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Cairan landete unverzüglich wieder in dem dunklen Erdloch.

Ohne Zweifel war sie diejenige gewesen, von der der Fremde gesprochen hatte, aber anscheinend schien sie nichts von ihm zu wissen. Ihn noch nicht einmal zu kennen. Merkwürdig! Müsste sie nicht Kenntnis darüber haben, dass er für ihren Schutz sorgen sollte? Aber nicht nur das war äußerst befremdlich. Die Kammer, in die sie ihn zu sich gerufen hatte, war eigenartig. Der Hausrat war aus Materialien, die mehr als bizarr anmuteten. So etwas hatte er zuvor noch nie gesehen. Auch war es dort warm, obwohl nirgendwo ein Kamin zu sehen war. Das Einzige, was ihn im Entferntesten an das erinnerte, was er kannte, war ihr Bett gewesen. Allerdings hatte ihr Bettzeug wenig mit dem aus dem Feenreich, noch mit dem, was er von zu Hause her kannte, gemein. War er etwa doch nicht in seiner Welt gelandet, sondern in einer weiteren, von deren Existenz er bisher keine Vorstellung gehabt hatte? Was hatte der Fremde ihm verschwiegen? Er hätte es wissen müssen, dass man niemandem hier im Feenreich trauen konnte!

Als hätten seine bloßen Gedanken ihn herbeigerufen, hörte er plötzlich das leise Gelächter des Mannes, der wie bereits bei seinem ersten Besuch lässig auf dem Bett saß und ihn neugierig beäugte.

»Anscheinend war dein kleiner Ausflug nicht von Erfolg gekrönt, denn ansonsten müsste ich jetzt auf deine erbauliche Gesellschaft verzichten.« Cairan schnaufte wütend.

»Wie kann etwas von Erfolg gekrönt sein, von dem derjenige, der es erfolgreich machen könnte, noch nicht einmal Kenntnis hat? Ihr habt mich genauso hintergangen wie Morgane! Das dort war nicht meine Welt!«

»Nein?«, der Fremde grinste ihn breit an. »Was war es denn dann?«

»Ihr würdet nicht so grinsen, wenn Ihr nicht genau wüsstet, wovon ich spreche. Dort war nichts so, wie es sein sollte. Die Jungfer in Nöten war weder eine Jungfer noch in Nöten. Obwohl, auf irgendeine Weise kam sie mir seltsam bekannt vor, doch ...«

»Sie war also in deinen Augen keine Lady? Ich hoffe doch, dass du ihr das nicht gesagt hast und ihr gegenüber weitaus höflich als mir gegenüber warst, denn ...?«

»Ich dachte, sie wäre in Gefahr, deshalb bin ich ...«, weiter kam er nicht, denn der Fremde brach in lautes Gelächter aus.

»Lass mich raten. Du bist wie eine Urgewalt dort aufgetaucht!«, ergänzte der Fremde, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte. »Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie dich sofort wieder zurückgeschickt hat. Außerdem ... Cairan, ich darf dich doch Cairan nennen? Die Ladys in dieser Zeit sind ein wenig anders als die in deiner.« Cairan hob fragend eine Braue.

»In dieser Zeit? In meiner? Was bedeutet das? Ich bin noch nicht einmal zwei Jahre hier. In zwei Jahren kann zwar einiges geschehen, aber dennoch nicht so viel, dass sich die Frauen in solch kurzer Zeitspanne grundlegend ändern.«

»Wann hat Morgane dich in unser Reich geholt?«, änderte sein Gegenüber abrupt das Thema. Die Frage irritierte ihn mehr, als er zugeben wollte, dennoch antwortete er ihm wahrheitsgemäß.

»Im Jahre des Herrn 1525. Wenn ich mich nicht verzählt habe, dann sind es ganz genau 490 Tage, die ich in ihrem Dienst war, oder vielmehr bin.«

»496, um genau zu sein«, berichtigte ihn der Fremde. »Du vergisst, dass du ein paar Tage nach deiner Errettung nicht bei Bewusstsein warst, genauso wie in der Zeit, als sie dir das Feenmal auf die Brust gebrannt hat.«

»Wenn ich mit meiner Berechnung richtig liege, verstehe ich Eure Wortwahl nicht. Was ist mit dieser und meiner Zeit gemeint?«

»Das kann ich mir vorstellen. Ich könnte dir jetzt einen langen Vortrag über Raum und Zeit halten, der dich wahrscheinlich nur noch mehr verwirren würde, deshalb fasse ich mich kurz. Hier im Feenreich vergeht die Zeit anders als im Menschenreich. Ein Tag hier entspricht einem Jahr in deiner Zeitrechnung. Das bedeutet, dass du nicht 499 Tage, sondern bereits 496 Jahre hier bist. Jedenfalls, wenn man von menschlicher Zeit ausgeht.« Cairan starrte den Fremden fassungslos an. Es dauerte einen Moment, bevor er die Tragweite des eben Gesagten vollends erfasste, dann jedoch übermannte ihn eine dermaßen immense Wut, dass er alles um sich herum vergaß. Nicht mehr Herr seiner Sinne, stürmte er auf den Fremden zu, fasste ihn an der Kehle und drückte zu.

»Ihr .... Ihr lügt!«

»Ich verstehe, dass du außer dir bist, aber ich lüge nicht. Wir von den Túatha Dé Dannan können nicht lügen. Wir verschweigen nur manchmal einige Kleinigkeiten. Aber diesmal habe ich nichts damit zu schaffen. Ich kann derlei grundlegende Dinge auch nicht ändern. Sie sind, wie sie sind! Du kannst mich demnach ruhig wieder loslassen«, entgegnete dieser ihm ungerührt. »Eines kannst du mir jedoch zur Last legen: Ich habe vergessen, dich darauf vorzubereiten.« Ein diabolisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Aber wer hätte auch ahnen können, dass sie dich so schnell zu sich ruft.«

»Kleinigkeit? Ihr nennt das eine Kleinigkeit?«, Cairan war dermaßen außer sich, dass er nur noch schrie. »Ihr lasst mich in dem Glauben, ich müsse nur einer Jungfer helfen, um meine Rache zu bekommen und dann ... Verflucht, wie soll ich mich an jemandem rächen, der seit Jahrhunderten bereits in der Hölle schmort? Außerdem, was soll ich in einer Zeit, die nicht die meine ist?«

»Dann ist es dir lieber, hier bis zu deinem Tod auszuharren?« Cairan hielt inne, dabei sah er dem Fremden tief in die Augen.

Er hatte recht! Es gab nur zwei Möglichkeiten. Die erste war, weiterhin auf den Handel einzugehen, um irgendwann das Feenreich verlassen zu können, auch wenn die Welt, in die er zurückkehrte, eine völlig andere war, als die, die er kannte. Oder aber er weigerte sich, auf den Handel weiter einzugehen, was dazu führen würde, dass er bis zu seinem Tod ... Sein Tod! Diese elenden Feen! Wenn sie dachten, er gäbe sich geschlagen, dann irrten sie gewaltig! Er war nicht länger bereit, sich auf ihre Spiele einzulassen, auch wenn sie selbst diese Spiele als Handel bezeichneten.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.

Aye! Wozu es noch länger hinausschieben? Er hatte ja eh alles verloren. Und es war nicht natürlich, dass er ... Folglich ...

Cairan ließ den Fremden abrupt los. Gleichzeitig zog er seinen Sgiann Dubh aus dem Ärmel und drückte ihn sich selbst gegen die Kehle.

»Aye, ich werde hier ausharren bis zu meinem Tod. Allerdings kommt er weit eher, als es Euch lieb ist.« Sein Gegenüber sah ihn mitleidig an.

»Wenn es wirklich dein Wunsch ist, dann werde ich dich nicht davon abhalten. Ich allerdings hielt dich nicht für einen solchen Hasenfuß. Es ist leicht, etwas zu beenden, dass du bei allem Respekt noch nicht kennst. Glaub mir, wenn man so lange existiert wie ich, dann wünscht man sich tatsächlich, man könnte es beenden, denn mit der Zeit kehrt Langeweile ein und die kann tödlicher als ein Dolchstoß sein. Du hingegen weißt noch gar nicht, was Leben überhaupt bedeutet. Nimm es als Rat von einem alten Mann, denn im Grunde bin ich das. Jedes Leben hat seine Höhen und Tiefen. Du denkst, dass deines nur aus Letzterem besteht, doch du irrst. Es stimmt, du wurdest hintergangen und getäuscht, aber ist das ein Grund dafür, einfach alles hinter sich zu lassen und den einfachsten Weg zu gehen? Du denkst jetzt bestimmt, wenn du Hand an dich legst, dann wäre das weit schwerer, als weiter zu leben. Doch auch darin irrst du. Das Leben ist nichts für Feiglinge. Oft bedeutet es den andauernden Kampf mit sich selbst. Wenn deine Furcht davor zu groß ist, dann bitte ...! Lass dich nicht aufhalten! Aber bedenke, woran du in der Höhle damals gedacht hast. War es wirklich nur an deine Rache, oder gab es da noch etwas anderes, was du schmerzlich vermisst hast?« Cairan starrte den Fremden weiterhin an, rührte sich jedoch nicht.

»Weißt du, es gab Menschen, die hätten ihren rechten Arm dafür gegeben, die Chance zu bekommen, die du jetzt hast und du willst sie ungenutzt verstreichen lassen.«

»Was habt ihr Túatha Dé Dannan nur immer mit eurem rechten Arm? Morgane ...« Erneut brach der Fremde in Gelächter aus.

»Es war als Metapher gedacht und du hast auf meine Frage noch nicht geantwortet. Oder lenkst du nur ab, weil du sie nicht beantworten willst?«

»Aye!«, gab er schließlich zähneknirschend zu. »Ich habe noch an etwas anderes gedacht.« Der Fremde nickte.

»Und du willst die Chance, es zu bekommen, wirklich zunichtemachen? Dann kann ich dir auch nicht mehr helfen. So lebe denn wohl Cairan MacDonald! Ach nein, du willst ja nicht mehr leben! Dann wünsche ich dir einen schönen Tod! Falls du es dir doch noch einmal überlegen solltest, dann brauchst du mich nur zu rufen. Man nennt mich übrigens Ron!«, mit diesen Worten löste er sich vor Cairans Augen in Luft auf. Cairan blieb allein zurück.

Die Worte des Mannes ... Rons Worte, verbesserte er sich selbst, gaben ihm zu denken.

Aye, wenn sein Leben nur aus Rache bestand, dann hatte er es vertan und konnte es hier und jetzt beenden. Wenn es aber noch etwas anderes gab, wofür sich ein Weiterleben lohnen würde ...

Mit einem Mal spürte er die kalte Spitze seines Sgiann Dubh mehr als deutlich an seiner Halsschlagader.

Es war falsch! Mehr als das, es war eine Todsünde! Eine, die weit mehr wog als das, was die MacLeods getan hatten. Und ob das Fegefeuer eine bessere Option als das Feenreich war, bezweifelte er doch stark. Außerdem, was hatte er noch zu verlieren? Er konnte lernen, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden. Hatte vielleicht die Chance, das Leben zu leben, was er sich immer erträumt hatte. Und wenn alles nichts half, dann blieb immer noch die Möglichkeit, sich ...

Als ihm das bewusst wurde, senkte er die Hand, die den Dolch hielt und ließ ihn zurück in seine Scheide gleiten. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und brüllte, so laut er konnte:

»Ron!«