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Nachdem Gwendoline den Kuss so plötzlich unterbrochen hatte, waren sie zum Auto geeilt und direkt losgefahren. Cairan verstand die Welt nicht mehr.

Wieso küsste sie ihn auf eine Weise, als würde es kein Morgen geben und wich dann vor ihm zurück? Aye, der Kuss vor ihrem Auto war als eine Art Strafe gedacht gewesen, um zu sehen, wie sie reagieren würde, wenn auch er sie ebenfalls einfach so ... Aber dann ... Verdammt!

Seine Zeit alleine dort unten am Loch Dunvegan hatte alle Ereignisse aus seinem vormaligen Leben erneut an die Oberfläche gezerrt. Jeden einzelnen Moment, den er mit Caileigh verbracht hatte, doch immer wieder hatte sich ihr Bild in das von Gwendoline verwandelt, so als würde diese plötzlich Caileighs Platz einnehmen. Caileigh sprach nicht mehr wie sie selbst, sondern wie Gwendoline. Sie war auch genauso gekleidet wie Gwendoline. Selbst ihre Frisur und ihr Lachen waren mit einem Mal zu Gwendolines geworden, was nur bedeuten konnte, dass seine Gedanken an Caileigh langsam verblassten und von anderen verdrängt wurden.

Konnte es sein, dass, obwohl er seine Gefühle ihr gegenüber für bloße Nachklänge seiner Liebe zu Caileigh gehalten hatte, sie etwas völlig anderes waren? Hatte er sich vielleicht nur eingeredet, es wäre so, um sich nicht selbst eingestehen zu müssen, dass sein Schützling etwas geschafft hatte, was bisher noch keiner anderen gelang? Nämlich Caileigh zu verdrängen und sich selbst in sein Herz zu stehlen? Aye! Sie hatte sich in sein Herz gestohlen. Schlimmer noch. Sie hielt es in ihren schmalen Händen und war darüber hinaus die Einzige, die ihn retten konnte. Retten vor sich selbst, vor seinem Durst auf Rache und vor einem Schicksal schlimmer als der Tod.

Doch wie konnte er ihr seine Liebe gestehen, wenn die einzige Möglichkeit für immer mit ihr zusammen zu sein, darin bestand, Rache an denen zu üben, die sie liebte? Als sie ihn auf seine Vergangenheit angesprochen hatte, hätte er ihr da nicht die Wahrheit sagen müssen? Sie hatte sich sogar angeboten, ihm zu helfen und er ...

Verflucht! Er war so ein Hasenfuß! Wenn er ihr in diesem Augenblick die Wahrheit gesagt hätte, dann hätte sie noch wählen können, ob sie ihn hassen und verachten oder doch vielleicht ein klein wenig mögen würde. So aber ...

Sein Kuss hatte nur allzu deutlich gezeigt, dass auch sie mehr für ihn empfand, als sie zugab. Doch war das eine Basis? Konnte man eine Zukunft auf Lug und Trug aufbauen?

Was dachte er da? War er völlig närrisch geworden? Eine Zukunft? Welche sollte das schon sein? Für sie beide würde es niemals eine Zukunft geben. Er musste sich endlich damit abfinden.

Cairan war so in seine Gedanken vertieft, dass er erst begriff, dass Gwendoline den Wagen zum Stehen gebracht hatte, als er ihre Autotür hörte. Verwirrt sah er sich um.

Dies war nicht Fionas Heim, denn sie befanden sich noch immer auf Skye.

Gwendoline hatte ihren Wagen vor einem Gebäude abgestellt, dessen kleiner Garten, der jetzt im Winter zwar nicht in voller Blüte stand, dennoch genauso einladend wirkte wie die weiß getünchte Fassade. Am Zaun, der den gesamten Bereich umspannte hing ein Schild mit der Aufschrift B&B.

Was auch immer das zu bedeuten hatte, Gwendoline wollte anscheinend, dass er ihr folgte.

Cairan stieg ebenfalls aus, lief um das Auto herum, ergriff Gwendolines Hand und schlenderte dann mit ihr in Richtung der Tür. Eine freundliche ältere Frau begrüßte sie herzlich und besprach dann mit Gwendoline ein paar Dinge, von denen er nur die Hälfte verstand. Eines aber begriff er sofort:

Dies hier war eine Art Gasthaus und Gwendoline mietete gerade ein Zimmer für sie beide. Nicht für jeden eines, wie er zu seinem Erstaunen erkennen musste, sondern eines für sie beide! Dann durfte er vielleicht doch noch hoffen, dass sie ...

Gwen erledigte alle Formalitäten in Windeseile. Als sie endlich den Schlüssel zu dem Zimmer in ihren Händen hielt, ergriff sie Cairans Hand und zog ihn mit sich die Stiege hinauf. Die ältere Lady lächelte sie wohlwollend an, so als wüsste sie genau, wie es gerade in ihr aussah.

Doch das konnte niemand auch nur ahnen, denn selbst ihr war ihr momentanes Handeln ein Rätsel. Wenn ihr jemand vor ein paar Tagen gesagt hätte, dass sie völlig ungeniert ein Zimmer für sich und einen Mann buchen würde, bloß um ...

Verdammt drehte sie langsam durch oder war sie über Nacht plötzlich zu einer mannstollen Furie geworden, die sich das nahm, was sie gerade wollte. Vielleicht hatte Gordon ja doch recht gehabt, als er sie auf seiner Website als Nymphomanin mit übersteigertem Selbstbewusstsein der Männerwelt angepriesen hatte. Nur, dass sie es selbst bisher nicht wahrhaben wollte. Wie dem auch sei, eines war sicher, im Moment wollte sie einzig und allein mit Cairan auf dieses Zimmer, ohne Gefahr zu laufen, dass jemand hinter dem nächsten Baum lauerte und sie fotografierte.

Als sie sich schließlich in dem Zimmer befanden, war sich Gwen ihrer Sache allerdings gar nicht mehr so sicher. Gut, sie war hier alleine mit ihm, aber am Strand war sie auch nur zu Zweit mit ihm gewesen und es musste ja nicht so enden, wie Cat, Fiona und vermutlich auch Jo es gerne hätten. Man konnte außerdem stundenlang einfach nur reden, oder ...

Vor Verlegenheit und Angst ob ihrer eigenen Courage lief sie rot an.

So viel zum Thema sie müsste es nur schaffen, diesen Tag ohne weitere Peinlichkeiten hinter sich zu bringen. Peinlicher ging es wohl kaum, zumal Cairan sie ansah, wie ein Raubtier, das bereits zum Sprung ansetzte, um sich auf seine Beute zu stürzen. Aber das konnte sie sich eventuell nur einbilden.

Cairan konnte sehen, dass Gwendoline plötzlich die Röte ins Gesicht stieg und dabei nervös auf ihrer Lippe kaute. Für sie war es demnach nicht alltäglich, dass sie mit einem ihr fast fremden Mann ein Zimmer in einem Gasthaus aufsuchte. Das machte sie für ihn nur noch begehrenswerter.

Warum gewährte sie gerade ihm dieses Privileg?

Cairan ging einen Schritt auf sie zu, doch Gwendoline wich instinktiv vor ihm zurück.

Vielleicht war es noch zu früh, ihr wirklich zu zeigen, wie sehr er sie begehrte. Immerhin kannten sie sich ja erst seit wenigen Tagen. In seiner Zeit brauchte es Wochen, manchmal Jahre, um endlich ...

Zudem wollten Frauen umgarnt werden. Doch wie sollte er jemanden umgarnen, der vollkommen andere Dinge wertschätzte, als die Frauen seiner Zeit?

Zuerst einmal musste er ihr beweisen, dass er sie in keiner Wiese ängstigen wollte und erst recht nicht über sie herfallen, wie ein brünstiger Eber. Dazu gehörten immer zwei. Und wenn sie es noch nicht wollte, dann war er bereit zu warten.

»Cairan, ich hoffe, du verstehst das jetzt nicht falsch, aber ...«, begann sie zögernd. »Ich denke, ...«

»Du hast Angst«, entgegnete er ihr ohne Umschweife. »Vor mir?« Gwendoline schüttelte ihren Kopf.

»Nein, eigentlich mehr vor mir selbst«, gab sie zu.

»Gwendoline, ich weiß, warum du mich hierher gebracht hast, und ich verstehe deine Zweifel. Ich danke dir, dass du es wenigstens in Betracht gezogen hast, aber ich werde dich nicht zwingen ... Ich habe es oft genug erleben müssen, was geschieht, wenn Männer ihre Macht und Kraft gegenüber Frauen ausnutzen und sie mit Gewalt nehmen. Ich würde niemals ...«

»Das weiß ich«, unterbrach sie ihn. »Nur ... Auch wenn ich diese Situation förmlich selbst heraufbeschworen habe, so ist sie für mich nicht alltäglich und ...«

»Vielleicht sollten wir uns einfach zur Nacht betten. Es ist schon spät und du möchtest sicher morgen zu Fiona und Cat zurückkehren.« Cairan hielt unbewusst abwartend die Luft an. Als Gwen schließlich nickte, atmete er erleichtert aus.

»Dann lass uns zu Bett gehen. Ich schwöre dir, ich werde dich nicht anrühren. Es sei denn, du willst es.« Erneut nickte sie.

Wenig später lagen sie beide vollständig bekleidet auf dem breiten Bett. Gwen fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut, zumal Cairan sie die ganze Zeit aus seinen Augenwinkeln beobachtete. Aber wahrscheinlich bildete sie sich auch das einfach nur ein. Außerdem war es merkwürdig, ihm so nahe zu sein und ihn dennoch nicht zu berühren. Vor lauter Angst hatte sie sich so weit in ihre Hälfte des Bettes zurückgezogen, dass sie sich nur einmal hätte drehen müssen, um herauszufallen. Irgendwie war es lächerlich, wie sie sich benahm. Sie war keine unerfahrene Jungfrau mehr und ...

Seit sie sich zusammen ins Bett gelegt hatten schwiegen sie nun schon und dennoch war die Luft mit einer Spannung aufgeladen, die kaum zu ertragen war. Das Schweigen zwischen ihnen wurde immer unangenehmer. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Gwen nahm all ihren Mut zusammen und wandte sich ihm zu.

»Tat es weh?«

»Was?«

»Als Morgane dich mit dem Feenmal versehen hat. Dusten hat es gesehen, als ihr im Bad wart.« Cairan nickte.

»Es reißt einem die Seele heraus.«

»Hat sie dich bedrängt? Ich meine, wollte sie, dass du mit ihr ... Ich ...«

»Wenn du meinst, dass sie bei mir liegen wollte, dann nein. Sie hat mich nicht bedrängt.« Cairan drehte sich ihr jetzt auch zu und grinste sie breit an. »Sie hat zwar des Öfteren angedeutet, dass sie durchaus nicht abgeneigt wäre, aber deshalb hat sie mich nicht in ihr Reich geholt.«

»Weshalb dann?«

»Ich sollte für ihre Kurzweil sorgen.« Gwen sah ihn fragend an.

»Kurzweil?«

»Aye! Sie wollte, dass ich für sie spiele. Nicht die Phìob, sondern die Flöte. Morgane ist die Túatha Dé Dannan des Krieges. Sie liebt den Ruf der Trommeln und den Klang der Phìobs am Rand der Schlachtfelder. Da sie allerdings keine Phìob zur Hand hatte, musste eine Flöte ihrem Anspruch genügen.«

»Du hast 500 Jahre die Flöte für sie gespielt?« Cairan nickte.

»Wenn du von Menschenjahren ausgehst, dann ja. Für mich erschienen sie allerdings nur wie fast zwei Jahre.«

»Wann wurdest du geboren?«

»Anno Domini 1495 kurz vor Samhain.«

»Und wann hat sie dich in ihr Reich geholt?«

»Im Winter des Jahres 1525.«

»Dann warst du gerade einmal 30 Jahre alt, also zwei Jahre älter als ich jetzt, als sie dich in ihr Reich geholt hat. Und jetzt müsstest du dann 32 Jahre alt sein.«

»Aye! Zwei Jahre in der Hölle und doch liege ich hier lebend neben dir.« Er murmelte seine Worte so leise, dass Gwen sie wohl nicht verstehen sollte, doch sie hörte sie dennoch.

»War es so schlimm?«, wollte sie daraufhin von ihm wissen.

»Anfangs nicht. Aber es wurde immer schlimmer. Wenn man zwei verdammte Jahre nur mit sich selbst verbringen muss und noch dazu dem Gutdünken einer launischen Königin ausgeliefert ist, ist das nicht gerade förderlich für dein Wohlbefinden.«

»Darf ich es sehen?«

»Was?«

»Das Feenmal?«

»Diese Scheußlichkeit?« Sie nickte. Cairan zögerte einen Moment, dann jedoch zog er sich kurzerhand sein T-Shirt über den Kopf und entblößte seine breite Brust vor ihr. Gwen hielt den Atem an. Er war wirklich so gut gebaut, wie der eng anliegende Pullover es bereits hatte erscheinen lassen. Von seinem breiten Brustkorb über sein deutlich ausgebildetes Sixpack bis hin zu der Verjüngung seiner Taille, die sich wie selbstverständlich durch den Bund seiner Lederhose von seinen Hüften abgrenzte, war er nahezu perfekt. Einzig und allein das riesige schwarze Mal in Form einer Hand, das sich quer über seine linke Brust zog und aussah wie eine völlig verunglückte Tätowierung, ruinierte das Bild.

Konnte ein Mann wirklich so perfekt sein?

Gwen atmete leise aus, während ihr Blick weiterhin auf dem Feenmal ruhte.

»Fühlt es sich anders an als deine andere Haut?«, sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, als sie hörte, wie sie das, was sie gerade dachte, auch aussprach. Aber jetzt, wo es ihr schon einmal herausgerutscht war, konnte sie es auch nicht mehr zurücknehmen. Cairan sah sie einen Moment schweigend an, dann jedoch ergriff er zärtlich ihre Hand und legte sie auf das Mal. Er zog seine Eigene anschließend allerdings nicht zurück, sondern ließ sie auf ihrer.

»Sag du es mir.« Seine Stimme klang so sanft wie seine Berührung. Zuerst traute sie sich nicht, ihre Hand zu bewegen. Seine Haut war an dieser Stelle glühend heiß, als hätte man ein Feuer darunter entfacht, aber dennoch war sie glatt, ohne das geringste Zeichen einer Wölbung, wie bei einer Narbe.

»Fühlst du es noch?« Cairan nickte.

»Aye! Manchmal!«, flüsterte er heiser, während er seine andere Hand unter ihr Kinn schob, ihren Kopf anhob und ihr dann tief in die Augen sah. »Immer dann, wenn meine Gefühle die Oberhand gewinnen ... Wie ... Es tut mir leid, Gwen, ich habe es dir zwar versprochen, aber ich kann nicht anders.« Mit diesen Worten beugte er sich etwas weiter nach vorne und berührte sanft ihre Lippen mit seinen. Gwen fühlte sich, als würde sie schweben. Obwohl sich ihre Lippen nur federleicht berührten, schrie alles in ihr nach mehr von ihm.

Wie brachte er es nur fertig, dass sie so auf ihn reagierte?

Genauso schnell zog er sich allerdings auch wieder zurück. Dann sah er sie an, als erwartete er, dass sie schreiend aus dem Zimmer fliehen würde. Als nichts dergleichen geschah, erschien ein zaghaftes Lächeln auf seinem Gesicht.

»Ich dachte, du würdest ... Ich habe mein Versprechen gebrochen.«

»Aye! Das hast du«, erwiderte sie ihm nun ebenfalls lächelnd. »Aber manchmal ist es vielleicht besser, wenn man dem Schicksal ein wenig auf die Sprünge hilft, als sofort die Flinte ins Korn zu werfen.« Cairan sah sie verständnislos an.

»Du bist nicht wütend auf mich?«

»Nein! Aber ich werde es, wenn du mich nicht sofort noch einmal küsst.«