Ich musste sterben

Cameron: 38, 29. März 3264 Terrastandard
Beim Abbreviator Ungox Vierzehn, 11209 Lichtjahre von der Erde entfernt

39

Für einen Moment sah Cameron das Mädchen, das damals, vor mehr als dreißig Jahren, an Bord des Kanonenboots geweint hatte, stumm, ohne einen Laut von sich zu geben. Es sah ihn über die Kluft der Zeit hinweg an, mit großen türkisblauen Augen, die Farbe des Stechgrases von Uxor. Es existierte noch, das Kind, tief in Koras Erinnerungen und auch in seinen. Es lebte in einer gemeinsamen Vergangenheit.

Das rotblonde Haar war nicht mehr schulterlang, sondern kurz, und die Sommersprossen zeigten sich nicht mehr ganz so deutlich, sie schienen tiefer in eine rauer gewordene Haut gesunken zu sein. Es waren die Zeichen von Alter und Erfahrung: Vor Cameron stand kein Mädchen, sondern eine Frau, die viel gesehen und erfahren hatte.

Aber sie lächelte, diese Frau, und sie hob die Hand und berührte ihn an der Wange.

»All die Jahre habe ich dich für tot gehalten«, sagte Cameron.

»Ich musste tot sein«, erwiderte Kora sanft. »Ich musste sterben. Die Abteilung Neun wollte es so.«

»Und dann bist du zu Varro geworden?«, fragte er leise.

»Ja.«

»Warum?«

»Es musste geheim bleiben«, antwortete Kora. »Niemand durfte davon erfahren.« Sie ließ die Hand sinken.

»Die Erde«, sagte Cameron. »Ich bin dort gewesen, in einer Bibliothek. Bei einer Kunstausstellung. Ich dachte, ich hätte dich gesehen.«

»Das hast du.«

»Du bist wirklich dort gewesen?«

»Ja, das war ich. Aber ich konnte nicht mit dir sprechen, ich durfte dir nicht begegnen.«

Cameron schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. »Warum nicht?«

»Ich musste meine neue Identität schützen«, erklärte Kora. »Ich konnte sie nicht riskieren, das hätte meine Mission gefährdet.«

»All die Jahre …«, wiederholte Cameron. Das Sprechen bereitete ihm plötzlich Mühe, eine Trauer schwer wie Blei lag in jedem einzelnen Wort.

»Es tut mir sehr leid, glaub mir«, sagte Kora. Sie stand so nahe, dass er ihren Atem im Gesicht spürte.

»Und hier? Ich weiß jetzt, wer du bist.«

»Dies ist mein Schiff, und von nun an gehörst du zur Mission. Es ist jetzt unsere Mission.«

Cameron griff in eine Tasche seiner Uniformhose und holte einen kleinen Gegenstand hervor, der aussah wie eine silberne Münze: ein Memo-Medaillon. Als er mit dem Finger darüber strich, erschien sein Gesicht auf der einen und Koras auf der anderen Seite. »Ich bin bei dir«, sagte die junge Kora auf dem Medaillon leise, nur für ihn.

»Freunde für immer«, sagte der ältere Cameron.

»Du hast es noch«, freute sich Kora.

»Ich habe es immer bei mir getragen, jeden einzelnen Tag.« Selbst während meiner Zeit mit Myra, die dich nicht ersetzen konnte, fügte er in Gedanken hinzu.

Kora ergriff seine Hand. »Komm.«

Sie führte ihn in den Ruheraum, zu einem Bett, das eigentlich nur für eine Person bestimmt war.

Plötzlich lächelte sie wieder, nicht wie das Mädchen von Harkonia und Uxor, sondern wie die junge Frau vor über zwanzig Jahren. »Erinnerst du dich daran, was ich dir damals gezeigt habe, im Orbiter von Karunna?«

»Ich bin mir nicht sicher«, log Cameron. »Vielleicht habe ich es vergessen.«

»Dann muss ich es dir noch einmal zeigen«, sagte Kora und zog ihn zum Bett.

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»Nur wir sind übrig«, sagte Kora leise, als sie nebeneinander auf dem Bett lagen, so dicht, dass sich ihre Körper berührten, warm an warm. »Nur wir beide.«

»Ich habe zwanzig Jahre geglaubt, der einzige Überlebende von uns zu sein«, erwiderte Cameron. »Von uns Kindern auf Harkonia. Ein kleines Zeichen von dir, nur ein Wort …«

»Es ging nicht.« Kora drehte den Kopf und sah ihn an. »Es war unmöglich.«

»Ich bin nicht der Feind.«

»Natürlich nicht, Cam«, antwortete Kora mit ihrer sanften Stimme. »Aber der Feind ist unter uns, immer noch. Er trägt menschliche Masken.«

»Du meinst die Übernommenen?«

»Ja.«

»Ich gehöre nicht zu ihnen.«

»Nein, du nicht«, bestätigte Kora mit einem Lächeln.

»Ich dachte, wir hätten sie alle gefunden«, sagte Cameron. »Schon vor Jahren. Mit der Amygdala-Signatur konnten wir sie identifizieren.«

»Wir haben es geheim gehalten«, vertraute ihm Kora an. »Der Feind soll glauben, uns mit seiner verbesserten Tarnung überlistet zu haben, das ist Teil unserer Mission. Offenbar stahl er nur wenigen Menschen das Menschsein, um kein Aufsehen zu erregen. Die Übernommenen halten sich zurück, bis sie in entscheidenden Momenten Anweisungen von den Honta erhalten und dann entsprechend aktiv werden. Ein paar von ihnen haben sich dadurch enttarnt, aber es gibt sicher noch weitere.«

»Du meinst hochrangige Offiziere«, vermutete Cameron.

»Ja.«

»Im Oberkommando?«

»Ja.«

»Und im strategischen Korps.«

Kora nickte.

»Ich nehme an, ich werde keine Namen von dir bekommen.«

»Ich bin zu strengster Geheimhaltung verpflichtet.«

»Aber du hast mir bereits das eine oder andere verraten«, sagte Cameron.

»Weil du jetzt zu uns gehörst.« Kora legte ihm wie besitzergreifend die Hand auf die Brust.

Er musterte sie übertrieben kritisch. »Wer sagt mir, dass das hier kein Trick ist? Wer sagt mir, dass du nicht zu den Übernommenen gehörst?«

Ihre Finger wanderten nach unten und ergriffen ihn. »Würde eine Übernommene das tun?«

Cameron wuchs in ihrer Hand und fühlte sich leicht, fühlte Empfindungen, die bisher in seinem Leben gefehlt hatten. »Vielleicht willst du nur glaubhaft sein.«

»Wie kann ich dich überzeugen?«, fragte Kora.

Cameron zeigte es ihr.

 

In einem Schlaf, so tief wie seit Jahren nicht mehr, träumte Cameron von einem brennenden Himmel und dem Geruch von Feuer und Asche.

Er wankte durch ein Trümmerfeld, nicht als Junge, sondern als Mann, der den Krieg und seine Winde kannte. In der Linken hielt er ein Medaillon, das ihm sehr wichtig war, und in der Rechten eine verbrannte Hand, nicht die seiner Mutter, sondern Koras. Er starrte darauf hinab, das Gefühl des Verlustes so immens, dass er glaubte, davon zermalmt zu werden.

 

Als er erwachte, lag er auf dem Rücken, mit kaltem Schweiß auf der Stirn. Er atmete flach und blieb reglos liegen, um Kora nicht zu wecken.

Aber sie schlief nicht. »Du hast schlecht geträumt. Möchtest du mir davon erzählen?«

Es war nicht völlig dunkel im Zimmer. Etwas Licht kam durch die offene Tür aus dem Wohnraum des Quartiers mit seinem großen Fenster, durch das man den Abbreviator sehen konnte. Kora lag auf der Seite, ihm zugewandt, ihre Hüfte zeichnete sich unter der dünnen Decke ab.

»Ich bin auf Harkonia gewesen«, sagte er, ohne Einzelheiten zu nennen.

»So weit wir auch in die Zukunft gehen«, erwiderte Kora, »wir können unserer Vergangenheit nicht entkommen.«

»Die Zukunft …« Camerons Gedanken glitten in eine neue Richtung. »Steht sie fest? Unsere Zeit jetzt, diese Zeit, war einst die Zukunft für uns, für die Kinder von Harkonia. Hat sie damals schon existiert? Hätten wir sie geändert, indem wir einen anderen Weg beschritten hätten?«

»Du hast mit der Königin gesprochen«, sagte Kora. »Ich kenne die Berichte.«

»Harkonia und all die anderen Welten.« Cameron sprach leise ins Halbdunkel. »All die Menschen, die gekämpft haben und gestorben sind …«

»Unser Vater.«

»Grindel, ja. Und Oberon, Tjuscha, Melkom, Ganto, Qurek und Palmi. Ihre Bemühungen, ihr Leid, ihre Schmerzen … War alles umsonst?«

»Das sind gefährliche Überlegungen«, warnte Kora. »Vielleicht wollte dir die Königin genau diese Gedanken in den Kopf setzen.«

»Könnte sie recht haben?«, fragte Cameron. »Könnte der Krieg wirklich verloren sein? Werden wir ihn verlieren?«

»Wir haben ihn von den Generationen vor uns geerbt«, entgegnete Kora. »Wir setzen den Kampf fort, so gut wir können.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Aber das genügt vielleicht nicht.«

Die Bordsysteme der Sonora flüsterten wie ein leiser Wind im Wald. Die ewige Stille des Alls lag nur wenige Meter entfernt.

»Wir werden immer schwächer«, sagte Cameron. »Seit dem Vorstoß des Feindes in den Kern vor einigen Jahren mussten wir Dutzende von Welten in Zirkumferenz und Schale aufgeben. Es ist wie eine Schlinge, die sich um unseren Hals gelegt hat und die langsam zugezogen wird. Die strategischen Prognosen sehen nicht gut aus.« Und dann fügte er schnell hinzu: »Das ist streng vertraulich.«

»Ja, Cam, ich weiß und ich verstehe.« Koras Hand bewegte sich und berührte ihn wieder an der Wange. Der Kontakt brachte Wärme, aber nicht die von verbrannten Fingern. »Wir sind allein, niemand hört uns. Und zumindest wir müssen darüber sprechen können.«

Wir sind allein, wiederholte Cameron in Gedanken. Das Wir in dem Satz gefiel ihm. Wenn es ein Wir gab, wurde das Allein klein und unbedeutend.

»Was können wir tun«, fragte er, »damit die Generationen vor uns und auch wir selbst nicht umsonst gekämpft haben?«

»Ich kenne deine Berichte für Korps und Oberkommando«, sagte Kora. »Du hast selbst darauf hingewiesen: Wir müssen unsere Vorgehensweise überdenken. Wir brauchen neue Strategien. Wir müssen die Übernommenen in Schlüsselpositionen ausfindig machen, damit sie keinen Schaden anrichten können. Wir müssen herausfinden, was den Feind in die Lage versetzt, uns überraschend anzugreifen, ohne dass unsere Vorwarnsysteme im Fluidal und bei den Brücken reagieren.«

»Er kommt wie aus dem Nichts«, murmelte Cameron.

»Dazu brauchen wir die Königin«, sagte Kora. Ihre Hand lag jetzt auf seiner Brust. »Und wir brauchen dich. Sie ist bereit, mit dir zu sprechen. Vielleicht gelingt es dir auf Ophiucha, mehr herauszufinden. Wie werden die Honta synchronisiert? Können wir die Synchronisation irgendwie rückgängig machen? Es wäre leichter für uns, gegen einzelne, voneinander unabhängige Gegner zu kämpfen. Wie wird der Kontakt zu den bisher unentdeckt gebliebenen Übernommenen hergestellt? Können wir die Verbindung unterbrechen? Wie sehen die Pläne der Honta aus? Es wäre wundervoll, eine Antwort darauf zu bekommen!«

Cameron legte seine Hand auf Koras. Es fühlte sich gut an. »Für mich lauten die beiden wichtigsten Fragen: Kommt der Feind tatsächlich aus der Zukunft?« Er zögerte. »Und wenn Mrarl die Zukunft kennt: Wie konnte sie dann in Gefangenschaft geraten? Sie hätte wissen müssen, was passiert, und mit diesem Wissen ihre Gefangennahme verhindern können.«

Kora kam noch etwas näher und schenkte ihm ihre lebendige Wärme. »Der Krieg lässt uns nicht in Ruhe, nicht einmal hier.«

»Er ist immer bei uns«, sagte Cameron. »Wir können ihm nicht entkommen.«

Aber wir müssen nicht allein sein, dachte er, drehte sich auf die Seite und legte den Arm um Kora.

Plötzlich flutete helles Licht durch die halb offene Tür zum Wohnraum. Cameron kniff geblendet die Augen zusammen.

Einen Moment später kippte er zur Seite, als sich die lokale Schwerkraft veränderte.

Ein Heulen ging durch die Sonora , durchdrang Wände und Schotten.

Kora sprang aus dem Bett. »Wir werden angegriffen! Der Feind ist da!«