Tymur rannte, bis er das Wasser erreichte. In seinen Ohren rauschte das Blut und übertönte das Plätschern, mit dem ein unsichtbarer Wind sanfte Wellen am Ufer lecken ließ, und die Welt vor Tymurs Augen färbte sich rot, selbst da, wo der Nebel nicht war. Dann stand er still, starrte auf den See hinaus, so weit der ihn blicken ließ, und versuchte, sich zu sammeln.
So viel Zorn war in ihm, Tymur wusste nicht, wohin damit. Enids Flucht hatte ihn zornig gemacht, doch das war kein Vergleich. Enid war im Stillen gegangen und hinter seinem Rücken, sie hatte ihn nicht offen zurückgewiesen, ihm nicht ins Gesicht geschleudert, was sie wirklich über ihn dachte, und im Nachhinein musste er ihr dafür dankbar sein. Aber Lorcan … Niemand hatte jemals Tymur zurückgewiesen, und von niemandem hatte Tymur das weniger erwartet als von Lorcan, dem Fels, auf dem seine Welt erbaut war.
Was auch immer passierte, Tymur hatte Lorcan, auf den er sich verlassen konnte, Lorcans Liebe, unerschütterlich, Lorcans Begehren … Wahrscheinlich wusste Tymur länger als Lorcan selbst von dieser Liebe, und so lange hatte er auf diesen Augenblick hingearbeitet, an dem er das Pfand einlösen konnte – nur um zurückgewiesen zu werden? Der Kuss, den er Lorcan abgerungen hatte, erschien ihm nicht wie ein halber Sieg, er vergrößerte nur den Hohn und die Schmach – wenn er Lorcan schon so weit hatte, wie konnte der dann noch Nein sagen?
Tymur fühlte sich am ganzen Körper zittern. Er kam sich schäbig vor und benutzt, er hatte alles auf eine Karte gesetzt, und jetzt – jetzt hatte er nichts mehr. Er hatte sich so sehr entblößt, wie er es irgendwie konnte, um Lorcan die Wahrhaftigkeit zu geben, nach der dieser lechzte, er hatte so vieles ausgesprochen, das tatsächlich wahr war, so viele Dinge, die er nicht ungesagt machen konnte, und jetzt stand er hier, hatte es nicht einmal geschafft, Lorcan zu töten, weil er ohne Lorcan verloren war und das wusste. Und das Schlimmste war, Lorcan wusste es ebenfalls. Aber er durfte Lorcan nicht am Leben lassen, Lorcan wusste zu viel …
Zu seinen Füßen kräuselte sich das Wasser, umspülte seine Stiefelspitzen, zumindest das Wasser tat noch, was es sollte, zumindest das Wasser gehorchte ihm. Tymur hob einen Stein auf und warf ihn, das Wasser spritzte, und in diesem Licht sah es beinahe aus wie Blut.
Ihm war schwindelig, und er wusste nicht, wovon. Hunger vielleicht, es war zu lange her, dass er etwas Richtiges gegessen hatte, und in diesem Dorf, wo nichts lebte als Steine, würde sich so schnell nichts daran ändern – es konnte nicht der Alkohol sein, nicht von dem einen Schluck, aber in seinem Kopf drehte sich alles.
Tymur schüttelte sich. Er ging auf die Knie und spritzte sich Wasser ins Gesicht, doch davon wurde es eher schlimmer als besser. Auch wenn er sich nicht erinnerte, jemals krank gewesen zu sein, kam es ihm vor, als würde er fiebern. Ihm blieb immer noch Kev, Kev war Wachs in seiner Hand und würde das immer sein, ein williges Spielzeug bis zu dem Moment, in dem Tymur ihn zerstören würde – es half nichts, auch Kev gehörte Tymur nur so lange, wie der Alkohol reichte. Er war verloren, er hatte verloren, es war an der Zeit, sich das einzugestehen, und dann so viele wie möglich mitzunehmen, wenn er unterging –
Hinter sich hörte Tymur Schritte, dann fiel ein Schatten auf ihn. Lorcan musste ihm gefolgt sein, kam, um sich zu entschuldigen, und nun war es an Tymur, ihn am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Tymur setzte ein Lächeln auf und drehte sich langsam um. Es konnte nur Lorcan sein, es war niemand anderes da, Kev war nicht einmal mehr in der Lage zu stehen … Aber es war nicht Lorcan, der da stand, und es war auch nicht Kev. Der Mann, hinter dessen Rücken sich rot der Nebel zusammenballte wie eine Faust, war Damar.
Tymur starrte ihn an. Ihm war immer noch schwindelig, sein Kopf fühlte sich so leicht an, als wollte er ihm gleich davonfliegen, und doch behaupteten seine Augen, dass er ihnen trauen konnte, dass es kein Traum war und auch kein Fieberwahn. Es war so lange her, dass er Damar das letzte Mal getroffen hatte, damals, als sie beide noch kleine Jungen waren. Der Damar, der jetzt vor ihm stand und auf ihn hinunterblickte, war ein junger Mann, damals wie heute so alt wie Tymur. Er hatte immer noch die schwarzen Haare, die ihm lang bis über die Schultern hingen, und er war in die fließenden Gewänder eines Alfeyn gekleidet, wie er sie auch als Junge getragen hatte. Es gab keinen Zweifel. Es war Damar.
Als er ein Kind war, hatte Tymur keine Fragen gestellt. Damar war wirklich, wie sonst hätte Tymur wissen sollen, wie der aussah? Zwar gab es viele Bilder von Damar, Statuen und Wandbehänge, Illustrationen und Gemälde, alle lang nach Damars Tod angefertigt, doch keines von ihnen zeigte Damar als Kind: Nur von Damar selbst konnte Tymur es wissen. Jetzt, als Erwachsener, fühlte Tymur die gleiche Verwandtschaft zwischen ihnen, mehr als mit jedem seiner Brüder und selbst als mit seinem Vater. Hinter Damars Augen lag eine Leere, die Tymur teilte, immer schon geteilt hatte, immer teilen würde. War dieser Damar wirklich? Er war wirklich für Tymur. Sie waren beide wirklich.
»Kennst du mich noch?«, fragte Damar, dann ließ er sich sanft zu Boden gleiten mit der Anmut, die Tymur selbst irgendwo unterwegs verloren haben musste, und setzte sich im Schneidersitz hin, so wie sie beide als Kinder gesessen hatten.
»Wo bist du gewesen?«, fragte Tymur. »Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.« Das Rauschen in seinem Kopf ließ nach. Selbst der Nebel ringsum schien zu verschwinden, als wäre er nur die Einbildung eines schummrigen Verstandes gewesen. Wo Damar war, wurde die Welt klar, als wäre eine Sonne aufgegangen.
Damar lächelte. »Ich war immer bei dir, weißt du das nicht? Ich bin ein Stück von dir. Aber irgendwann hattest du mich nicht mehr nötig.«
Tymur erwiderte das Lächeln, kühl und fern. Es war gut, sein Lächeln zurückzuhaben. »Und warum bist du jetzt hier? Werde ich sterben?«
Amüsiert schüttelte Damar den Kopf. »Warum solltest du? Kommst du nicht auf die Idee, dass du wahnsinnig wirst?«
»Aber ich bin schon längst wahnsinnig«, antwortete Tymur. »Ich weiß das. Es stört mich nicht.«
»Dann denkst du, ich bin auch wahnsinnig?«, fragte Damar. »Oder ich war es?«
Tymur zuckte die Schultern. Vielleicht waren sie es beide. Was Tymur wusste, war, dass er besessen war – von einem Dämon? Oder von Damar? Wollte er das wissen?
»Ich bin ebenso wenig wahnsinnig wie du«, sagte Damar. »Es ist die Welt, die den Verstand verloren hat.« Er neigte seinen Kopf, beugte sich vor und flüsterte: »Willst du mein Geheimnis hören?«
Tymur nickte. »Kenne ich das nicht schon längst?« So viel hatten sie geflüstert, damals …
»Ich habe sie getötet«, sagte Damar. »Jeden einzelnen von ihnen. Meine Gefährten –«
»Alle fünf, ich weiß.« Tymur war enttäuscht. »Das weiß ich doch schon längst.«
Damars Lächeln wurde breiter. »Ich habe es gerne getan«, sagte er. »Weil ich es konnte. Du tötest auch gern. Ich weiß das. Du hast es von mir.« Er lachte leise. »Wessen Wort hatte die Welt, dass sie besessen waren? Doch nur meines. Sie waren besessen, und sie mussten sterben. So einfach kannst du es dir auch machen.«
»Und Ililiané?«, fragte Tymur vorsichtig. Er wusste nicht, wie er seinem Freund beibringen sollte, dass er Ililiané getötet hatte – wenn der das nicht bereits wusste.
»Ililiané hätte alles für mich getan«, erwiderte Damar. »Und irgendjemanden muss man immer auch am Leben lassen. Wen wirst du am Leben lassen, Tymur?«
Tymur zuckte die Schultern. »Ich weiß es noch nicht«, antwortete er. »Erst einmal mich selbst, denke ich. Wenn du mir hilfst.«
Damar nickte. »Dafür bin ich hier. Dies ist meine Welt. Hier bin ich wirklich, zumindest für dich. Ich kenne jeden Stein, den der Nebel berührt hat, jedes Stück Straße über und unter den Bergen. Ich werde dich führen, wenn du mir vertraust.«
»Wohin denn?«, fragte Tymur.
»Wenn du mir vertraust«, antwortete Damar, »dann stellst du keine Fragen.« Vor Tymurs Augen begann er langsam zu verblassen. Aber Tymur konnte es fast fühlen, wie Damars Schemen, nur ein Hauch, in ihn hineinfuhr und sein Atem wurde. Wie früher. Wie immer. Tymur brauchte keinen Lorcan mehr und keinen Kev. Er hatte etwas Besseres. Er hatte Damar.
Tymur wünschte es sich, und Damar kehrte zurück – er wurde wieder sichtbar, doch in sich konnte Tymur seine Anwesenheit immer noch fühlen. Es war gut. Eben noch hatte er geglaubt, allein zu sein – jetzt verstand er, dass er das niemals gewesen war. »Bleib«, sagte Tymur. »Ich vertraue dir. Kannst du mich nach Hause bringen?«
»Hast du denn ein Zuhause?«, fragte Damar.
»Neraval«, antwortete Tymur. War das ein Zuhause? Er wusste es nicht. Wie fühlte sich ein Zuhause an? »Ich gehöre nicht hierher.«
Damar lachte leise. »Das habe ich auch einmal gedacht«, sagte er. »Aber du und ich, wir können uns jeden Ort der Welt zu eigen machen. Was fehlt dir an Neraval? Eine Familie, die dich niemals verstanden hat? Ein Vater, dessen Macht niemals deine sein wird? Willst du wirklich dorthin zurück?«
»Neraval ist voller Menschen«, antwortete Tymur. »Ich mag es, Menschen um mich zu haben. Sie geben mir das Gefühl, lebendig zu sein.«
»Indem du sie tötest?«, fragte Damar. »Leben ist Überleben, meinst du das?«
Tymur blickte zu Boden. »So viele habe ich noch nicht getötet«, murmelte er, und plötzlich kam er sich neben Damar klein vor. Als Kinder waren sie einander ebenbürtig, doch nun, als Männer, war Damar der große Held, an dessen Händen das Blut seiner Gefährten klebte und das von Horden von Dämonen, und alles, was Tymur vorzuweisen hatte …
»Darauf kommt es nicht an.« Damar streckte die Hand aus und legte sie langsam auf Tymurs Schulter. »Die Richtigen töten, darum geht es. Jeder kann eine Ameise zertreten.«
Tymur nickte und schloss die Augen. Er wollte gerne glauben, dass dies alles gerade wirklich passierte, aber dafür war er zu klug. Damar war tot, und das in allen Welten. Tymur sah ihn, weil er ihn sehen wollte. Es war nur Einbildung. Er konnte versuchen, sich daran festzuhalten, so lang er konnte. Aber wirklich wurde es davon nicht –
»Komm mit«, sagte Damar und lächelte ihn an. »Ich werde dir etwas zeigen.« Er reichte Tymur seine Hand, und Tymur nahm sie.
Für einen Augenblick schien sich der Nebel zu heben, hüllte sie ein wie eine Wolke, dann war es schon wieder vorbei. Der Himmel war klar, die Nacht vorüber. Tymur stand immer noch am Ufer des Sees, und neben ihm stand immer noch Damar, und auch das Dorf lag noch genauso da wie zuvor, aber Tymur wusste sofort, was anders war. Die Welt war nicht mehr versteinert.
»Vertraust du mir?«, fragte Damar.
Tymur lachte. »Wenn nicht, wäre es jetzt wohl zu spät … Wo sind wir hier? Ist das deine Zeit?« Sein Herz hämmerte vor Aufregung. Wenn dies der Lohn dafür war, Ililiané getötet zu haben, hätte Tymur schon viel früher mit dem Morden anfangen müssen …
»Du hast mich an deinem Leben teilhaben lassen«, sagte Damar. »Du hast mir den Niedergang meines Hauses gezeigt, an dem du von allen meinen Erben nur die geringste Schuld trägst – jetzt kann ich mich revanchieren. Willkommen in meiner Welt.«
»Was ist dies für ein Ort?«, fragte Tymur. Traute er Damar? Nur so weit, als dass ein Fieberwahn nicht versuchen würde, ihn zu ermorden – solange er sich selbst noch trauen konnte, traute er auch Damar. »Ich dachte, du hast in Ailadredan in der Stadt gelebt«
»Ich war an vielen Orten«, erwiderte Damar. »Dort war ich als Kind, aber als ich größer wurde, haben die Alfeyn mich hierhergeschickt. Hier konnte ich mich nützlich machen. In der Stadt haben sie mich bestaunt, aber man kann sich nur soundso lange anstarren lassen, bis es anfängt, lästig zu werden. So kam ich hierher.«
»Hat dieses Dorf einen Namen?«, fragte Tymur. »Oder die Stadt?«
Damar schüttelte den Kopf. »Dies ist Ailadredan«, sagte er. »Braucht das Teil einen Namen, wenn das Ganze schon einen hat?«
»Woher stammt der Name?« Tymur musste lächeln. Es erklärte, warum Damar später Burg, Stadt und Land den gleichen Namen gegeben hatte.
»Das Land heißt schon immer so«, antwortete Damar. »Es ist älter als die Alfeyn, älter als alles, als jede andere Welt, und selbst die Menschen, die jedem Vogel im Käfig und jeder Ziege am Pflock einen eigenen Namen geben müssen, haben akzeptiert, dass Ailadredan Ailadredan ist. Es ist ein schönes Land. Ich war gerne hier.« Er bedeutete Tymur, ihm zu folgen, am Ufer entlang, nicht zurück zu den Häusern, sondern dorthin, wo der See die Berge berührte.
»Warum bist du dann nicht geblieben?«, fragte Tymur. »Die Menschen haben dich schlecht behandelt, und je mehr von ihnen ich kenne, desto weniger waren sie es wert, dass du dein Leben für sie riskiert hast. Haben die Alfeyn dich fortgeschickt?«
Damar lachte leise und ging etwas schneller. »Warst du noch nie rastlos?«, fragte er. »Muss ich dir sagen, wie es ist, sich weiterzuentwickeln in einer Welt, die stillzustehen scheint? Bist du nie auf die Idee gekommen, andere zu suchen, die so sind wie du?«
Tymur zuckte die Schultern. »Ich weiß, dass niemand ist wie ich«, erwiderte er, »und ich bin froh darüber. Würde ich mir begegnen wollen? Lieber nicht.«
»Warum sind wir dann Freunde geworden?«, fragte Damar. »Wenn nicht, weil wir uns ähnlich sind?«
Tymur blieb stehen. Für einen Augenblick war es wieder da, dieses schwindelige Gefühl. »Weil ich immer wusste …«, fing er an und brach ab. »Wohin führst du mich?«, fragte er stattdessen. »Willst du mir nicht das Dorf zeigen, mich den Alfeyn vorstellen? Was ist hier geschehen, dass hier alles zu Stein geworden ist? Warst du dabei?«
Ohne stehen zu bleiben, deutete Damar auf eine schattige Stelle am Berg zu ihrer Rechten – es konnte ein Höhleneingang sein, aber ebenso gut ein Portal. »Der Grund, warum ich hier war«, sagte Damar. »Den will ich dir zeigen. Es ist auch der Grund, warum dieses Dorf zerstört wurde. Komm mit mir.«
Es war eine Höhle, oder mehr als das: Je näher sie kamen, desto mehr sah der Eingang aus wie etwas, das künstlich in den Fels gehauen worden war. Die Öffnung war zu sauber, die Wände zu gerade, um natürlich entstanden zu sein, und Symbole waren ringsherum in die Felswand geprägt. Ein wenig schien die Luft dort zu flimmern, das war es, was Tymur an ein Portal hatte denken lassen – aber man konnte sehen, wie ein dunkler Gang in den Berg hineinführte.
»Was ist das?«, fragte Tymur. »Ein Tunnel? Ein Heiligtum? Ein Bergwerk?«
Damar berührte die Wand nahe dem Eingang, und ein silbriges Licht vertrieb die Dunkelheit. Jetzt konnte man sehen, dass die Wände wirklich behauen waren, dass der Gang nicht mit Magie vorangetrieben worden war, sondern mit echten Werkzeugen, echter Arbeit. »Du wirst es sehen«, sagte er. »Vielleicht ein Bergwerk. Vielleicht ein Heiligtum.«
Er nahm Tymur bei der Hand und zog ihn tiefer in den Berg. Ein eisiger Luftzug kam ihnen entgegen, der Tymur frösteln ließ. Der Tunnel führte sanft bergab, und sein Boden wurde feucht vom Grundwasser, dass ihre Füße durch Pfützen platschten und der Hall ihre Schritte weit in den Berg hineinzog. An einer Stelle blieb Damar stehen und fuhr mit der Fingerspitze über das Gestein, wo tiefe Furchen verrieten, dass etwas mit Gewalt herausgekratzt worden war.
»Hier«, sagte er. »Fass es an. Spürst du die Kälte?«
Für keinen anderen hätte Tymur einfach so die Handschuhe ausgezogen, aber mit Damar war es etwas anderes. Er legte die Handfläche auf den Stein, und jede Zelle seines Körpers kribbelte von einer Macht, die Tymur bereits kannte. »Das ist … ist das Eissilber?«, fragte er.
Damar nickte. »Das Geheimnis dieser Berge«, sagte er. »Von außen nicht von anderen zu unterscheiden, hüten sie in sich einen Schatz, der den Tod bringt. Siehst du die Riefen? Das war ich. Hier habe ich das Erz herausgekratzt mit meinen eigenen Händen.«
»Für dein silbernes Schwert«, flüsterte Tymur.
»Die Alfeyn und die Dämonen fürchten Eissilber aus dem gleichen Grund«, sagte Damar. »Es kann sie verwunden. Und aus dem gleichen Grund begehrten beide diesen Berg. Eissilber ist selten. Menschen verstehen nichts davon. Für Menschen ist es wertlos – ein Stein reicht aus, um dich zu erschlagen, ein Stock, wenn es sein muss, eine Handvoll Scherben. Eissilber ist schwer zu schmieden, es ist nicht so hart wie Stahl, es bricht zu leicht – ein Menschenleben dauert so wenige Jahre, und doch wollen sie Waffen, die für die Ewigkeit gemacht sind. Eine Waffe aus Eissilber hält nur, solange man sie braucht.«
Tymur schluckte. Er mochte die Vorstellung nicht, dass sein Stilett zerbrechen konnte und er ohne dastand – aber natürlich, noch brauchte er es. »Wie dein Schwert«, sagte er. Die Legende erzählte, dass es zersprungen war, als Damar das Herz des Dämons durchbohrte, aber was war schon eine Legende? So oder so waren Schwerter unpraktisch, und es war Tymur lieber, dass dieses Stilett all die Jahre überdauert hatte. Das Schwert hätte er niemals nach Ailadredan schmuggeln können.
»Du hast gefragt, was mit diesem Ort passiert ist«, sagte Damar. »Kannst du es dir nun denken?«
»Die Dämonen hatten es auf das Eissilber abgesehen.« Tymur blickte Damar fragend an. »Aber warum ist dann alles hier versteinert? Das verstehe ich nicht. Wenn an einem Ort die Waffen waren, um es mit den Dämonen aufzunehmen, dann hier.« Er spürte nie etwas von dem Dämon in seinem Herzen, bis auf das Wissen, dass der da war, aber jetzt bildete er sich ein, dass er zusammenzuckte. Wie viel Eissilber lag noch in den Tiefen dieses Berges? »Hast du den Angriff miterlebt? Bist du darum gegen die Dämonen ausgezogen?«
Damar lachte leise. »Und du denkst immer noch, dass es mir wirklich um die Dämonen ging?« Er fuhr mit der Hand die Wand entlang, während er tiefer in den Tunnel stieg. »Sind Dämonen für dich Meister des Steines? Was du hier siehst, ist das Werk von Alfeyn. Ililiané ist nicht die Einzige, die dem Stein gebieten kann. Das war die Art der Alfeyn zu verhindern, dass die Dämonen dieses Tal erobern.« Er gluckste. »Und da habe ich verstanden, dass sie alle gleich sind. Menschen, die ihre Kinder opfern. Alfeyn, die ein ganzes Tal zu Stein machen, immer aus Angst vor etwas, das sie für böse halten. Zeig mir das Werk eines Dämons, und ich sage dir, wer es wirklich war.«
Langsam zog sich Tymur den Handschuh wieder an. »Du bist nicht wirklich Damar, nicht wahr?«, sagte er. »Du willst, dass ich das denke, aber in Wirklichkeit bist du er.« Er deutete auf sein Herz.
Ohne sich umzudrehen, ging Damar weiter. »Wenn es das ist, was du denkst«, sagte er, und seine Stimme begann zu hallen, »ist das deine Sache. Deine Gedanken gehören dir selbst, oder wem auch immer, aber nicht mir. Aber meinst du, dass er das nötig hätte? Gehorchst du ihm nicht schon so?« Je weiter er sich entfernte, desto durchscheinender schien er zu werden.
»Warte!«, rief Tymur. »Geh nicht! Aber … was soll ich machen? Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, wem ich trauen kann – nicht einmal meine Gefährten machen noch, was ich von ihnen will, und du – ich will so gerne glauben, dass du bist, wer du sagst, nur, wie soll ich?«
Aus der Tiefe des Ganges stieg Damars Lachen auf, dann drehte er um und kehrte zu Tymur zurück. »Wenn ich es dir sage, scheint es dir nicht zu reichen«, sagte er. »Aber wenn wir jemanden fragen, der mich kennt? Was meinst du dann?«
»Wen denn?« Tymur deutete um sich. »Hier ist niemand. Die Mine ist verlassen, das Dorf ebenso –«
»Das Dorf ist nicht verlassen«, antwortete Damar. »Nicht jetzt, zumindest. Hast du das schon vergessen? Ich habe dich in meine Welt mitgenommen. Denkst du, in meiner Welt wäre ich ganz allein? Ich würde den Verstand verlieren, wenn ich niemanden zum Reden hätte. Ich wollte dir nur das hier zuerst zeigen. Damit du verstehst, was mit dem Dorf geschehen ist – oder, von diesem Augenblick aus gesehen, noch geschehen wird.«
Tymur nickte und schluckte. »Dann tu das«, sagte er und setzte hinzu: »Wenn du den Leuten hier erklären kannst, wer ich bin und wo ich plötzlich herkomme. Sie werden nicht mit noch mehr Menschen rechnen, fürchte ich.«
»Lass das meine Sorge sein.« Damar reichte ihm wieder die Hand. »Du musst mir nur versprechen, dass du nichts anrührst, nichts zerstörst, und vor allem keinen von ihnen tötest.« Sein Blick verriet, dass er genau wusste, was Tymur getan hatte, aber er sagte immer noch nichts dazu.
Hand in Hand verließen sie den Tunnel, wanderten am See entlang, dorthin, wo die Häuser lagen. Auch wenn es nicht mehr versteinert war, blieb das Dorf still. Alfeyn machten keinen Krach, rannten nicht herum, und wenn sie arbeiteten, dann machten sie kein großes Aufhebens darum. Auch ihre Häuser waren so klein und grau wie zuvor. Aber der große Baum in der Mitte des Dorfes war eine Überraschung. Tymur hatte erwartet, ihn voll Laub wiederzufinden, so saftig grün, wie das Gras unter seinen Füßen nun wuchs, doch der Baum war nicht grün. Er war golden, nicht wie die Bäume im Herbst golden wurden, sondern so golden wie die Sonne, dass es Tymur blendete, ihn anzuschauen. Er blinzelte und musste sein Gesicht mit der Hand abschirmen.
»Was ist?«, fragte Damar. »Warum bleibst du stehen?«
»Dieser Baum«, sagte Tymur. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Weißt du nicht, was Ailadredan heißt?« Damar schüttelte den Kopf. »Ihr werft mit Namen um euch und habt keine Ahnung von ihnen. Hast selbst einen Namen und weißt nicht, was er bedeutet, oder meiner – in Ailadredan haben die Namen einen Sinn. Ailadredan ist das Land der Sonnenbäume.«
Durch gespreizte Finger starrte Tymur den Baum an. »Ich habe Wochen in Ailadredan verbracht«, sagte er. »Und bis auf diesen hier habe ich nichts gesehen, was auch nur entfernt wie ein Baum aussah, geschweige denn wie die Sonne. Gibt es auch so einen in der Stadt? Unten, wo man uns nicht hingelassen hat?«
»Natürlich«, antwortete Damar. »Betrachte dich als geehrt, dass du ihn hier sehen darfst, und erzähl es nicht herum. Die Menschen sollen Ailadredan ruhig weiter als Nebelreich kennen. Wenn mehr Leute von den Sonnenbäumen erfahren, hätte hier niemand mehr seine Ruhe. Dieser hier … In deiner Zeit ist kein Leben mehr in ihm. Du kannst ihm nichts mehr tun. Aber jetzt rühr ihn nicht an und komm weiter. Ich nehme dich mit zu meinem Haus.«
Er zog Tymur mit sich, quer durch das Dorf, vorbei an Häusern, hinter deren Fenstern sich etwas zu bewegen schien. Tymurs Augen tränten noch vom Anblick des Baumes, und das schwirrende Gefühl in seinem Kopf war wieder da. Doch nichts davon übertraf das Gefühl in Tymurs Herz, diese Aufregung, etwas sehen zu dürfen, das nicht für menschliche Augen bestimmt war, ein Wissen, das ihm niemals wieder jemand würde wegnehmen können. Es war fast schade, dass die Alfeyn den Baum mit dem Rest versteinert hatten … Tymur schüttelte sich. Was war das, Mitleid? Mit einem Baum? Ihm war schwindelig.
Das Haus, vor dem Damar am Ende stehen blieb, war am Rand des Dorfes gelegen, und nichts an ihm verriet, dass hier der größte Held aller Zeiten gelebt hatte – wenn überhaupt, wirkte es kleiner als die anderen und armseliger, die Tür hing schief in den Angeln, und hinter den Fenstern war es dunkel. Damar klopfte an, dann trat er einen Schritt zurück, und Tymur sah zu, dass er im Schatten seines Freundes blieb. Er wusste nicht, was ihn erwartete, doch die Bewohner wussten es noch weniger.
Ein Alfeyn öffnete die Tür. Er wirkte alt, wo alle anderen alterslos waren, und das Lächeln, das ihm ins Gesicht stieg, als er Damar vor sich sah, ließ ihn fast menschlich erscheinen in seiner Lebhaftigkeit.
»Damar!«, rief er. »Da bist du zurückgekehrt!«
Damar nickte und verneigte sie. »Tharonitealis, ich habe nur Zeit für einen kurzen Besuch, aber du erinnerst dich, was ich dir versprochen habe – dass ich nicht für immer gehen würde.«
Hinter Tharonitealis erschien eine zweite Person in der Tür, eine Alfeyn, ebenso alt, ebenso erfreut, und der erste Hinweis darauf, dass Alfeyn vielleicht doch so etwas wie Familien bildeten, dass es Paare oder zumindest Freunde gab.
»Sirinitalé, schau! Unser Menschenkind ist zurück!«
Damar lachte auf eine Weise, die ihn jünger erscheinen ließ. »Heute werde ich euch nicht lange zur Last fallen. Ich habe Tymur mitgebracht, meinen Freund und Bruder, und versprochen, ihm alles zu zeigen, wo ich gelebt und gearbeitet habe.«
Die Alfeyn schienen nicht im geringsten überrascht, dass Damar einfach so andere Menschen anschleppte – vielleicht, weil es eben Damar war, aber vielleicht auch, weil sie noch kein Falsch kannten, noch kein Misstrauen gelernt hatten.
»Die Mine liegt still, seit du gegangen bist«, sagte Sirinitalé. »Bist du sicher, dass du uns nicht doch noch einmal deine Arme leihen möchtest?« Sie baten ihn nicht herein, und Tymur versuchte, durch die offene Tür ein bisschen vom Haus zu erkennen – es half nicht viel, es blieb schummrig, und das, was Tymur sehen konnte, war unspektakulär. Er hatte den Baum gesehen, reichte ihm das nicht?
»Ganz sicher«, antwortete Damar. »Ich werde anderswo gebraucht, und meine Arme tragen heute andere Lasten. Das Erz ist so gut wie erschöpft. Habt ihr dafür gesorgt, dass sich das herumspricht, wie ich es euch aufgetragen habe?«
Die beiden Alten nickten, doch ihre Gesichter erschienen besorgt. »Das haben wir, aber wir fürchten, die Nachrichten reisen nicht schnell genug. Die Unerwünschten werden sich unser Dorf holen, und es gibt nichts, das wir dagegen tun können.« Sie rückten enger zusammen, und Tymur konnte nicht einmal mehr sagen, wer von beiden gesprochen hatte, er fühlte ihre Stimmen mehr in seinem Kopf, als dass sie aus ihren Mündern zu kommen schienen.
Damars Lächeln gefror. »Seid unbesorgt«, sagte er. »Der Hochfürst würde das niemals zulassen. Ihr habt nichts zu befürchten von den Unerwünschten.« Er atmete durch. »Ich sagte ja, ich kann nicht lange bleiben. Tymur hat noch viel zu sehen, ehe ich ihn in seine Welt zurückbringe.«
»Es ist schön zu wissen, dass es dir gutgeht«, sagte Tharonitealis, und Sirinitalé setzte hinzu: »Und noch schöner, dass du Freunde gefunden hast, so weit in der Fremde.«
Damar nickte. »Es ist keine Fremde mehr, wenn man Freunde hat«, sagte er. »Das habe ich bei euch gelernt, und ich nehme es mit, wo immer ich hingehe.« Er wandte sich zum Gehen und zog Tymur mit sich. »Lebt wohl, meine Freunde. Und fürchtet euch nicht.«
Damars Schritte waren schnell und lang, sein Gesicht grimmig, als sie sich wieder auf den Weg in Richtung Ufer machten. Endlich ließ er Tymurs Hand los, und Tymur war froh darüber, sein Griff hatte inzwischen etwas von einem Schraubstock. Erst am Ufer des Sees blieb Damar wieder stehen. »Danke, dass du nichts gesagt hast«, sagte er. »Ich hätte nicht zu ihnen gehen dürfen – ich hätte sie so gern gewarnt, aber ich habe es nicht über mich gebracht – es ist geschehen. Ich kann diese Zeit nicht mehr ändern.«
»Das war das Werk des Hochfürsten?«, fragte Tymur leise.
Damar schüttelte den Kopf. »Seine Entscheidung«, sagte er. »Sein Auftrag. Aber nicht sein Werk.« Er blickte hinaus auf das Wasser. »Du wolltest wissen, warum ich Ailadredan verlassen habe – das war der Grund. Ililiané hat mich begleitet. Sie hat sich dem Befehl des Hochfürsten widersetzt. Es war egal. Die anderen haben ihn ausgeführt.« Er schwieg eine Weile. »Ich war hier glücklich, weißt du?«
Tymur antwortete nicht. Glücklich, das war nur ein Wort. Er konnte sich zu wenig darunter vorstellen, und es störte ihn, dass es Damar anders erging – waren sie nicht aus einem Holz geschnitzt? Er gönnte es Damar, so war es nicht. Aber das, was er sagte – es erklärte Dinge. Warum sich Ililiané nach ihrer Rückkehr von ihrem Volk abgeschottet hatte, sich lieber einen Turm gebaut, wie ihn die Menschen hatten … Zum ersten Mal tat Tymur leid, was er getan hatte. Vielleicht. Ein kleines bisschen.
»Glaubst du mir jetzt?«, fragte Damar. »Dass wahr ist, was ich sage – dass ich Damar bin?«
Tymur nickte langsam. »Danke«, sagte er. »Es ändert nichts mehr, natürlich. Aber trotzdem, danke. Denkst du, ich kann auch Ililiané noch einmal treffen?«
Damar lachte auf. »Sie? Ganz sicher nicht. Das Anrecht hast du dir verwirkt.«
»Und die anderen?«, fragte Tymur weiter. »Was ist mit denen?«
»Welche anderen?« Damar verzog das Gesicht.
»Deine Gefährten«, sagte Tymur. »Die würde ich gerne einmal kennenlernen.«
»Meine Gefährten?« Damar blickte ihn irritiert an. »Warum solltest du? Sie sind tot.«
»Du bist auch tot«, erwiderte Tymur. »Und doch sind wir beide hier.«
»Ich lebe in dir weiter.« Damar lächelte. »Die anderen … sie sind tot für immer. Und wozu brauchst du sie? Reiche ich dir nicht aus?«
Tymur schüttelte den Kopf. »Ich wüsste gerne, wie sie waren. Ob man sie vergleichen kann mit den amüsanten Trotteln, mit denen ich mich herumschlage. Und dann frage ich mich, was dir schwerer gefallen ist …« Tymur zögerte, ehe er es aussprach. »Sie zu töten – oder sie so lange am Leben zu lassen.«
Damar hob einen Stein auf und ließ ihn über den See hüpfen, fünfmal, ehe er unterging. »Und wen von ihnen würdest du dann treffen wollen?«
»Valier«, antwortete Tymur. »Ich will wissen, warum er der Erste war, der sterben musste.«
»Valier!« Damar lachte, hob den nächsten Stein auf und warf ihn ins Wasser. »Da geht es schon los. Er! Ihr Name war Valya.«
»Und sie hatte sich als Mann ausgegeben?«, fragte Tymur. Jetzt fing es an, interessant zu werden …
»Warum hätte sie das tun sollen?« Damar schüttelte den Kopf. »Sie war eine Frau. Sie hieß Valya. Sie musste sterben. Warum sie als ein Mann in die Geschichte eingegangen ist? Frag meine Erben.« Damar lächelte. »Sie konnten, sie mussten akzeptieren, dass ich die Männer umgebracht hatte, selbst wenn das große Helden waren – aber nichts, keine Besessenheit der Welt, konnte sie hinnehmen lassen, dass ich eine Frau getötet hatte, und dann auch noch als Erstes. Arme Valya. So wurde sie zum Mann. Es hätte sie gestört, nehme ich an, aber was soll es, sie ist tot – dann kommt es auf ihren Namen auch nicht mehr an.«
»Und die anderen?«, fragte Tymur – dieses Feuer der Wissbegier, das hatte ihm gefehlt, zu lange. »Stimmen da die Geschichten? Waren wenigstens Isjur und Astol Männer? Mein Freund Lorcan, nehme ich an, wäre untröstlich, wenn nicht.«
»Oh, die anderen durften ihre Namen behalten, bis auf Sveta, natürlich.« Damar lachte und warf weiter Steine in den See. »Die Geschichte, wie Astol gestorben ist, die hat sich wirklich so zugetragen. Ich dachte, meine Legende kann etwas Tragik vertragen, und was gibt es Tragischeres als zwei Liebende, die selbst der Tod nicht trennen kann?«
»Für mich war das immer der beste Teil«, sagte Tymur. »Bis dahin klang das so, als ob alle tatenlos zugeschaut hätten, wie du ihre Freunde tötest – schöne Freunde waren das, ich denke, ich hätte es mit meinen nicht so leicht – Kev, natürlich, der würde vor Angst keinen Finger rühren, wenn ich Lorcan töte, aber umgekehrt, wenn ich jetzt versuchen würde, Kev auch nur ein Haar zu krümmen …« Sein Gehirn kribbelte, er mochte diese Vorstellung, er hatte schon oft mit ihr gespielt, doch gerade fühlte sie sich besonders reizvoll an. »War Astol wirklich der Einzige, der versucht hat, dich aufzuhalten? Und auch erst, als sein Liebster an der Reihe war?«
Damar zuckte die Schultern. Er hielt zwei Steine in den Händen und klopfte sie gegeneinander. »Astol war nicht dumm«, sagte er. »Er wusste, er ist der Nächste, so oder so. Denkst du, sie wollten wirklich ihre Leben Arm in Arm aushauchen? Oder hatte Astol nur solche Angst, dass der Dämon gleich in ihn fahren würde, dass er lieber vorher sterben wollte?«
»Dann war er wirklich ein Dummkopf«, erwiderte Tymur. »Ich bin deutlich lieber besessen als tot. Tatsächlich kann ich dir sagen, es ist gar nicht so schlimm, besessen zu sein.« Dann wartete er, ließ seine Worte in der Luft hängen, dass Damar sie nur zu pflücken brauchte – störte es den denn gar nicht, dass ausgerechnet sein Nachkomme jetzt dem Dämon, den er selbst besiegt hatte, anheimgefallen war? Zumindest der Teil der Geschichte sollte doch stimmen: Was immer man über Damar als Mensch sagen mochte, ob er ein großer Held war oder ein großer Mörder, er blieb derjenige, der La-Esh-Amon-Ri bezwungen hatte …
Doch Damar ging überhaupt nicht darauf ein. »Warum machst du dich nicht nützlich und suchst Holz?«, fragte er stattdessen. »Was meinst du wohl, was ich hier mache?« Er fuhr fort, Steine aufzuheben und in den See zu werfen.
»Du schmeißt mit Steinen«, antwortete Tymur. »Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber ich bin in der Zwischenzeit erwachsen geworden.«
»Schau genau hin.« Damar deutete auf das Wasser. Dort, wo er den letzten Stein hingeworfen hatte, trieb ein toter Fisch knapp unter der Oberfläche, man musste ihn nur herausangeln. Barfuß, wie er war, watete Damar in den See und hielt bald in jeder Hand einen Fisch. »Hast du keinen Hunger?«
»Ich habe noch nie gesehen, dass jemand auf diese Weise gefischt hätte«, sagte Tymur, und das war besser, als zuzugeben, dass ihm schlecht vor Hunger war. Er beeilte sich, am Ufer Brennmaterial zu sammeln – niedere Arbeit, die er sonst immer großzügig seinen Gefährten überlassen hatte, aber natürlich wusste er, wie das ging. Die Ausbeute an trockenem Holz war nicht groß, doch sie brauchten kein Feuer, das die ganze Nacht lang brennen sollte – es ging nur darum, zwei Fische zu braten, und dafür reichten selbst das Gras und Gestrüpp, das Tymur auftreiben konnte.
Dieser Damar hatte noch kein silbernes Schwert. Was er hatte, war ein Messer mit einer Klinge aus Stein, und damit nahm er die Fische aus, als gäbe es kein besseres Werkzeug. Er nahm auch Steine, um damit das Feuer anzuzünden, und Tymur versuchte, sich jeden Handgriff einzuprägen – irgendwo in ihm saß nicht nur ein Dämon, sondern auch ein kleiner Junge, der mit seinem Spielgefährten vereint war und begeistert davon, was der alles konnte. Wenn man versucht hätte, ihm solche Sachen beizubringen und nicht nur Etikette und Schwertkampf und Schönschrift, hätte aus Tymur vielleicht etwas anderes werden können …
Die Fische, gebraten über dem offenen Feuer, schmeckten köstlich, es hätten nur noch mehr sein können – Tymur war wirklich sehr ausgehungert, und sein Gaumen fand, dass er seit Wochen nicht mehr richtig gegessen hatte. Dass Damar selbst den anderen Fisch aß, störte Tymur, doch er sagte nichts. Wer wirklich genug war, um Fische zu fangen und zuzubereiten, war dann wohl auch wirklich genug, um Hunger zu haben. Und dass Tymur danach deutlich gesättigt war, überzeugte ihn endlich davon, es nicht nur mit einem Hirngespinst zu tun zu haben.
»Und nun«, sagte Damar, nachdem ihr kleines Feuer heruntergebrannt war bis auf ein paar glimmende Zweige, »was willst du?«
Tymur überlegte einen Moment. Ihm lag so vieles auf der Zunge, so vieles, das Damar ihm noch zeigen konnte – aber tatsächlich gab es nur eine Sache, die Tymur wirklich wollte. »Bring mich nach Neraval«, sagte er. »In meine Welt, zu meiner Zeit. Meinen nutzlosen Gefährten verdanke ich, dass ich hier jetzt festsitze – aber alles, was ich will, ist, nach Hause zu kommen.«
»Und dann?«, fragte Damar. »Was tust du dann?«
Tymur lächelte. »Dann geht der Spaß erst los«, antwortete er. Er ließ es so vage, mit Absicht – er wusste es nicht. Natürlich, es war leicht gesagt, dass er vorhatte, seine Brüder zu töten und zu guter Letzt seinen Vater, aber das war gar nicht so leicht; in der Menschenwelt konnte man nicht einfach Leute umbringen und denken, dass man damit durchkam. Das funktionierte nur bei den Alfeyn oder mit Menschen, die niemand vermissen würde.
Und so sehr Tymur die Vorstellung mochte, Macht zu haben – sein Vater hatte keine Macht. Sein Vater hatte nur einen Haufen Verwaltungsaufgaben, die er verachtete, und Adlige am Hals, die er ebenfalls verachtete, und hätte man ihn gelassen, er wäre hinter seinem Schreibtisch nicht mehr hervorgekommen und hätte sich ganz auf seine alten Bücher konzentriert. König sein war kein Vergnügen. Aber Tymur würde schon noch etwas finden, das ihm gefiel. Was in jedem Fall einfacher war, wenn zumindest die Brüder aus dem Weg waren. Also, erst einmal sehen.
»Ich will es wissen«, sagte Damar. »Immerhin soll ich dich dort hinbringen. Wenn du so sehr an Neraval hängst, warum bist du dann überhaupt hergekommen?«
»Ich hatte etwas in Ailadredan zu erledigen.« Jemanden. »Aber da ich das hinter mir habe …« Je weniger die Rede auf Ililiané kam, desto besser. »Bringst du mich nach Hause?«
»Ich kann es versuchen«, erwiderte Damar. »Es ist ein harter Weg durch die Berge, durch wildes, gefährliches Land, um zu einem Portal zu kommen, das nicht ständig bewacht ist. Und ich muss dir sagen, ich weiß nicht, ob du dem gewachsen bist. Du bist kein Jäger, kein Kämpfer, und deine goldene Zunge und schönen Augen werden dir hier draußen wenig nutzen. Ich denke, du bist zu schwach.«
Tymur schluckte. Aber was erwartete er? Diese Worte hatte er schon so oft gehört, sie sollten ihn nicht mehr schmerzen. »Ich kann es lernen«, sagte er hastig. »Du wirst es sehen. Ich bin wie du. Zeig mir, was zu tun ist, und ich tue es. Ich bin zäher, als ich aussehe.«
»Du willst wie ich sein?« Damar schüttelte den Kopf. »Du wärst vielleicht gern wie ich, aber du bist es nicht.«
»Ich beweise es dir«, sagte Tymur. »Ich bin mehr als nur dein Nachkomme. Ich bin wie du. Und ich werde da weitermachen, wo du es nicht mehr konntest. Ich zeige es dir. Versprochen.«
Damar lächelte nur leicht. »Mit Worten wirst du mich nicht beeindrucken«, sagte er. »Wenn du zeigen willst, dass du bist wie ich, weißt du, was du zu tun hast. Das, was ich auch getan habe.«
»Und das wäre?«, fragte Tymur, obwohl er es bereits wusste.
Damar reichte ihm seine Hand, und als Tymur sie nahm, war das Dorf hinter ihnen wieder versteinert. »Töte deine Gefährten.«