32

Gwen rannte, als wären sämtliche Dämonen der Hölle hinter ihr her in Richtung Loch Dunvegan. Immer wieder blieb sie kurz stehen und sah sich dabei gehetzt um. Als sie den Loch erreichte, saß Cairan auf einem gestrandeten dicken Ast und sah auf das offene Meer hinaus. Merkwürdigerweise genügte bereits sein Anblick, um ihr die Angst ein wenig zu nehmen. Sie konnte nicht sagen, woran es genau lag, aber er gab ihr das Gefühl von Sicherheit, obwohl es eigentlich vollkommen unlogisch war.

Gwen lief hinunter zum Strand und ließ sich neben ihm auf dem Ast nieder.

»Hast du bekommen, wonach du gesucht hast?«, wollte er daraufhin von ihr wissen und sah sie an. Gwen nickte.

»Aye! Wenn du willst, können wir wieder aufbrechen.«

»Du wirkst so anders«, bemerkte er leise. »Ist etwas geschehen?«

»Nein!«, log sie ihn an. »Ich habe nur meine Cousine getroffen und das Gespräch hat mich etwas aufgewühlt.«

»Auf welche Weise?«

»Erinnerungen! Ich hatte hier einmal einen Unfall, bei dem ich in eine Felsspalte gefallen bin und sie hat es erwähnt. Seitdem ...«, sie schwieg.

»Oftmals genügen einfache Erwähnungen, um all die Dinge wieder hervorzubringen, die besser auf ewig begraben bleiben sollten.«

»Dann hast du auch Erinnerungen, die besser nicht an die Oberfläche kommen sollten?« Cairan sah sie eindringlich an.

»Manche Dinge lassen sich nicht begraben, auch wenn man es sich noch so sehr wünscht.«

»Du hast ausgesehen, als würdest du über etwas nachdenken. War es eines dieser Dinge, an die du dich lieber nicht erinnern würdest? Haben sie etwas mit diesem Ort zu tun?« Er nickte.

»Aye! Aber nicht nur.«

»Möchtest du mir davon erzählen?«

»Denkst du, dass es helfen wird?«

»Ich weiß es nicht. Beim Vergessen wahrscheinlich nicht. Aber wenn man sie mit jemandem teilt, sind sie oftmals leichter zu ertragen. Dementsprechend hilft es manchmal wirklich. Ich kenne dich kaum und du redest so gut wie nie über dich selbst. Unser Start war zwar ein wenig holprig, doch ich würde gerne mehr über dich erfahren. Bisher weiß ich ja nur, dass du im 15. Jahrhundert geboren wurdest, im Feenreich warst und von dort hierher geschickt worden bist, um mich zu beschützen. Nicht viel. Aber ich möchte dich auf keinen Fall zu irgendetwas drängen.«

»Ich habe nicht gerade die Vorliebe, über mich selbst zu plaudern. Aber für dich würde ich es tun. Was möchtest du wissen?«

»Als Cat dich auf Kinder angesprochen hat, hast du gesagt, du hättest keine, dennoch ... Es hat ausgesehen, als würdest du ... An wen hast du bei der Frage gedacht?« Cairans Blick wanderte wieder zurück auf den Horizont.

»An meine Schwester und deren Kinder.«

»Es ist bestimmt schmerzlich, sie nicht mehr in deiner Nähe zu wissen. Aber vielleicht haben sie ja Nachkommen, die du aufsuchen kannst. Es wäre doch schön ...«

»Nein«, unterbrach er sie und schüttelte dabei seinen Kopf. »Es kann keine Nachkommen geben, denn ich war dabei, als sie starben.« Gwen fehlten für einen Moment die Worte, dann aber ergriff sie instinktiv seine Hand und drückte sie fest.

»Oh, Cairan, das ist schrecklich. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man jemanden verliert, den man liebt. Waren sie deine einzigen Verwandten?« Cairan nickte.

»Ja, meine Eltern starben, als ich ein junger Mann war. Roana und Lachlan waren alles an Familie, was mir geblieben war. Aber ich habe sie nicht sehr oft besucht. Ihre Kinder habe ich erst kurz vor ihrem Tod kennengelernt. Es war ...«, seine Stimme brach. Gwen konnte seine Trauer nicht nur sehen, sondern auch fühlen. Demnach hatte er alle, die ihm einmal lieb und teuer gewesen waren, bereits verloren, bevor er ins Feenreich gelangt war.

Kein Wunder, dass er sich auf Morgane eingelassen hatte. Oder hatte er sich gar nicht auf sie eingelassen und war von ihr hereingelegt worden, wie seinerzeit Dusten?

»Bist du deshalb ins Feenreich gegangen?« Cairan schüttelte seinen Kopf.

»Es war die einzige Möglichkeit zu überleben und ...«, er stockte.

»Aber du bist freiwillig dortgeblieben?«

»Aye! Aber ich wurde getäuscht.«

»Und jetzt wirst du es nicht mehr?« Cairan sah sie erneut an.

»Ich weiß es nicht«, gab er ehrlich zu. »Ich hoffe es, aber bei den Túatha Dé Dannan ...«

»Was hat sie von dir verlangt? Dusten musste damals seine wahre Liebe finden. Will sie das auch von dir?« Cairan schwieg.

»Was, Cairan?«, Gwen wurde lauter als beabsichtigt, doch als sie es bemerkte, fügte sie noch schnell, »Vielleicht kann ich dir ja helfen, um ihr zu entkommen.« In einem wesentlich ruhigeren Ton hinzu. Cairan schüttelte betrübt seinen Kopf.

»Nein, niemand kann mir helfen«, gab er resignierend zurück.

Eine ganze Weile saßen sie einfach nur da und starrten schweigend auf den Loch. Dass sie seine Hand immer noch in ihrer hielt, bemerkte sie dabei gar nicht.

»Warum eine Phìob?«, brach Gwen schließlich das Schweigen. Cairan sah sie fragend an. »Warum kann ich dich mit einer Phìob zu mir rufen?«

»Weil ich ein Piobaire bin.« Gwens Augen weiteten sich.

Dann hatte sie sich nicht getäuscht. In ihrem Traum hatte er ja bereits nebenbei erwähnt, dass sein Talent ihn zu einem Gefolgsmann Donalds gemacht hatte, doch wirklich sicher, ob sie ihn nicht dennoch falsch verstanden hatte, war sie sich nicht gewesen.

Er war demnach tatsächlich ein Piobaire. Einer jener Männer, über die sie so viel gelesen hatte und dennoch so wenig von ihnen wusste.

»So richtig? Warst du auf Schlachtfeldern? Stimmt es, dass ihr die gegnerischen Truppen zermürben solltet? Und ist es wahr, dass ihr niemals etwas anderes als die Phìob spielen durftet? Ich habe gehört, dass ihr immer am Schlachtfeldrand gestanden und niemals gekämpft habt. War das nicht schwierig?«

»Aye! Und ich habe mir ob meiner etwas anderen Stellung, oft den Unmut meiner Kameraden zugezogen.«

»Dann warst du kein gewöhnlicher Piobaire?«

»Im Grunde genommen schon, doch ich hatte Privilegien, die es mir erlaubten, nicht nur ein Piobaire zu sein.« Gwen sah ihn fragend an.

»Privilegien?«

»Aye! Ich war einer von Donalds Beratern und deshalb ...«

»Donald Dubh?«, Gwens Augen weiteten sich erneut vor Überraschung, während Cairan zum wiederholten Male nickte. »Aber dann ... Cairan, wenn du einer von Donalds Mannen warst, dann ...«

»Wenn der Tod naht, dann hilft auch keine hohe Stellung.«

»Es ist dir unangenehm darüber zu reden.«

»Ich habe für meine Stellung meine Familie verlassen und wurde nicht einmal im Tod mit ihnen vereint. Glaube mir, wenn ich damals bereits geahnt hätte, was geschehen würde, dann hätte ich sie niemals angetreten, sondern wäre der einfache Pächtersohn geblieben, der ich bei meiner Geburt gewesen bin.« Obwohl er nicht den Eindruck machte, dass er noch weiter auf das Thema eingehen wollte, hakte Gwen dennoch nach.

»Warst du mit Donald hier auf Dunvegan? Du hast ja erwähnt, dass du es bereits von damals kennst.«

»Aye! Es war ein Treffen der Lairds, zur Bestätigung des Lord of the Isle.« Erneut schwieg er und starrte dabei auf den Loch.

»Deine Erinnerungen an Dunvegan sind nicht die Besten.«

»Nein!«, gab er kurz und knapp zurück, was mehr als deutlich machte, dass er nicht weiter darüber reden wollte, deshalb schluckte Gwen die nächste Frage, die ihr bereits auf der Zunge lag, herunter und starrte ebenfalls auf den Loch.