Als Gwen die Augen aufschlug, fühlte sie sich wie gerädert. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie sich nicht mehr in dem Gang mit den beiden Männern, sondern in ihrem Bett in Larnas Pension befand. Obwohl sie sich normalerweise nie an ihre Träume erinnern konnte, hatte sich jedes Detail von diesem in ihr Gedächtnis eingebrannt. Es war fast so, als läge der Geruch ihres vermeintlichen Vetters selbst hier noch im Raum und als spüre sie auch weiterhin seine aufdringliche Nähe.
Gwen seufzte, dabei drehte sie sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
Auch wenn die Ereignisse, die sie gesehen hatte, nicht gerade angenehm waren, so war es dennoch kein wirklicher Albtraum gewesen. Immerhin hatte sie ja Hilfe bekommen. Hilfe von einem Mann mit saphirblauen Augen. Etwas war merkwürdig. Diese Augen erinnerten sie an ein Paar andere. Doch an welche?
Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz.
Der Landstreicher! Trotz all dem Dreck, der ihn umgeben hatte, waren sie genauso strahlend gewesen, wie die des Fremden, der ihr zur Hilfe geeilt war. Hatte das etwas zu bedeuten? Und warum hatte ihr Traum sie in eine vermeintlich weit zurückliegende Zeit gebracht? Aye, an dem Eindringling waren ihr auch seine Augen aufgefallen, aber an den Rest von ihm konnte sie sich kaum erinnern, außer an den ganzen Dreck, der ihn wie einen Waldschrat hatte aussehen lassen. Aber wieso versuchte dann ihr Verstand, ihn mit dem Adonis aus ihrem Traum zu verbinden?
Sie wusste es nicht und im Grunde genommen war es auch egal.
Es gab weit wichtigere Dinge zu regeln. Durch das Erscheinen des Landstreichers hatte sie gestern ganz vergessen, Cat anzurufen, um ihren Besuch anzukündigen. Aber vielleicht war es auch besser so. Sie musste erst einmal zur Ruhe kommen und das gelang ihr am besten in ihren eigenen vier Wänden. Obwohl ... Ein kleiner Abstecher konnte ja nicht schaden.
Kurz entschlossen stand sie auf, griff nach ihrer Handtasche und kramte ihr Mobiltelefon hervor. Dann wählte sie Cats Nummer. Es dauerte eine Weile, bis jemand abnahm, aber schließlich meldete sich ihre Freundin am anderen Ende.
»Gwenny! Na endlich! Ich war schon kurz davor eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Du solltest dich wirklich öfter melden«, begrüßte Cat sie.
»Aye!«
»Mehr hast du nicht dazu zu sagen? Aileen vermisst ihre Tante. Du wolltest dich doch eigentlich schon vor zwei Monaten bei mir melden.«
»Du hast ja recht«, gab Gwen zähneknirschend zu. »Aber du weißt ja selbst, wie das ist. Ich war dermaßen mit meiner Dissertation beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie schnell die Wochen vergangen sind. Außerdem hat Adams mich dazu abkommandiert, die Seminararbeiten seiner Studenten zu korrigieren.«
»Du Arme! Trotzdem wäre immer Zeit, wenigstens mal den Hörer in die Hand zu nehmen. Aber lassen wir das. Ich freu mich wirklich von dir zu hören.«
»Wenn ich darf, wird es nicht nur beim Hören bleiben«, gab Gwen zurück. »Ich bin gerade in Arisaig und dachte, dass ich auf dem Rückweg kurz bei euch reinschneie. Aber nur wenn es dir nichts ausmacht. Ich weiß ja, dass du mit der Kleinen alle Hände voll zu tun hast.« Am anderen Ende brach Cat in leises Gelächter aus.
»Die Kleine ist wirklich mein kleinstes Problem. Dusten entwickelt sich zu einer solchen Glucke, dass es fast schon peinlich ist. Letztens hat er doch tatsächlich einen keinen Jungen angeknurrt, als der in den Kinderwagen gesehen hat. Wenn die Kleine in die Pubertät kommt, wird er bestimmt mit seinem Breitschwert hinter ihr herrennen, nur um sicher zu stellen, dass kein Junge ihr zu nah kommt. Sie tut mir jetzt schon leid.« Gwen brach nun ebenfalls in Gelächter aus.
»Das sind ja rosige Aussichten!«, entgegnete sie Cat, nachdem sie sich ein wenig gefangen hatte. »Aber ich kann ihn auch ein wenig verstehen. Wenn man bedenkt, dass er sich damit abgefunden hatte, keine eigenen Kinder zu bekommen, ist Aileen so etwas wie ein Wunder für ihn. Sein kleiner Schatz und er ist der Drache, der ihn bewacht.«
»Aye! So kann man es auch sehen. Dennoch werde ich bald ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Drache hin oder her! Aber kommen wir noch einmal auf unser eigentliches Thema zurück. Sicher kannst du vorbeikommen. Wann bist du hier? Bleibst du über Nacht, dann sage ich Fiona Bescheid, dass sie ihr Gästezimmer schon mal für dich vorbereitet.«
»Cat, ich ... Eigentlich habe ich keine Zeit, über Nacht zu bleiben!« Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber ...
»Hast du keine Zeit oder willst du nicht?«, unterbrach Cat ihren Gedankengang. »Gwenny, ich bin nicht blöd. Ich weiß, warum du dich in letzter Zeit so rar machst, aber das ist keine Lösung. Du bleibst, ob du willst oder nicht. Außerdem ist heute Sonntag und ich denke, dein Professor wird auch mal einen Morgen ohne dich auskommen können.«
»Also schön! Aber nur bis morgen. Die vermaledeiten Aufsätze korrigieren sich nicht von selbst. Die Sackpfeife muss bis spätestens Mittwoch in Glasgow sein und am Donnerstag soll ich auch noch die Vorlesung von Adams übernehmen. Die muss ich erst vorbereiten, da Adams ...«
»Welche Sackpfeife?«, unterbrach Cat sie erneut.
»Das erzähle ich dir nachher ausführlich«, erwiderte Gwen ihr grinsend. »Ich zieh mich schnell an, geh Frühstücken, packe meine Sachen und mach‘ mich dann direkt auf den Weg. Wir sehen uns gegen Mittag.«
»Gwenny, welche Sackpfeife?«, wiederholte Cat ihre Frage noch einmal. »Du kannst mich doch nicht so lange auf die Folter spannen.« Gwens Grinsen wurde noch eine Spur breiter.
Wenn auf etwas Verlass war, dann auf die Neugier ihrer Freundin. Ihre scheinbar achtlos dahergesagte Bemerkung über die Sackpfeife hatte genau das erreicht, was sie wollte: Sie hatte Cats Neugier geweckt und vom eigentlichen Thema abgelenkt. Jetzt hatte ihre Freundin etwas, was sie mit Sicherheit vorerst einmal beschäftigte.
»Bis nachher! Ich freu mich!« Mit diesen Worten beendete Gwen das Gespräch. Sie hörte zwar Cat noch »Gwenny?«, sagen, aber kurz darauf hatte sie bereits aufgelegt.