Auf der anderen Seite der Welt starb eine Frau.
Es war nicht wirklich die andere Seite der Welt. Nur ein Türrahmen, nur ein Schritt trennte Kevron von dem Raum, dem Mord und dem Mörder, aber dieser Durchgang war versperrt von einer ebenso unsichtbaren wie undurchdringlichen Barriere, und Kevron hätte darüber nicht froher sein können. So war alles weit weg, unerreichbar, unberührbar, selbst der gellende, entsetzte Schrei erreichte seine Ohren wie aus weiter Ferne, und Kevron stand da, gelähmt, und schaute zu.
Tymur und Ililiané. So ein kurzer Augenblick nur. Eine Bewegung, so schnell, dass der Blick ihr nicht folgen konnte. Ein Griff, der nur der Schriftrolle hätte gelten dürfen. Ein Dolch, der im fahlen Licht silbern funkelte. Dann ein Stoß, so zielsicher, als wäre er nicht der erste seiner Art, sondern der tausendste, und eine Hand im schwarzen Handschuh, die rasch und geübt den Dolch wieder aus dem Herzen der Frau zog. Ililiané stand noch einen Moment lang auf ihren Füßen, dann sackte sie in sich zusammen und fiel zu Boden. Blut begann zu fließen, dunkelrotes Blut, das erst abwartete, als überlegte es noch, und dann aus der Wunde quoll, auf das Kleid, auf die Frau, auf den Steinboden. Rotes Blut wie das eines Menschen …
In Kevrons Ohren hallte ein Echo lang vergangener Worte, gesprochen von den allerersten Alfeyn, die sie getroffen hatten, bevor die zu etwas Gewöhnlichem wurden und sie selbst, die Menschen, nur noch eine Laune der Natur waren: »Wir bluten nicht.« Aber diese Frau war eine Alfeyn, von ihrer schlanken, hochgewachsenen Gestalt bis hin zu der nebelgrauen Haut, und wenn das kein Blut sein sollte, was die Welt um sie herum so rot färbte, dann wusste es Kevron auch nicht mehr.
Er starrte auf die Gestalt am Boden, er hoffte und flehte, dass sie noch am Leben war, dass er sich alles nur eingebildet hatte. Doch es war keine Regung mehr in ihr, und die Wolken unter der Haut hörten auf zu ziehen. Ihre Farbe war nicht mehr das Grau des Himmels, sondern das Grau des Steins, leblos und tot, und das Blut quoll nicht weiter, wo kein Herz mehr schlug, um es hinauszuzwingen. Alfeyn konnten nicht bluten, Alfeyn konnten nicht sterben, doch hier lag Ililiané, die vieltausendjährige, unsterbliche Zauberin, und war tot.
Kevron konnte den Blick nicht von ihr abwenden – nein, er wollte es nicht. Nur sie ansehen, nicht Tymur, Tymur mit dem Dolch in der Hand und dem Blut an den Händen und dem Lächeln im Gesicht … Da war es wieder, das Bild, das ihn heimgesucht hatte, jahrelang: Kaynor, wie er die Tür öffnet, nichtsahnend; der Dolch, der sein Herz durchstößt, schnell und tödlich, und ein Mörder, der sich eilig entfernt, von keinem Menschen gesehen … Seit vier Jahren hatte Kevron dieses Bild im Kopf, immer, ob er wollte oder nicht, er konnte sich betäuben, bis er nur noch Sterne sah, das Bild kam immer zurück, sein Bruder auf der einen Seite, ein dunkler Schatten auf der anderen. Bis jetzt. Jetzt hatte dieser Schatten ein Gesicht. Tymurs. Es half nichts, Kevron musste hinsehen, Kay war nicht hier, ein anderer Mord, eine andere Zeit – und in dem Moment begriff Kevron, dass es nicht Ililiané war, die er hatte schreien hören. Es war Tymur.
Dann schrie Tymur wieder. »Was geschieht mit mir?« Nicht wie ein Mörder. Wie ein Kind, ein kleines, verängstigtes Kind. Der Dolch, einstmals silbern, jetzt rot bis zum Schaft, entglitt seinen Händen und fiel zu Boden, und dieses Klirren war es, das Kevron zurückrief in seinen eigenen Verstand und seine eigene Wirklichkeit. »Was tue ich hier?«
Tymur griff sich an den Kopf mit beiden Händen, er ging in die Knie, bäumte sich verzweifelt auf und blickte sich um, mit so großen und leeren Augen, als könne er selbst am allerwenigsten glauben, was um ihn herum geschah. Und aus der verzerrten Fratze, die Kevron eben noch verfolgt hatte, aus dem schwarzen Mann, der Kaynor getötet hatte und der nun hinter Kevrons Leben her war, wurde wieder Tymur Damarel, Prinz, Jüngling und, vor allem, Freund – ein Freund, der Kevron gerade mehr brauchte als alles andere.
Die Angst in Kevrons Hirn wich kühler Berechnung, klar, ruhig, scharf. Enidin tat schon, was sie konnte, war so in ihren Zauber vertieft, in den Versuch, ein Loch in die unsichtbare Wand zu machen, dass sie, mit etwas Glück, noch nicht einmal mitbekommen hatte, was auf der anderen Seite geschah. Und Lorcan, sonst der Erste, wenn es darum ging, Tymur beizustehen, lag hinter Kevron am Boden in seinem Blut, und wenn er noch bei Bewusstsein war, war das schon viel. Blieb nur Kevron.
»Enid«, sagte er laut. »Wie weit bist du?«
Enidin nickte mit zusammengekniffenen Lippen, und Kevron entging nicht, wie sehr sie zitterte. »Was … was war das?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
»Schau nicht hin«, sagte Kevron. »Schau nur auf dein Werk, und behalt die Nerven. Alles wird gut. Dein Portal ist das Einzige, was es gibt, alles andere –«
»Sie ist tot, nicht wahr?«, flüsterte Enidin. »Sie ist tot, Ililiané ist tot!«
»Das ist sie.« Kevron nickte. »Denk nicht darüber nach, du kannst nichts für sie tun. Aber für uns, und für Tymur.« Er hörte sich reden und glaubte selbst nicht, was er da sagte. Für Tymur? Für? Hatte er den Verstand verloren? »Sobald du eine Öffnung hast, die groß genug ist, dass sich da ein Mensch durchquetschen kann, hörst du auf und sagst mir Bescheid, ja?«
»Aber sie ist tot …«
Kevron zuckte die Hand, fast hätte er Enidin ins Gesicht geschlagen, um sie zur Besinnung zu bringen, doch er riss sich zusammen. Sie war so gut wie fertig mit dem Portal, ein Schlag hätte alles zunichte gemacht, und vor allem war Kevron kein Schläger. Enidin musste zurechtkommen. Kevron kannte keinen Menschen, der so von seiner Vernunft bestimmt wurde wie sie. Sie sollte sich freuen, dass sie etwas zu tun hatte. Kevron hingegen …
»Lorcan!«, rief er und packte den Mann, von dem er nicht mal wusste, ob der noch bei Bewusstsein war, bei der Schulter. Irgendwas tun. Irgendwas. »Kannst du mich hören?«
Sehr langsam nickte Lorcan. Sein Atem ging rasselnd, und sein Gesicht war kalkweiß und kalt. Kevron zog sich die Jacke aus und breitete sie über Lorcans Körper, diese Jacke, die ihm selbst immer viel zu groß gewesen war und die sich danach sehnte, endlich wieder einem besseren Mann dienen zu dürfen. Nur ein Zeichen und vielleicht etwas Wärme.
Lorcan schüttelte den Kopf, so langsam, wie er genickt hatte, und presste die Arme enger an den Körper. »Es geht schon …«, brachte er hervor.
»Du bist die Treppen allein raufgekommen«, sagte Kevron. »Meinst du, die schaffst du auch wieder runter? Nicht sofort, aber nachher? Ich kann dich stützen, bloß zum Tragen bist du mir zu schwer.«
»Geht schon«, wiederholte Lorcan. Der Schweiß stand ihm im Gesicht, er zitterte am ganzen Körper, doch er kämpfte sich hoch, versuchte, sich an der Wand hinter ihm aufzurichten, und wenn es sein Stolz war, der ihm die Kraft dafür verlieh, hielt Kevron besser sein Maul und ließ ihn in Ruhe.
»Ich bin so weit«, sagte Enidin heiser. Auch sie sah aus, als könnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Kevron schämte sich fast, dass es ihm noch so gut ging. Aber sie hatte es geschafft. Dort, im Durchgang, klaffte eine Öffnung in der Welt, einfach so. Sie war nicht besonders groß, kein Vergleich zu dem Portal, durch das Enidin sie nach Ailadredan geführt hatte oder aus dem Dämonenwald, aber immerhin, das Loch war da. Seine glitzernden Ränder waren ausgefranst, als könnten sie sich nicht entscheiden, zu welcher Welt sie gehörten. Dahinter lag die Turmstube, in ihr die tote Frau, und Tymur … Tymur war verschwunden.
Kevron schluckte, befürchtete schon das Schlimmste, und dann verstand er. Tymur war immer noch da. Er hockte unter Ililianés Schreibtisch, zusammengekauert, so weit weg von der Leiche, wie es irgendwie ging. Das Portal hing vor Kevron in der Luft, zitternd, schillernd, und wartete darauf, dass er hindurchstieg.
»Gut«, sagte Kevron mit trockenem Mund. »Jetzt tu, was ich dir sage, Enid. Geh die Treppe runter, langsam, nicht rennen, sonst fällst du noch. Zähl, bis du ungefähr fünfzig Stufen hast, und dann bleib stehen und warte. Hab keine Angst, aber bitte, geh die Treppe runter.«
Enidin blickte ihn an, als wäre sie ein Tier in der Falle, und jetzt, da sie ihre Arbeit getan hatte, gab es nichts mehr, das sie auf dieser Seite der Vernunft hielt. »Aber, ich …«, stammelte sie, »wenn ich jetzt … Ihr könnt nicht …«
Kevron schüttelte den Kopf und fragte sich, wo er diese Ruhe hernahm. »Enid«, sagte er und legte ihr die Hände auf die Schultern, ganz langsam. »Keine Angst. Keine Fragen. Dir wird nichts passieren. Vertrau mir, und tu ein einziges Mal, was ich dir sage.« In ihm brodelte es. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb, wie lange dieses Portal halten sollte, das Enidin in eine Wirklichkeit geflochten hatte, die ihr fremd war, oder ob das, was auf der anderen Seite lauerte, es beim Lauern belassen würde, nun, da es einen Weg ins Freie gab. Aber gerade deswegen musste Enidin da weg. Damit zumindest einer von ihnen in Sicherheit war.
Endlich gehorchte die Magierin. Rückwärts, die Hand an der Wand, den Blick fest auf ihr Portal gerichtet, stieg sie die Treppe hinunter, vorsichtig, Stufe für Stufe, bis sie um die Biegung verschwunden war und nur der Hall ihrer Schritte verriet, dass sie brav weiterging. Wenn sie nun ganz hinunterlief, aus dem Turm hinaus, und den Alfeynsoldaten unten verriet, was oben geschehen war … Doch da verstummte der Hall auch schon. Enidin wartete. Kevron atmete auf. Am liebsten hätte er Lorcan auf dem gleichen Weg in Sicherheit gebracht, aber was nicht ging, das ging nicht. Keine Zeit mehr verlieren. Kevron hatte ein Portal – und keine Wahl, als es allein mit einem Dämon aufzunehmen.
Es war ein Versprechen, das er Tymur gegeben hatte, ein Versprechen, das darauf wartete, eingelöst zu werden.
»Tymur«, rief Kevron, »wenn du mich hören kannst: Bleib, wo du bist. Rühr dich nicht, ich komme jetzt zu dir rein.« Er bewunderte sich selbst für seine kühle Ruhe. Keine Droge der Welt hatte ihn jemals so gelassen gemacht wie in diesem Moment, wo sowieso alles zu spät war. Tymur nickte, dann griff er wieder an seine Stirn, rang mit sich oder dem unsichtbaren Feind, der sich seines Körpers bemächtigt hatte und ihn nicht mehr hergeben wollte.
Einen letzten Augenblick zögerte Kevron. Da drin war entweder ein Tymur, der ein kaltblütiger Mörder war und sich jetzt gut zu verstellen wusste, oder ein nicht minder kaltblütiger Dämon. »Ich komme jetzt rein«, sagte Kevron noch einmal.
Das Portal hing vor ihm in der Luft, gerade groß genug, um hindurchzuschlüpfen, doch seine Ränder sahen so gefährlich aus, dass er sie lieber nicht berühren wollte. Vorsichtig führte Kevron seine Hand in die Nähe der unscharfen, zitternden Linie und zog sie gleich wieder weg. Seine Fingerspitzen begannen zu summen und wurden taub. Das Gefühl verflog schnell, zum Glück, aber damit war klar, er durfte da wirklich nicht drankommen. Kevron war kein Artist, und so geschickt seine Finger auch waren, er konnte nicht einmal reiten. Da war eine Öffnung mitten in der Luft, vielleicht zwei Ellen im Durchmesser, und Kevron hatte keine Ahnung, wie er da durchkommen sollte.
Ein geschickter Gaukler spränge mit einem Hechtsprung, Arme und Kopf voraus, hindurch. Kevron musste es deutlich weniger elegant versuchen, mit dem linken Fuß zuvorderst. Das Bein hoch anwinkeln, dann war das schon mal durch – nur, wenn er jetzt das andere Bein entlastete, saß ihm der ausgefranste Rand der Wirklichkeit mitten im Schritt …
Kevron hielt die Luft an und rührte sich nicht. Wer sollte ihm helfen? Lorcan, den die Anstrengung buchstäblich zerreißen konnte, oder lieber Tymur mit seinem Dämon? Irgendwann musste Kevron auch mal selbst etwas riskieren. Er schob das Bein mit ausgestrecktem Fuß noch weiter durch die Öffnung, streckte den linken Arm hinterher, dann den Kopf, es ging besser als gedacht, und Tymur hatte unterm Tisch wenigstens etwas zu lachen. Den rechten Arm am Rumpf vorbei auf die andere Seite zu bringen war schwieriger, schon war er taub von oben bis unten, und es wurde nicht leichter davon, dass Kevron aus gewohnter Feigheit beide Augen zusammenkniff – dann stieß er sich vom Boden ab, hing einen Augenblick zwischen den Welten, und war drüben.
Kevron landete unsanft auf der Seite. Fluchend rappelte er sich auf … Jetzt, wo es zu spät war zum Weglaufen, rutschte ihm das Herz in die Hose. »Ich bin gleich bei dir, Tym«, sagte er und zwang seine Stimme, nicht zu zittern. Eines nach dem anderen. Wenn Ililiané noch lebte, wenn es irgendwie möglich war, sie zu retten … Die Zauberin war ihre einzige Hoffnung – nicht mehr wegen der Frage, ob La-Esh-Amon-Ri noch in die Schriftrolle eingeschlossen war, das hatte sich wohl von selbst beantwortet, aber um ihn aus Tymur wieder hinauszubekommen.
Kevron wollte lieber glauben, dass Ililiané noch lebte. Er war noch nie einer Leiche so nah gewesen: Kevron hatte einige Ehrfurcht vor den Toten, und wahrscheinlich konnte man »Ehr« dabei sogar weglassen. Aber jetzt, wo etwas davon abhing, mehr als nur ein Leben, ging er auf die Knie und rutschte an die vielleicht doch noch nicht ganz tote Alfeyn heran. Seine Hände zitterten angesichts all dieses Blutes. Es war seltsam, dass ein erwachsener Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken einem toten Hund die Haut abziehen konnte, weiche Knie bekam, sobald es um Menschen ging.
Aber das hier war kein Mensch, daran konnte er sich festhalten. Auch wenn sie so, wie sie da lag, aussah wie eine normale Frau, war Ililiané doch eine Alfeyn. Moralisch irgendwo zwischen Mensch und Hund … Kevron musste seinen Verstand dazu zwingen, aber es half. Kein Mensch. Er konnte das tausendmal wiederholen. Es wurde davon nicht besser. Es machte ihm nur weniger aus.
Dann, vorsichtig, berührte er Ililiané. Er fühlte kein Leben. Erst am Hals, dann wälzte er sie auf die Seite, um über dem Herzen nach einem Puls zu tasten. Ihm fehlte der Vergleich. Er hatte nie auch nur einen lebenden Alfeyn berührt. Hatten die überhaupt einen Puls? Ililianés Haut war kalt, kälter, als sie in der kurzen Zeit seit ihrem Tod geworden sein konnte. Auch dem Blut, das an Kevrons Händen klebte, fehlte die Wärme.
Es gab nichts daran zu rütteln, sie war tot. Was war leichter zu glauben? Dass Tymur Damarel mit einem Lächeln auf den Lippen einen verborgenen Dolch zog und eine Frau abstach – oder dass es nichts als einen Stich ins Herz brauchte, um die mächtigste und bedeutendste Zauberin, die jemals gelebt hatte, umzubringen? Vielleicht war das ihr großes Geheimnis, der Grund, warum sie sich von dem Rest der Welt und ihrem eigenen Volk zurückgezogen hatte: Wer gab schon gerne zu, sterblich zu sein?
Kevron konnte nichts mehr für sie tun. Tot war tot. Alles, was ihm noch blieb, war, mit seinem Schnupftuch so viel wie möglich von dem vergossenen Blut aufzuwischen. Er brauchte einen Moment, um selbst zu verstehen, was er da tat: Der Fälscher in ihm übernahm die Kontrolle. Er verwischte Spuren. Ililianés Blut … Das Blut, das Tymur, nachdem er sich in den Arm geschnitten hatte, so großzügig auf den Fußboden hatte tropfen lassen … Wenn sie den Tag überleben wollten, dann durfte niemand wissen, was Tymur getan hatte, am wenigsten die Soldaten, die unten mit ihren Schwertern vor der Tür warteten. Lieber ein Tymur mit einem Dolch als neun Alfeyn mit Krummschwertern …
»Tymur«, sagte Kevron, jedes Wort ein Kampf. »Wenn du mich hören kannst, wenn du gerade du selbst bist, komm und hilf mir.«
»Mir ist nicht zu helfen«, sagte Tymur dumpf und rührte sich nicht.
»Nicht dir«, erwiderte Kevron, und es ging schon besser, »mir. Ich kann sie allein nicht hochheben.« Ililiané durfte nicht da liegen bleiben, mitten auf dem Boden und so offensichtlich tot wie nur was. Wenn sie hingegen in dem Sessel saß, mit dem Rücken zur Tür … Kevron dachte so schnell, dass er selbst kaum hinterherkam. Lorcan war verwundet. Gut. Alles Blut, das jetzt an Tymur klebte, an Hose, Ärmeln, Händen – wie sollte jemand auf die Idee kommen, dass das Alfeynblut war, wenn sie einen heftig blutenden Menschen dabeihatten? Wenn sie den Verwundeten gemeinsam hinunterschafften, bekam Tymur genug von Lorcans Blut ab, dass niemand mehr einen Unterschied auch nur riechen konnte. »Komm und hilf mir!«, wiederholte Kevron. »Dafür bringe ich dich hier raus, du hast mein Wort.«
Jetzt, endlich, kam Leben in Tymur. »Ich kann nicht!«, stieß er hervor. »Komm nicht näher!«
Kevron blieb so ruhig, wie man es auch gegenüber einem tollwütigen Hund bleiben musste. »Tym, ich bin dein Freund, ich bin hier, um dir zu helfen.«
»Komm nicht näher!«, fauchte Tymur wieder und drehte sich weg, drückte sich so eng gegen das Tischbein, als wollte er darin verschwinden. »Sonst – sonst bring ich dich auch noch um!« Er drohte nicht, er hatte Angst. »Ich habe Ililiané umgebracht, was, wenn es wieder passiert?«
»Du bringst mich nicht um.« Kevrons Blick suchte Tymurs. »Du hast keinen Grund dafür.«
»Ich hatte eben auch keinen Grund!« Tymurs Stimme wurde immer jünger, kläglicher, verzweifelter.
Kevron zischte durch die Zähne. Er war auf einen mordlüsternen Tymur eingerichtet, nicht auf einen weinerlichen. Es war nicht verwunderlich, dass Tymur außer sich war und halb von Sinnen, aber wenn Kevron sich zusammenreißen konnte, dann musste das für Tymur erst recht gelten.
»Schieb mir den Dolch rüber«, sagte Kevron. »Grund oder nicht, ohne Waffe kannst du mir nichts tun.«
»Und wenn … wenn ich irgendwo noch einen versteckt habe, von dem ich nichts weiß?«
»Dann kann ich mich zumindest verteidigen.« Sie wussten beide, dass Kevron mit Waffen so hilflos war wie ohne.
Tymur zögerte noch eine Ewigkeit, dann schlitterte sein Dolch über den Steinboden. Die Spannung schien von dem Prinzen abzufallen, und sein erleichterter Seufzer musste bis unten zu hören sein: Weil er einen Dummen gefunden hatte, der ihm die Mordwaffe abnahm? Oder nur, weil er froh war, das blutbefleckte Ding los zu sein? Kevron nahm den Dolch und verfluchte sich, seine Sachen bei Lorcan gelassen zu haben. Einen Moment lang war er unschlüssig, dann wischte er das Blut von der Klinge und schob sich den Dolch hinter den Gürtel, verwegen wie ein Straßenräuber, unschuldig wie ein Mörder.
»Gut«, sagte er, und: »danke«, und traute sich selbst endlich zu Tymur hin. Den Prinzen auf die Füße bringen – die Leiche in den Sessel bugsieren – und dann zusehen, dass sie wegkamen. In seinem Kopf überschlug sich alles. Wenn er versuchte, den Dämon in Tymur zu ignorieren, blieb der ein Mörder. Ignorierte er aber den Mörder, hatte er immer noch einen Dämon übrig. Trotzdem trat er zu Tymur hin und legte ihm eine Hand auf die Schulter, ganz egal, wen er damit erreichte.
Zumindest Tymurs Schulter fühlte sich auch nicht anders an als früher, und er fuhr auch nicht herum, um seine Zähne in Kevrons Hals zu schlagen. Er sah aus wie immer, aber war das nicht das eigentlich Tückische an Dämonen?
»Komm jetzt«, sagte Kevron. »Hilf mir mit der Zauberin, und ich bringe dich hier raus.«
»Und wäre das eine kluge Idee?«, fragte Tymur leise und ohne Ironie. »Warum willst du nicht die Welt vor mir in Sicherheit bringen?«
»Weil du mein Freund bist«, erwiderte Kevron. »Und weil ich dir mein Wort gegeben habe, und es ist besser, daran erinnere ich dich als du mich.«
»Ich verstehe dich nicht.« Tymur schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie du mir noch vertrauen kannst – ich kann es doch nicht einmal mehr selbst. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, eben noch stehe ich vor Ililiané und will ihr die Schriftrolle zeigen, und dann …«
»Später«, sagte Kevron. »Ich will keine Erklärungen hören und keine Entschuldigung. Ich habe mich entschieden, dir zu vertrauen. Nichts von dem, was du jetzt sagst, kann etwas daran ändern.« Es war die schwerste Entscheidung in Kevrons Leben, die weitreichendste, und die schnellste. Kevron wollte leben. Und wenn er dem Prinzen jetzt nicht mehr vertraute, würde die Angst ihn umbringen, noch bevor Tymur das tun konnte.
Tymur nickte. Niemand konnte sagen, was gerade in seinem Kopf vorging, wahrscheinlich noch nicht einmal er selbst. Aber endlich half er Kevron mit der toten Zauberin, die trotz Kevrons Bemühungen eine prachtvolle Blutlache am Boden hinterlassen hatte.
»Wir bräuchten eine Scheuerbürste«, murmelte Kevron. »Und einen Eimer heißes Wasser.« In dem Moment wünschte er sich den alten Tymur zurück, der ihn schief ansehen und eine Bemerkung machen würde wie: ›Ich hätte nicht erwartet, dass ausgerechnet du etwas vom Putzen verstehst‹. »Oder einen Teppich, den wir hier drüberlegen könnten.« Er zwinkerte. »Wandteppich, schnell!« Es war egal. Wenn sie einmal hier weg waren, würden sie niemals wieder zurückkommen. Und die Alfeyn hatten Ililiané fast tausend Jahre lang in Ruhe gelassen – da mussten sie die Leiche nicht ausgerechnet jetzt entdecken, und ohne Damars Blut kamen die sowieso nicht in den Turm. Aber wenn Kevron einen Funken Ehre im Leib hatte, war es seine Berufsehre. Er arbeitete entweder gar nicht oder gründlich.
»Wenn du wissen willst, warum ich dir helfe«, sagte er leise, »es geht hier nicht nur um dich und mich. Du bist nicht irgendwer, und Ililiané war auch nicht irgendwer. Wenn rauskommt, was du getan hast … Ich will nicht, dass diese Kerle mit ihren Krummschwertern in Neraval einfallen und als Vergeltung alles abschlachten, was sich bewegt. Wir haben genug am Hals mit den Dämonen. Ich will nicht auch noch einen Krieg mit den Alfeyn.«
Tymur nickte. »Da sind wir schon zu zweit«, antwortete er, und endlich klang er wieder wie der, den Kevron kannte. »Aber was hast du vor? Was sollen wir tun?«
»Wir haben zwei Möglichkeiten«, sagte Kevron. »Theoretisch.« Jetzt waren sie wieder Komplizen, wie damals, als Kevron die Schriftrolle gefälscht hatte. »Entweder, wir gehen da runter und sagen den Soldaten, dass Ililiané nicht da war und wir nichts gefunden haben. Oder wir sagen, sie war schon tot, als wir angekommen sind, bloß, dafür waren wir zu lang hier oben, dafür ist das Blut zu frisch. Aber das andere – das müssen sie uns abkaufen.«
»Also gut.« Tymur atmete durch. »Danke. Für dein Vertrauen, für alles. Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals zurückzahlen kann …«
»Ich bin der Letzte, einen Sack voll Geld abzulehnen.« Kevron grinste. »Weißt du doch. Aber darum können wir uns später kümmern, jetzt geht es hier erst mal raus. Was macht dein Arm, blutet der noch? Gut. Hast du dich gerade unter Kontrolle? Oder soll ich das Reden übernehmen?«
»Ich kriege das hin«, sagte Tymur. »Es wäre wenig glaubwürdig, wenn plötzlich du der Wortführer bist.« Endlich, der alte Tymur. Und solange Enidins Portal noch hielt, sollten sie zusehen, dass sie wieder zurückkamen. In der Turmstube gab es nichts mehr zu tun. Das Blut auf dem Boden war verschwunden unter einem Teppich, der eigentlich an der Wand hängen sollte. Ob die Tote im Sessel mit den Jahren verwesen würde, ob das Blut verblasste oder auch hier alles von den Fliegen gefressen wurde, das wollte Kevron gerade gar nicht wissen. Nur hinaus, zurück in die Stadt, und dann weitersehen. Lorcan durchbringen. Und, noch wichtiger als alles andere, irgendwo Alkohol auftreiben.
Durch das Portal zurückzukommen war deutlich einfacher als der Hinweg. Diesmal wusste Kevron, worauf er achten musste, und sie konnten einander helfen. Der Dämon hielt Kevron für nützlich genug, um leben zu dürfen, und auf der Basis konnten sie jetzt zusammenarbeiten.
Jugend und Eleganz waren auf der Seite des Prinzen, und Tymur schlüpfte durch Enidins Portal, als hätte er im Leben nichts anderes getan. Das Loch hatte lange genug gehalten. Wenn es jetzt wieder verblasste, gab es keine Beweise mehr, dass sie jemals in der Turmstube gewesen waren. Noch hing es in der Luft, zerbrechlich und zittrig wie im ersten Moment und doch erstaunlich haltbar, aber darüber wollte sich Kevron gerade keinen Kopf machen.
»Da wären wir, Lorcan«, sagte er und atmete durch. »Lorcan?« Er wusste nicht, wie viel Zeit sie in der Turmstube vertrödelt hatten, aber es war Zeit, die Lorcan nicht hatte, und während sie Ililianés Blut aufgewischt hatten, war Lorcans offenbar weiter geflossen. Als Kevron ihn jetzt anredete, reagierte er nicht, seine Augen waren irgendwo zwischen offen und geschlossen, und es war keine Regung mehr darin.
»Lorcan!«, schrie Kevron und schüttelte ihn. »Hörst du mich?« Seine Hände zitterten, als er nach dem Puls fühlen wollte, und er konnte nicht sicher sein, ob das, was er fühlte, nun Lorcans Herzschlag war oder nur seine eigene Nervosität. »Sag was, irgendwas!«
Tymur schob ihn zur Seite, ein ruhiger, gefasster Tymur, der wieder Herr der Lage war. »Lass mich ran«, sagte er sanft, zog einen Handschuh aus und fühlte Lorcans Puls und Atem. »Den kriegen wir durch«, sagte er. »Verdammt, ich will gar nicht wissen, wie viel Blut heute für mich und durch mich vergossen worden ist, aber eines sage ich euch, Lorcan stirbt nicht.« Er strich dem Mann über das zerfurchte, schweißnasse Gesicht – so viel Wärme lag in dieser Geste, so viel Zuneigung, so viel Mitgefühl, dass nur schwer vorstellbar war, wie diese Hand eben noch gemordet haben konnte.
Dann beugte sich Tymur über Lorcan und flüsterte ihm ins Ohr, dass es Kevron nur gerade eben noch hören konnte. »Mein Freund«, sagte Tymur. »Nicht mein Wächter, nicht mein Beschützer – mein Freund. Du hast mir so viel versprochen in den Jahren, die wir uns kennen, und alles davon hast du gehalten. Jetzt verspreche ich dir etwas: Du wirst nicht sterben, nicht heute und nicht morgen und nicht an dieser Wunde. Das schwöre ich dir, bei meinem Leben.«
Es mochte Einbildung sein, aber es war fast so, als träte bei diesen Worten ein kleines Lächeln in Lorcans Gesicht. Tymur nahm die Jacke von Lorcans Körper und gab sie Kevron zurück. »Hier, das war ein netter Gedanke, aber er braucht sie nicht halb so dringend wie du. Wenn wir ihn tragen, schaffst du das?« Alles, was in der Turmstube geschehen war, schien vergessen. Es gab nur noch Lorcan und sein Leben in Tymurs Händen.
Kevron zischte durch die Zähne. Lorcan in die Mitte zu nehmen, ihn unterzuhaken und halb zu tragen, halb zu schleifen, das traute er sich noch zu. So hatten sie ihn auch das letzte Stück nach oben bekommen. Aber da konnte Lorcan zumindest noch mithelfen, und wer aufwärts fiel, der nahm keinen großen Schaden. Wenn es hingegen abwärts ging … »Ich versuche es«, sagte Kevron. »Ich geb mein Bestes. Aber wenn seine Wunden dabei noch weiter aufreißen …«
»Wir haben keine Wahl«, sagte Tymur bitter. »Es ist meine Schuld, ich hätte niemals, niemals zulassen dürfen, dass er hier hochsteigt, er hätte sich unten ausruhen müssen, aber ich …« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist – war ich da noch ich selbst? Oder war das schon der … der andere?«
»Später«, knurrte Kevron. »Wir haben keine Zeit für Schuldzuweisungen und den ganzen Scheiß. Sehen wir zu, dass wir Lorcan heile runterbekommen. So heile wie irgendwie möglich, heißt das.« Die Jacke war nass von Blut. Kevron zog sie über, um die Hände für Lorcan frei zu haben, aber er brachte es nicht über sich, sie zu schließen. Dass Lorcans Verwundung jetzt Tymur den Hals retten sollte und Kevrons gleich mit – Kevron war sich sicher, das hätte Lorcan stolz gemacht. Aber das war eine schwache Entschuldigung.
Mit vereinten Kräften hoben sie Lorcan hoch, und Tymur versuchte, ihn sich auf den Rücken zu laden. Es war das Einfachste, wenn sie sich abwechselten und dabei Lorcan so fest und sicher hielten, wie es ging. So konnte Tymur nur langsam Stufe um Stufe nehmen, rückwärts, damit Lorcans Beine nicht hinter ihm herschleiften. Vorsichtig tastete er sich abwärts, während Kevron aufpasste, dass Tymur nicht danebentrat. Wie hoch war der Turm? Auf dem Weg hinauf hatte Kevron die Stufen gezählt, aber irgendwann aufgegeben. Jetzt schienen es unendlich viele zu sein.
Wenigstens hatte Enidin auf sie gewartet. Die Magierin hockte auf der Treppe und weinte. Sie bot einen kläglichen Anblick, aber keinen, mit dem Kevron sich jetzt lange aufhalten mochte. »Steh auf«, sagte er nur, »und komm mit runter. Es ist alles in Ordnung.« So glatt ging ihm das über die Lippen, während hinter ihm ein Mann, der ein Mörder war oder ein Dämon oder beides, einen blutenden, bewusstlosen Menschen die Treppe hinuntertrug. Die Hände, mit denen Lorcan so lange versucht hatte, das Blut am Fließen zu hindern, hingen jetzt vor Tymurs Brust, und an der Seite rann wieder das Blut herunter und tropfte auf die steinernen Stufen.
Enidin widersprach nicht, sprang nur auf die Füße und nickte, angestrengt bemüht, nicht zu Tymur hinzuschauen. »Kann ich etwas tun?«
Kevron wollte schon den Kopf schütteln, aber dann besann er sich eines Besseren. Enidin war größer als er, vielleicht sogar größer als Tymur – natürlich konnte sie helfen. »Wir wechseln uns ab beim Tragen«, sagte er. »Wenn es geht, kannst du gleich mit anpacken.«
So schleppten sie Lorcan die Stufen hinunter, und der Turm schien mit jedem Schritt zu wachsen. Jetzt, ausgerechnet, hätten sie die Stärke des Dämonenfürsten brauchen können, aber wenn der wirklich in Tymur saß, behielt er doch seine Kraft für sich. Sonst musste man einen Turm bezwingen, indem man hinaufstieg, nun kämpften sie sich Stufe für Stufe nach unten, mit zusammengebissenen Zähnen und bitterem Bangen, wenn sie den Bewusstlosen von einem Rücken auf den anderen luden – aber irgendwie kamen sie tatsächlich unten an, lebendig, alle vier.
Die letzten Stufen waren die einfachsten, gleich hatten sie es geschafft, und dort warteten die Alfeyn mit ihrem Hauptmann, das waren Soldaten, die würden schon wissen, wie sie eine Wunde versorgen konnten. Alfeyn bluteten ja doch …
Sie standen rechts und links der Klamm, wie zuvor Ililianés Steinerne Wächter, mit ihrem Hauptmann direkt vor der Tür. Tymur hatte ihnen befohlen, den Turm zu bewachen, und das taten sie auch, gehorchten aufs Wort, brave Krieger, die sie waren. Als Kevron und Tymur Lorcan ins Freie schleppten und die blutbefleckte Enidin vorauslief, begriffen die Alfeyn sofort, dass etwas nicht stimmte – nur was wirklich passiert war, davon hatten sie keine Ahnung und würden es auch niemals erfahren.
»Schnell!«, rief Tymur. »Er verblutet! Er braucht Hilfe!« Dass Lorcan die schon gebraucht hätte, bevor es auch nur an den Aufstieg ging, sollten die Alfeyn noch wissen. Tymurs Stimme zitterte vor Angst oder Anstrengung. »Bitte, ich kann ihn nicht mehr halten!«
»Lasst ihn zu Boden gleiten«, sagte der Hauptmann. »Vorsichtig. Ich werde mir die Wunde ansehen.«
Kevron versuchte zu helfen, aber schon damit, Lorcan die Rüstung auszuziehen, war er überfordert. Er hatte keine Ahnung, wie man in so ein Kettenhemd hineinkam – natürlich hatte Lorcan es nachts ausgezogen, aber dann stand der so unerträglich früh auf, dass Kevron nie etwas davon mitbekam: Zog man das über den Kopf, wie ein Leibchen? Wie bekamen sie Lorcan hinaus, ohne ihm noch unnötig wehzutun? Deutlich war zu erkennen, wo die Waffe die Kettenglieder durchtrennt hatte wie ein warmes Messer, das durch Butter fährt. So eine eindrucksvolle Rüstung, und doch wirkungslos.
Tymur war Kevron einen Schritt voraus. Es konnte die Sorge um Lorcan sein, die ihm half, den Feind in seinem Kopf zu unterdrücken, aber er war wieder ganz da. »Sucht Verbandsmaterial!«, sagte er. »Wir müssen die Blutung stillen, das ist das Wichtigste.« Er sah sich um. »Und wenn wir eine Trage hätten …« Sie hatten nichts. Als sie ins Gebirge aufgebrochen waren, hatte noch niemand von einem Kampf geredet, geschweige denn von einem Verwundeten. Leichtes Gepäck, ein Hemd zum Wechseln – vielleicht ließen sich daraus Bandagen schneiden? Kevron machte sich auf die Suche, froh, Hände und Verstand beschäftigen zu können.
»Ich sehe zu, ob ich Moos finden kann!«, rief Enidin. Wo immer sie das herhatte – es war tatsächlich einmal Wissen mit einer praktischen Anwendung. Gab es in ihrer Akademie so oft Blutvergießen? Sollte Enidin Moos sammeln. Vielleicht war es auch nur eine Ausrede, um nicht mit ansehen zu müssen, wie die Alfeyn mit ihren Schwertern Lorcan aus der Rüstung schnitten und seine Wunde entblößten – das war ein Anblick, bei dem biss auch Kevron die Zähne zusammen. Er wollte gar nicht wissen, wo der Muskel aufhörte und die Gedärme anfingen, und war froh um das ganze Blut, das der Wunde eine einheitliche dunkelrote Farbe gab, bei der man nichts genau erkennnen konnte. Sie fing am unteren Ende des Rippenbogens an und folgte dann seiner Linie nach außen, die Schwertklinge war zur Seite weggerutscht, statt Lorcans Bauch der Länge nach aufzuschlitzen, aber ob das jetzt ausreichte, um sein Leben zu retten, wusste Kevron nicht.
Die Alfeyn schienen zu wissen, was zu tun war, immerhin. Ohne viele Worte zu verlieren, reinigten sie die Wunde mit Wasser aus ihren Flaschen, und der Hauptmann trennte seinen Umhang auf in lange Streifen, mit denen Lorcans Körper fest verbunden werden konnte. Es war kein Ersatz für die Arbeit eines richtigen Heilers, natürlich, und auch das bisschen Moos, das Enidin schließlich fand, war vom Nebel feucht und vollgesogen und wollte kein Blut mehr trinken.
Kevron stand herum. Er wurde nicht gebraucht, was ihm sein Leben lang nichts ausgemacht hatte und ihn nun in Verzweiflung stürzte. Gebraucht werden hieß überleben. Irgendwas übersah er. Und wenn er nichts für Lorcan tun konnte – was war dann mit Tymur? Der schaute zu, hochinteressiert, wie Lorcan verbunden wurde, aber was danach kam …
Auch der Hauptmann der Alfeyn musste zu dem Schluss gekommen sein, dass es genügte, wenn sich seine acht Männer um den Verwundeten kümmerten. Er trat an Tymur heran, und Kevron sah zu, dass er in Hörweite war. »Sag, Tymurdamarel«, fing der Alfeyn an. »Wie steht es um Ililiané – ist sie bereit, uns zu empfangen?«
Und in dem Moment wusste Kevron, was er übersehen hatte. Die Tür des Turmes stand immer noch offen und wartete nur darauf, dass die Alfeyn hereinspazierten und Ililiané fanden. Kevron versuchte, Tymur mit Gesten zu bedeuten, dass er sich darum kümmern würde, wenn Tymur nur lange genug die Alfeyn ablenkte.
Der Prinz seufzte tief. »Sie war nicht da«, sagte er. »Dort oben ist nur eine Kammer, vielleicht schon seit langem verlassen. Wir haben gewartet und gewartet, aber sie ist nicht gekommen … und dann wurden Lorcans Wunden so schlimm, dass wir keine Wahl hatten, als wieder umzukehren.«
Kevron schlich sich an den Turm heran so unauffällig er konnte. Wirklich, er war kein Dieb, er war kein Einbrecher, er kannte sich mit Türen nicht aus, aber eine zu schließen, sollte einfacher sein, als sie aufzubekommen. Niemand schenkte ihm Beachtung. Die Tür war nach innen aufgeschwungen, das gab Kevron Deckung.
»Ihr habt uns gesagt, sie wäre hier!« Tymurs Stimme wurde laut und anklagend. »Wir haben einen beschwerlichen Weg auf uns genommen, mein Freund Lorcan wäre fast gestorben, und für was? Dass Ihr uns zum Narren haltet? Was für ein Spiel spielt Ihr, Alfeyn? Sollten wir in eine Falle laufen?«
Da war die Tür. Kevron hatte nicht Damars Blut, aber er wollte sie nicht öffnen, nur zumachen. Er zerrte daran, doch sie rührte sich nicht … Das Blut hämmerte in Kevrons Ohren. Draußen antwortete der Hauptmann etwas, aber Kevron konnte ihn nicht verstehen. Der Tonfall war abwiegelnd, beruhigend, doch dann glaubte Kevron, so etwas zu hören wie: »Sie muss dort sein! Wir werden selber nachsehen. Komm mit uns, Tymurdamarel.« Nicht jedes Wort musste stimmen, aber die Botschaft war klar. Kevron fluchte. Ihm blieb keine Zeit.
»Damar«, flüsterte er. »Valier. Marold. Svetan. Isjur. Astol.« Mit zitternden Fingern berührte er Bilder auf der Tür, erst die Schwalbe, dann fünf fünfzackige Sterne. Wenn das der Mechanismus war, sie zu öffnen, mussten die Namen Damars und seiner Gefährten sie auch wieder schließen. »Und Ililiané.« Die Tür rührte sich nicht. Wie auch – Kevron hatte nicht Tymurs Blut …
Er stutzte. Doch, das hatte er. Nicht in seinen Adern, und darüber war er froh. Aber an seinem Schnupftuch klebte nicht nur Ililianés Blut. Es war auch genug von Tymur dabei.
Kevron wusste nicht, seit wann er in der Lage war, sich so schnell zu bewegen. Er hatte das Schnupftuch in den Fingern, schneller als Tymur eben nach seinem Dolch gegriffen hatte, wickelte es sich um die Hand, ein blutiges Stück Stoff, es trocknete bereits, aber es war noch genug Feuchtigkeit darin, als er hektisch über die Motive auf der Tür wischte. Kevron stieß die Namen hervor, als wäre er selbst ein Alfeyn und Atempausen nur etwas für andere. »Damarvaliermaroldsvetanisjurastolililiané!«
Blutige Schmierflecken markierten die Stellen, die Kevron berührte hatte, und er versuchte noch, sie mit der anderen Hand wegzuwischen, aber er kam nicht dazu. Die Tür bewegte sich und schob ihn förmlich aus dem Turm, bevor sie mit vernehmlichem Rumsen ins Schloss fiel.
»Ich hab es versucht!«, schrie Kevron. »Ich wollte sie noch offen halten, aber ich schaffe es nicht mehr!« Er tat, als wollte er mit einem Fuß die schließende Tür blockieren und zog ihn schnell wieder weg, bevor sie beschließen konnte, das Opfer zu behalten. Ililianés Turm zitterte und bebte, und Kevron hoffte schon, dass er ihnen den Gefallen tun und in sich zusammenfallen würde, wie es die Steinsoldaten getan hatten, so dass nichts zurückblieb als ein unscheinbarer Haufen Geröll, der seine Geheimnisse für sich behielt, aber schon war wieder alles still.
Kevron wischte sich über die Stirn. Der Schweiß lief ihm aus den Haaren, und nun klebte auch noch Blut daran. Der Turm war wieder versperrt.
»Wir werden wiederkommen«, sagte Tymur leise und beherrscht. »Wir werden wiederkommen, und wir werden Ililiané finden – so billig lasse ich Euch nicht davonkommen. Aber eines nach dem anderen. Erst einmal müssen wir Lorcan zurück in die Stadt bringen. Und dann werden wir dem Hochfürsten berichten, dass immerhin die Steinernen Wächter geschlagen wurden.« Er lachte schon wieder, ganz der Alte, und Kevron atmete erleichtert auf. Er sah zu, wie die Alfeyn den verschnürten Lorcan hochhoben wie ein Paket, ein Bündel, das sie zwischen sich nehmen und heil durch die Berge tragen konnten. Alles war gut.
Warum fühlte es sich dann so an, als ob alles Kevron anstarrte? Die Augen des Hauptmanns lagen auf ihm, fragend, zweifelnd, als wüsste der genau, was die Menschen vor ihm zu verbergen suchten … Und dann begriff Kevron. Es war nicht die Tür. Es war nicht das Blut an seinem Schnupftuch, seiner Jacke, seinen Händen. Es war der Dolch, der Ililiané getötet hatte und den Kevron offen an seinem Gürtel trug.