freust du dich da, Papa?«

Das Stimmchen ihres Enkels.

»Sehr. Gestern konnte sie es noch nicht.«

»Wann steht die Oma auf und kommt uns besuchen, Papa?«

Bald, ganz bald! Sie hört, dass sie es nicht gesagt hat, etwas liegt schwer auf ihr, gegen das sie nicht ankommt.

»Geh mal kurz beiseite, Liebling.«

Eine Frauenstimme, sanft, klangvoll, Gesa ist da, deshalb das Flirren in der Luft. Zwei Menschen sind im Raum, die etwas miteinander austragen, kaum abwarten können, das zu einem Ende zu führen.

»Die Oma kann in ein paar Tagen aufstehen, denke ich«, sagt Gesa.

»Und dann ist sie gesund, Mama?«

Eine Frage voller Weh, Oda möchte aufspringen und augenblicklich den Beweis antreten.

»Sie ist eine starke Frau.«

»Eine starke Frau? Was macht die so, Mama?«

»Menschen retten zum Beispiel«, antwortet Jan.

Ein Räuspern seiner Frau, nachdrücklich, bittend. Die Spannung zwischen ihnen zieht an, verliert sich jäh. Einer von beiden muss etwas getan haben, gelächelt vielleicht, den anderen augenblicklich damit eingenommen.

»Würdest du draußen nachsehen, ob der Wagen mit dem Abendbrot schon in der Nähe ist?«, bittet Jan.

Das Hüpfen kleiner Füße, das Klappen der Tür.

»Hör zu. Ich glaube, ich habe etwas begriffen«, flüstert Jan dann. »Oda hätte sich nicht einfach davongemacht. Sie ist jemand, der sich stellt. Ich will das auch tun. Da sein, auch wenn’s schwierig ist. Gerade dann.«

»Klingt gut«, flüstert seine Frau zurück.

Ein Schluchzen ist zu hören, dann ein tiefes Schnäuzen. Jan. »Ich glaube, ich weiß jetzt auch, wann es angefangen hat, schiefzugehen mit uns«, sagt er, seine Stimme schlingert. »Mit Connies Geburt. Ich war nicht dabei, weil mir das zu viel war. Ich war überfordert mit meinen Gefühlen, der Angst, ihm nicht gerecht zu werden. Euch nicht gerecht zu werden. Und hab in den Monaten danach lieber zu viel gearbeitet, als zu Hause zu sein und das auszuhalten. Es tut mir so leid, Gesa. Kannst du mir verzeihen?«

Wieder ein Geräusch aus seinem Mund, das aus Liebe gemacht ist und purer Angst.

Dann Stille im Raum. Eine von der Art, die kaum auszuhalten ist, die die Zeit teilt in ein Davor und Danach. Oda spürt Tränen unter ihren schweren Lidern, möchte das Schicksal zu Jans Gunsten wenden, mit Karacho und geballten Fäusten, kann aber nichts tun, als auszuhalten, dass ihr Kind das hier allein durchstehen muss.

Da, ein leises Schnauben seiner Frau, zustimmend, freundlich. »Oda braucht jetzt Ruhe«, sagt sie.

Nun die Hand ihres Sohnes an ihrer Stirn. Oda wird leicht, ist nichts als Freude. Ein warmes Meer fließt ihr über die Wangen, reines, schlohweißes Glück. Auf diesen Augenblick lief es also hinaus, ihr Leben.


Jan

Bevor die Trauerfeier begann, saß er allein in der ersten Reihe, die paar Minuten zu dritt hatte er sich erbeten.

Er blickte zu dem Eichensarg, der ein paar Meter vor ihm stand, die Urne aus hellgrauem Marmor darauf, die roten Nelken drum herum. Es wäre richtig und gut, um Margit und Ronald zu weinen, damit der Abschied sich eindeutig anfühlte, endgültig. Jan wartete ab, beschwor ihre Gesichter herauf, ihre Stimmen, aber alle Gedanken und Gefühle kehrten wieder zu ihm selbst zurück, kaum, dass er versuchte an etwas anderes zu denken als das, was die letzten Tage ihm abverlangt hatten. Und er hatte sie überstanden, es ging ihm sogar gut!

Plötzlich spürte er, dass sein Brustkorb sich immer schneller hob und senkte. Tränen schossen aus seinen Augen, nun doch, er ließ sie kommen, verbrauchte sie alle, jedoch ganz für sich selbst. Für das, was ihm vor fünfzig Jahren weggenommen worden war und von dem er nicht mal gewusst hatte, dass er es besaß. Für die Beziehung, die er im Begriff gewesen war kaputt zu machen, ohne zu verstehen, wie das kam und sein Handeln danach auszurichten. Dafür, dass sich das nun ändern würde, dass sich so Vieles schon geändert hatte in seinem Leben. Zum Schweren, aber auch zum Echten, Guten. Und er sich fühlte wie in den Boden gerammt.

Als die Tränen versiegt waren, nickte er einen kurzen Dank nach vorn, für ein umsorgtes Kinderleben. Merkte, dass er ein wenig mit den Zähnen klapperte, obwohl ihm heiß war. Er hatte keine Ahnung gehabt, was die Redensart bis auf die Knochen frieren bedeutete, jetzt wusste er es. Wenn er in einen warmen Raum kam, fing es unter seiner Haut an zu klopfen, als würde er gerade auftauen, ein Höllenschmerz.

Oda, die ihn mit ihren kleinen Händen gepackt und zurück an Land gebracht hatte, erging es genauso. Am Vormittag war sie endlich aufgewacht, vor einer Stunde hatte er kurz mit ihr telefoniert. Voll verhaltener Neugier auf das, was sie künftig gemeinsam bewältigen würden, und mit dem Gefühl, dass er ihr vergeben konnte. Nicht aus irgendeinem fassbaren, logischen Grund, etwa, weil ihr Schmerz so viel größer war als seiner. Die Entmenschlichung, die sie hatte hinnehmen müssen, Horsts Verrat. Das spielte irgendwie keine Rolle. Nur, dass mit ihr alle da waren, auf die es ankam.

Hinter ihm gingen schnurrend die elektrischen Schiebetüren auf. Allmählich tönte das Gemurmel der Trauergäste herein, das Schmatzen nasser Schuhe. Das Wetter war grässlich, seit Tagen matschte und tropfte es an allen Enden.

Jan blickte über die Schulter nach hinten, grüßte Silvio, Diana. Ein paar alte Leute, die er nicht kannte. Zwei rote Haarschöpfe, die sich willig in der hintersten Reihe platzieren ließen, deren liebenswürdige Eltern Heike und Manuel. Dahinter machte er im Gedränge einen tiefblauen Mantel aus, eine hüpfende Pudelmütze.

Als Gesa und Connie sich rechts und links neben ihn setzten, schlug sein Herz so kraftvoll, dass er es hinter den Augen spürte.

Da verebbten die Geräusche im Raum, der Trauerredner trat ans Pult. Die Ruhe in dem weißen Saal mit der gewölbten Decke war für einen Augenblick umfassend. Alles stand still, nur die Pappeln hinter den Fenstern bewegten ihre schlanken Kronen, stumm nickend im ersten Wind des nahen Frühlings.