Gwen schlug verwirrt ihre Augen auf. Sie war schweißgebadet und völlig desorientiert.
Was war das gerade gewesen? Diese Melodie? War sie es, von der Larna gesprochen hatte. Aber, da sie noch lebte, war anscheinend ihr letzte Ton noch nicht verklungen.
Ihre Gedanken wirbelten nur so durch ihren Kopf, aber sie schaffte es nicht, sie zu ordnen. Das Erste, was sie dann bewusst wahrnahm, war Cairans besorgter Blick, mit dem er sie ansah, während seine Hand sie liebevoll streichelte.
»Gwendoline, was ist geschehen. Du hast im Schlaf geschrien und geweint. Hattest du einen Albtraum?«
»Oh Cairan!«, brachte sie mühsam hervor und warf sich dabei schluchzend in seine Arme.
»Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht sagst, warum du so außer dir bist.«
»Ich weiß. Aber ...« In diesem Moment meldete sich lautstark das Mobiltelefon aus ihrer Tasche. Gwen schrak unwillkürlich zusammen und richtete sich auf, während Cairan sie fragend ansah.
»Woher kommt das?«, wollte er von ihr wissen.
»Das ist bloß mein Telefon. Das hört bestimmt gleich wieder auf.« Wie zur Bestätigung verstummte das nervige Gedudel, sodass Gwen sich zurück in Cairans Arme sinken ließ.
»Was ist ein Telefon?«
»Man kann damit Personen erreichen, die sich weit entfernt von einem befinden. Man braucht dafür nur ihre Telefonnummer.« Cairan nickte verstehend.
»Ähnlich einer Depesche, die man versendet?« Bei seiner Frage funkelten seine Augen wie die der Kinder unter dem Weihnachtsbaum, wenn sie kurz davor waren, ihre Geschenke auszupacken.
Es war ja verständlich, dass ihn diese Technik vermutlich brennend interessierte, aber musste es gerade jetzt und hier sein?
»Aye, nur dass man mit ihnen tatsächlich reden kann.«
»Vielleicht solltest du nachsehen, wer es war. Man kann es doch sehen?« Gwen nickte.
»Wenn man die Nummer bereits kennt und gespeichert hat.«
»Ein Gutes hat meine Unwissenheit anscheinend, du erscheinst lange nicht mehr so ängstlich, wie vorhin. Wenn dich meine dumme Fragerei dermaßen beruhigt, sollte ich dir vielleicht des Öfteren Fragen stellen«, entgegnete er ihr grinsend. »Aber, auch wenn es dich ein wenig beruhigt zu haben scheint, es muss einen Grund für dein Verhalten geben. Ich habe dich im Schlaf beobachtet. Zuerst warst du ganz friedlich, aber dann ist etwas geschehen, was dich völlig aus der Ruhe gebracht hat. Was hast du geträumt?« Gwen antwortete ihm nicht sofort, sondern schmiegte sich stattdessen enger an seine breite Brust. Eine ganze Weile saßen sie einfach nur da. Schließlich aber brach Cairan das Schweigen.
»Gwendoline, was hast du geträumt? Manchmal sind Träume ...« Weiter kam er nicht, denn erneut erklang die Melodie des Telefons aus Gwens Tasche.
»Vielleicht solltest du auf die Nachricht reagieren. Sie könnte wichtig sein. Wenn Cat oder Fiona deine Nummer haben, könnten sie vielleicht versuchen, dich auf diese Weise zu erreichen.«
»Du gibst bestimmt eh keine Ruhe, bis ich nachgesehen habe«, bemerkte Gwen ein wenig verärgert. »Also schön, ich werde nachsehen, wer es ist und mit ihnen reden. Aber nur, falls es wirklich Fiona oder Cat sein sollten.« Gwen löste sich widerwillig von Cairans Brust und griff neben das Bett in ihre Tasche, dann zog sie das immer noch dudelnde Telefon heraus und sah auf das Display. Es war wieder ein Anruf mit unterdrückter Rufnummer. Gwen hielt inne.
»Und? Ist es Cat oder Fiona?«, wollte Cairan daraufhin von ihr wissen.
»Nein!«
»Wer ist es dann?«
»Du bist schlimmer als eine meiner Freundinnen. Warum interessiert es dich, wer mich anruft?«
»Weil es mich stört!«
»Mich stört es auch und dennoch hätte ich das Ding in meiner Tasche gelassen, solange bis es endlich aufhört.« Das Telefon verstummte erneut. Gleichzeitig allerdings kündeten kurz hintereinander folgende Töne den Eingang gleich mehrerer Nachrichten an.
»Und was war das jetzt?«
»Einige Nachrichten.«
»Man kann damit also nicht nur mit anderen sprechen, sondern auch Nachrichten versenden?«
»Du lernst schnell.«
»Darf ich sie sehen?«
»Ich hatte eigentlich nicht vor, sie zu öffnen.«
Nein, das hatte sie wirklich nicht, denn wenn sich ihre Befürchtungen bewahrheiteten, dann würde Cairan gleich einige erstaunlich gute Fotos zu Gesicht bekommen. Und wie sie ihm das erklären sollte, war ihr schleierhaft. Viel lieber hätte sie mit ihm über ihren Traum gesprochen, doch ...
Auch er war schwer zu erklären. Sie wusste ja selbst nicht, warum sie all diese Begebenheiten träumte und vor allen Dingen, warum urplötzlich eine Sackpfeife erklungen war, die ...
Gwens Hände begannen zu zittern. Cairan, der sie immer noch eingehend beobachtete, schien es sofort zu bemerken.
»Schlechte Nachrichten?«
»Ich habe sie noch gar nicht geöffnet.«
»Aber ...« Gwen sah ihn eingehend an.
Es brachte ja nichts, wenn sie die Dinge weiter in die Länge zog, nur um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. War es nicht besser, ihm jetzt gleich die Wahrheit zu sagen und damit vielleicht ein Ende heraufzubeschwören, bevor ihre Gefühle für ihn so tief waren, dass es sie endgültig zerstören würde, als so lange zu warten, bis all die nichtgesagten Worte sich wie von selbst ihren Weg an die Oberfläche bahnen könnten und damit das Ende unweigerlich eines mit Schrecken wurde? Aye! Es war besser, auch wenn sie ihn dadurch verlor und ihr Herz nur noch als Scherbenhaufen zurückblieb. Er musste die Wahrheit erfahren. Er hatte ein Recht darauf.
»Cairan, ich denke, wir sollten dringend reden«, unterbrach sie ihn deshalb. Cairan sah sie fragend an.
»Worüber? Ich würde viel lieber ganz andere Dinge mit dir machen als ...« Gwen nickte.
»Ich weiß, aber es muss sein. Ich möchte nicht, dass irgendetwas zwischen uns steht. Cairan, du weißt doch noch, dass du mich unten am Loch gefragt hast, ob etwas mit mir sei. Ich habe dir dort nicht ganz die Wahrheit gesagt. Aye, ich war aufgewühlt durch das Gespräch mit Jolyne, aber ... Das war es nicht nur.« Cairan rückte ein Stück näher an sie heran, doch Gwen wich zurück.
»War es mein Kuss? Du hast es nicht gewollt und ich habe nicht einmal bemerkt, dass ich dich zu sehr bedränge.« Gwen schüttelte ihren Kopf.
»Nein, dein Kuss war es ganz und gar nicht. Obwohl ... In gewisser Weise schon ... Ich habe dir doch gerade erklärt, wie ein Telefon funktioniert.« Er nickte.
»Man kann die Nummer sehen, wenn sie mitgesendet wird. In manchen Fällen wollen es diejenigen, die einen kontaktieren, aber nicht, deshalb rufen sie anonym an oder verschicken Nachrichten ohne Absender.«
»War das gerade eben auch so ein anonymer Absender?«
»Ich fürchte es. Mit Sicherheit derselbe, der mir gestern Mittag bereits Nachrichten geschickt hat.«
»Du hast bereits gestern Mittag Nachrichten erhalten und es mir nicht gesagt?« Gwen nickte.
»Ich dachte, dass es eine einmalige Sache wäre. Deshalb wollte ich nicht ...«
»Welcher Art sind diese Nachrichten? Droht er dir? Bist du in Gefahr?« Cairans Verhalten änderte sich schlagartig. All die Sanftheit, mit der er ihr begegnet war, war mit einem Mal verschwunden, stattdessen war an ihre Stelle etwas getreten, das sie an das Jagdverhalten eines wilden Panthers erinnerte. Er lag definitiv auf der Lauer.
Doch wie sollte sie ihm begreiflich machen, dass das, was er bereit war zu jagen, sich vor ihnen dermaßen verkroch, dass man es nicht einfach so aufspüren konnte?
»Er droht mir nicht. Und ob ich in Gefahr bin, weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass er mich beobachtet. Er hat mir Fotos geschickt.«
»Fotos?« Cairan rückte nun neugierig noch ein Stück näher an sie heran und beugte sich über das schwarze Display ihres Mobiltelefons.
»Bilder. Er hat sie von uns gemacht.«
»Er kann Bilder von uns zeichnen?«
»Nein. Ich denke, bevor ich es dir erkläre, zeige ich sie dir besser.« Gwen drückte auf die Einschalttaste ihres Telefons. Dank der Fingerabdruckdisplaysperre öffnete sich sofort der Startbildschirm, der den Eingang von sechs weiteren Nachrichten anzeigte. Doch bevor sie sich diesen widmen konnte, musste sie erst einmal Cairans Neugierde befriedigen. Außerdem hatte sie so ein mulmiges Gefühl, dass die ungeöffneten Nachrichten noch um einiges schlimmer sein könnten, als die bereits gesehenen. Da Cairan jede ihrer Bewegungen genaustens beobachtete, öffnete sie schließlich das erste Bild.
»Es zeigt dich«, bemerkte er erstaunt. Gwen nickte.
»Das Bild sieht aus wie die Zeichnungen aus dem Buch von Fionas Bibliothek, das ich mir dort angesehen habe.« Gwen nickte erneut.
»Man nennt sie Fotos. Man kann sie mit einer Kamera oder mit dem Telefon machen.«
»Das Telefon macht auch Bilder? Was kann es noch? Essen kochen? Waren bestellen? Sprechen und Denken?«
»Am Denken arbeiten sie noch, alles andere jedoch kann es bereits, nicht ohne meine Hilfe aber ...« Während sie darüber redeten, öffnete Gwen ein Bild nach dem anderen. Als sie das Letzte, das sie und Cairan bei dem Kuss auf Dunvegan zeigte, geöffnet hatte, hielt sie inne.
»Er ist uns bis Dunvegan gefolgt«, bemerkte er knurrend, als er es sah. Es war offensichtlich, dass er nicht gerade erfreut darüber war.
»Ja, aber wieso denkst du, dass es ein er ist?«
»Ich denke kaum, dass Ladys sich dazu herablassen würden, einen Kuss auf diese Weise zu beobachten. Das ist eher die Verhaltensweise eines Mannes.«
»Vielleicht hast du recht. Aber in unserer Zeit gibt es durchaus auch einige Ladys, die das Objekt ihrer Begierde beobachten. Man nennt es Stalking.«
»Aber würden diese Ladys nicht eher einen Mann als ihr Objekt der Begierde betrachten? Da die ersten Bilder allerdings nur dich zeigen, gehe ich davon aus, dass du dieses Objekt bist. Demnach ist er ein Mann.«
Sie wollte einwerfen, dass es in ihrer Zeit auch durchaus Frauen gab, die Frauen und Männer, die Männer ... Aber, um ihn nicht komplett zu überfordern, ließ sie es bleiben.
»Wenn man es so betrachtet, dann ...«, gab sie stattdessen zurück.
»Du hast erwähnt, dass gerade noch ein paar weitere Nachrichten eingetroffen sind. Willst du sie dir nicht ansehen?« Gwen zögerte.
»Du hast Angst«, stellte er daraufhin fest. Sie nickte.
»Vielleicht besteht darin meine Aufgabe. Ich soll dich vor diesem Hundsfott beschützen. Doch wenn wir uns seine Nachrichten nicht ansehen, dann werden wir niemals erfahren, was er von dir will.« Sie nickte abermals.
»Gut! Aber ich befürchte, dass die neuen um einiges schlimmer werden als die, die wir schon gesehen haben.« Mit zittrigen Fingern öffnete sie anschließend die erste Mail. Das Bild zeigte sie mit Cairan vor dem B&B. Auf allen anderen waren sie und Cairan beim Geschlechtsverkehr abgebildet.
Das hieß, der Typ war irgendwo da draußen und beobachtete sie noch immer. Verdammt!
Auch Cairan schien von den Bildern nicht gerade erfreut zu sein, denn bei jedem Weiteren wurde seine Miene grimmiger. Er sah fast so aus wie an dem Tag, an dem er das erste Mal in ihrem Zimmer erschienen war, mit dem Sgiann Dubh in seiner Hand und diesem Blick, der sie an ein sprungbereites Raubtier erinnert hatte.
»Wenn die Bilder uns hier in diesem Raum zeigen, dann muss er sich irgendwo da draußen aufhalten«, knurrte er, während er aufsprang, zum Fenster stürmte und dann auf die Straße starrte.
»Dort unten ist niemand«, brummte er. »Ich denke, er versucht dir Angst einzuflößen.«
»Das denke ich auch und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass er es auch schafft.«
»Du hast die letzte Nachricht noch nicht geöffnet! Beinhaltet sie ein weiteres Bild?« Gwen starrte auf ihr Telefon.
Was konnte jetzt noch kommen? Viel schlimmer ging es ja kaum noch.
Doch da irrte sie. Als sie die Mail anklickte, erschien auf ihrem Display ein grinsender Totenkopf, der mit der Tonspur eines gehässigen Lachens unterlegt worden war. Der Totenkopf begann allmählich zu zerfließen, als bestünde er aus Blut und wandelte sich um in eine Schrift:
Du bist mein! Und wie du siehst, kannst du mir nicht entkommen! Er wird dich niemals bekommen! Vorher schmorst du in der Hölle!
Gwen rutschte vor Schreck das Telefon aus der Hand. Doch noch immer starrte sie panisch auf ihre jetzt leere Hand.
»Gwendoline?« Cairan rannte auf sie zu und ließ sich neben ihr auf das Bett fallen. Er griff nach dem Telefon und konnte gerade noch sehen, wie die Schrift langsam verblasste und schließlich verschwand.
»Ich habe recht«, bemerkte er leise, während er nun näher an sie heranrückte, seine Arme um sie schlang und ihren Kopf dabei an seine Brust drückte. »Er ist es, vor dem ich dich beschützen soll.« Gwen war noch immer starr vor Entsetzen. Cairans Nähe beruhigte sie zwar ein wenig, aber bei weitem nicht genug, um endlich wieder klar denken zu können. Zumal seine Berührung auch nicht wirklich förderlich bei dem Versuch waren, ihr Hirn wieder in Gang zu setzen.
»Mo bheatha, du musst dich nicht fürchten, ich werde dafür sorgen, dass er dir nichts antun kann.« Wie durch einen Schleier nahm sie seine Worte wahr, deren Sinn sie jedoch nicht wirklich begriff. Was sie allerdings begriff, war der Kosename, den er benutzt hatte.
»Das hast du schon einmal gesagt«, bemerkte sie leise. Cairan sah sie verwirrt an.
»Was?«
»Mo bheatha! Zu einer anderen Frau in einer anderen Zeit.«