Erinnerer und Entartete

Cameron: 38, ∞
Im Zeitpalast

67

Am Ende der langen Treppe stieß Cameron auf weitere Knochen, offenbar die von Menschen, und als er einen von ihnen berührte, erwies auch er sich als spröde wie uraltes Pergament und zerbröckelte. Bei einigen Gerippen fand er Reste von Kleidung, mit verblassten Schriftzeichen, die er nicht entziffern konnte.

Er ließ erneut die mobile Sonde aufsteigen, bis zur Decke, die nur fünf oder sechs Meter hoch war und aus dunklen Bögen bestand. An den Wänden, schief und krumm, lehnten die Reste von Bauwerken. Cameron näherte sich ihnen und sondierte mit den Sensoren des Einsatzanzugs. Daten erschienen im Helmvisier.

Er sprach erneut für das Log. »Die Treppe war ziemlich lang, mehr als zweihundert Meter. An einigen Stellen fehlten Stufen, man braucht einen Gravitator, um die Lücken zu überwinden. Unten habe ich mehrere Bauwerke und Installationen unbekannter Art entdeckt. Offenbar haben sich hier Menschen für längere Zeit niedergelassen, aber vermutlich nicht auf Dauer, alles sieht provisorisch aus. Als Baumaterialien diente hauptsächlich Synth und Stahlkeramik. Viel ist nicht davon übrig, ein deutlicher Hinweis darauf, dass diese Hinterlassenschaften uralt sein müssen.« Er zögerte und sah sich um. »Ein Kampf scheint hier nicht stattgefunden zu haben. Es gibt keine Überreste von Honta, und nichts deutet auf den Einsatz von Waffen hin.«

Cameron verstummte, stand reglos und ließ die Stille eine ganze Minute lang auf sich wirken. Er glaubte, die Tiefe der Zeit zu spüren und in einen Jahrmilliarden tiefen Abgrund zu sehen.

»Ich frage mich, wie die Menschen damals hierhergekommen sind«, setzte er die Aufzeichnung fort. »Und auch die Honta. Wir wissen, dass der Zeitpalast der Kamaläa von den Denkern entdeckt wurde, aber sie behielten ihr Wissen für sich und haben die Fluidal-Koordinaten nicht weitergegeben, aus welchen Gründen auch immer. Wie sind Menschen und Honta hierhergelangt? Und was wollten sie hier? Was hat sie zu diesem Ort abseits von Raum und Zeit geführt?«

Er lauschte den eigenen Worten. Abseits von Raum und Zeit, dachte er. Verbarg sich darin eine Erklärung?

»Und was bringt Mrarl hierher?«, sagte er laut. »Welche Absichten verfolgt sie?«

Er starrte auf die menschlichen Knochen hinab, als erwartete er Antwort von ihnen, doch sie gaben nichts preis.

Das Helmvisier zeigte ihm noch mehr Daten.

»Offenbar gibt es eine Energiequelle in der Nähe«, sprach Cameron weiter. »Ich bezweifle, dass es sich nach so langer Zeit um einen von Menschen oder Honta installierten und noch aktiven Generator handelt. Wahrscheinlicher sind noch funktionierende Anlagen der Kamaläa.«

Er ging weiter, vorbei an den uralten menschlichen Knochen und den Resten von Behausungen. Die weiße Orientierungslinie war nach dem langen Sturz in die Tiefe aus dem Visier verschwunden. Cameron nahm an, dass er sich in der vieleckigen, mehr als hundert Kilometer durchmessenden Basis des Zeitpalasts befand, doch seinen genauen Aufenthaltsort konnte er ebenso wenig feststellen wie den von Mrarl.

Die Sonde unter der Decke folgte ihm durch einen schmalen, verwinkelten Tunnel, und wieder präsentierte das Helmvisier neue Daten. Die Temperatur stieg, ebenso der atmosphärische Druck. Die Luft enthielt weniger Ammoniak und Methan, dafür etwas mehr Sauerstoff, aber immer noch viel zu wenig für einen Menschen. Cameron sprach eine weitere Notiz für das Log und wies auf die veränderten ambientalen Bedingungen hin.

Anschließend unternahm er einen neuen Versuch, den Mikronauten an Bord des Angriffsjägers zu erreichen.

»Hudson?« Er erhöhte die Sendestärke. »Können Sie mich hören, Hudson?«

Diesmal blieb es nicht ganz still im Kommunikationslautsprecher. Cameron hörte ein Krächzen, das fast nach einer Stimme klang, jedoch wortlos blieb.

»Wenn Sie mich empfangen, Hudson – ich schicke Ihnen ein Peilsignal, damit Sie meinen Weg verfolgen können.«

Der schmale Tunnel wandte sich ein letztes Mal scharf zur Seite und führte dann in einen großen Raum mit einem Podest in der Mitte, weiß wie Alabaster, und einem weiteren größeren Tunnel auf der rechten Seite.

Vor dem Podest standen drei Gestalten, größer als ein durchschnittlicher Mensch, aber so zart und zierlich, dass sie den Eindruck erweckten, bei einer unachtsamen Bewegung zerbrechen zu können. Die dünnen Arme wiesen zwei Gelenke auf und endeten in Händen mit langen Fingern, die fast wie Tentakel wirkten. Die Köpfe waren haarlos, die Haut aus winzigen Schuppen halb transparent, man konnte Adern und Sehnen darunter erkennen. In den Gesichtern dominierten große Augen, blau wie Opal. Die Kleidung der drei Fremden bestand aus beigefarbenen Umhängen, an denen kleine Scheiben und Sechsecke aus Metall hingen wie Medaillen.

Die Sonde leuchtete über dem Podest, und ihr Licht spiegelte sich in den großen blauen Augen der drei Gestalten wider. Es waren keine Statuen, da war Cameron sicher. Sie wirkten auf eine seltsame Art und Weise lebendig.

Eine Sensorsondierung ergab keine biometrischen Daten, wohl aber Hinweise auf eine nahe energetische Anomalie.

»Für das Log und auch für Sie, Hudson, falls Sie mich hören«, sagte Cameron und trat langsam näher. »Die drei Figuren vor mir sind keine Bildnisse, da bin ich mir sicher. Sie sehen lebendig aus, doch die Sensoren registrieren keine Lebenszeichen.«

Wieder drang ein kurzes Krächzen aus dem Lautsprecher des Kommunikationssystems. Am rechten Rand des Helmvisiers blinkte ein rotes Warnsymbol.

Ein weiterer Schritt brachte Cameron noch etwas näher, und dabei spürte er, wie sich etwas seinen Bewegungen entgegensetzte. Er blieb stehen, in der rechten Hand noch immer den Variator, und streckte die linke langsam nach vorn.

Der Widerstand wuchs und wurde nach einem halben Meter so stark, dass er den Arm nicht weiter ausstrecken konnte. Ein Flimmern erschien vor den drei großen, zarten Gestalten, ein kurzes Wabern, das wieder verschwand, als Cameron die Hand zurückzog.

»Es sind Kamaläa, Admiral Cameron«, knarrte eine Stimme hinter ihm. »Sie zählen zu den Baumeistern des Zeitpalasts.«

68

Der Variator schwang wie von allein herum und richtete sich auf die Honta-Königin. Sie schien ein wenig größer geworden sein, die Fluoreszenz in den Augenringen heller, die Flügel wie bereit zum Flug. Mrarl wirkte erneuert und kräftiger.

Die vorderen Gliedmaßen richteten sich auf Cameron und vollführten dann kreisende Bewegungen. »Wie groß ist das Konstrukt, Mensch? Es ist riesig, so gewaltig, dass man es in vielen deiner Jahre nicht erforschen könnte! Und doch sind wir beide hier, an diesem besonderen Ort. Fragst du dich nicht nach dem Grund dafür?«

Die Atmosphäre war inzwischen dicht genug für die Übertragung von Schallwellen, und Cameron hörte Mrarls Stimme durch den Helm des Einsatzanzugs. Aber erstaunlicherweise klang sie auch aus dem Lautsprecher des Kommunikationssystems. Sie trug keine Kleidung, abgesehen von einigen Schlaufen und Bändern, die aus ihrem Panzer ragten. War es möglich, dass sie Geräte, Instrumente – und vielleicht auch Waffen – im Innern ihres Körpers verbarg?

»Nenn mir den Grund«, sagte Cameron.

»Es ist die große Geschichte, deshalb sind wir hier. Sie zieht uns an, sie will uns zu Protagonisten machen, kleiner Mensch, zu den Hauptfiguren eines wichtigen Kapitels.«

Das rote Warnsymbol im Helmvisier blinkte noch immer. Cameron begriff, dass es sich auf Mrarl bezogen hatte. Bedeutete es, dass eine Datenverbindung mit Hudson bestand, dass er Telemetrie und vielleicht noch mehr empfing?

»Was willst du damit sagen?«, fragte Cameron mit aktivem Kommunikationssystem, für den Fall, dass die Signale den Mikronauten erreichten.

»Kannst du diesen Ort verstehen, Mensch?«, knarrte Mrarl. »Kannst du deine Gedanken weit genug verbiegen, um das Nichtlineare dieses Ortes zu erkennen, ohne dass es dich innerlich zerbricht?«

»Ihr seid hier gewesen«, sagte Cameron, den Variator fest in der Hand. »Und wir Menschen auch. Es hat ein Kampf stattgefunden, ich habe die Toten gesehen, ihre Reste.«

»Mehr erkennst du nicht?« Mrarl kam näher, die Flügel halb ausgebreitet. Sie war langsam, bewegte ein Bein nach dem anderen, aber Cameron wusste, wie schnell Honta werden und wie gefährlich sie auch ohne Waffen sein konnten.

»Was weißt du über den Zeitpalast und diesen Ort?« Cameron deutete auf die drei fragilen Gestalten in ihren beigefarbenen Umhängen. Sie standen wie zuvor, hatten sich nicht einen einzigen Millimeter bewegt. Absolute Reglosigkeit war unmöglich für ein lebendes Geschöpf. Sie mussten tot sein, und doch hielt Cameron sie weiterhin für lebendig. »Zweifellos weißt du mehr, als du bisher zugegeben hast.«

»Da ist er wieder, der menschliche Argwohn, das Misstrauen.« Fast in der Art eines Menschen schüttelte Mrarl den dreieckigen Kopf.

»Wir wollten zum Kugelsternhaufen!«, stieß Cameron hervor und dachte an Kora. »Das war und ist unser Ziel. Stattdessen hast du uns hierhergebracht!«

»Wir haben nicht nur ein Ziel, sondern mehrere«, erwiderte Mrarl. »Dies ist eins davon.« Ihre Fühler zeigten auf die drei Gestalten. »Hältst du sie für tot?«

»Sie leben!«

»Das hast du erkannt?« Es knisterte laut, als Mrarl ihre Flügel wieder anlegte und sich ein wenig zur Seite neigte. Die ungelegten Eier in ihren Fruchtbeuteln glänzten nicht goldgelb, sondern in einem elfenbeinfarbenen Ton, der Cameron an eine Statue erinnerte, die in seiner Hand zerbrochen war. »Aber wie leben sie? Hast du dich das gefragt, Mensch? Und wann? «

Der Variator war noch immer auf Sprengprojektile eingestellt. Mrarl war nicht geschützt, sie trug keinen Schild, sie befand sich nicht hinter einer elektromagnetischen Barriere. Zwei oder drei Schüsse hätten genügt, um sie zu töten, ihren gepanzerten Leib zu zerfetzen. Noch einfacher wäre es gewesen, das Signal zu senden und die Bombe zu zünden.

»Ich habe genug von deinen Spielchen!«, sagte Cameron scharf. »Ich werde dich erschießen, wenn du mir nicht sofort erklärst, warum du uns hierhergebracht hast und was dies alles bedeutet!«

»Das würdest du wirklich tun, Mensch?«, klickte und knarrte die Honta-Königin.

Cameron richtete seine Waffe auf die Fruchtbeutel. »Ich meine es ernst. Ich will wissen, was du weißt!«

Mrarl senkte den großen dreieckigen Kopf. »Ich weiß vom Erinnerer und den Entarteten. Ich weiß auch von den Menschen, die den Erinnerer bis hierher verfolgt haben.«

»Ich verstehe kein Wort, drück dich klarer aus!«, fauchte Cameron.

Mrarl brachte ihren Kopf näher, die Fluoreszenz in ihren Augenringen hell wie eine Lampe. »Bist du bereit, deine Gedanken zu verbiegen, bis sie brechen?«

»Ich will Erklärungen!«, erwiderte Cameron. »Ich will verstehen!«

Die Honta-Königin neigte den Kopf wie zu einem Nicken. »Dann folge mir, Mensch.«

69

Der Tunnel auf der rechten Seite führte in einen Nebenraum, der ebenfalls ein weißes Podest enthielt, kleiner als das erste, und daneben standen zwei Gestalten, bei denen es sich eindeutig um Menschen handelte, um einen Mann und eine Frau.

Ihr Anblick überraschte und faszinierte Cameron so sehr, dass er nicht mehr auf Mrarl achtete. Er ließ den Variator sinken und näherte sich dem kleineren Podest. Bis auf etwa zwei Meter kam er an die beiden Menschen heran, dann machte sich erneut ein Widerstand bemerkbar, der umso stärker wurde, je mehr er versuchte, die unsichtbare Barriere zu durchdringen. Auch in diesem Fall registrierten die Sensoren keine Lebenszeichen, obwohl der Mann und die Frau lebendig wirkten.

Cameron betrachtete sie aufmerksam. Ihre Augen wirkten ein wenig seltsam, und als er genauer hinsah, stellte er fest, dass es Implantate waren, bestehend aus winzigen Einzelmodulen. Der Mann wirkte sehr ernst, sein Mund war halb geöffnet, als würde er etwas sagen. Die Frau mit dem schulterlangen silbernen Haar stand ihm halb zugewandt, der Blick ihrer künstlichen Augen in die Ferne gerichtet.

»Es sind Wächter, die letzten von ihnen«, erklang Mrarls knarrende Stimme hinter Cameron. »Sie haben nicht gesehen und gehört, was geschehen ist, sie halten an ihrer Aufgabe fest, obwohl sie hier keinen Sinn mehr hat.«

Hinter den beiden Menschen war nicht die dunkle Wand auf der anderen Seite des Podests zu sehen. Stattdessen zeichnete sich vage eine anscheinend endlose Dünenlandschaft ab, mit zwei Sternen dicht über dem dunstigen Horizont, der eine klein und weiß, der andere größer und rot wie ein Rubin.

Plötzlich spürte Cameron, dass Mrarl direkt hinter ihm aufragte. Er erstarrte.

»Ich hätte dich töten können«, ließ ihn die Honta-Königin wissen, »aber ich habe die Gelegenheit nicht genutzt. Verdiene ich damit nicht dein Vertrauen?«

Niemals, dachte Cameron. Aber er hob den Variator nicht wieder, als er sich langsam umdrehte. Nach kurzem Zögern steckte er die Waffe sogar ins Gürtelhalfter.

»Warum kann ich nicht zu ihnen?« Er deutete auf die beiden Menschen. »Was trennt uns voneinander?«

»Hast du noch immer nicht verstanden, Admiral Cameron?«, knarrte Mrarl. »Willst du nicht sehen und verstehen? Verbieg deine Gedanken. Lenk sie in krumme, schiefe Bahnen. Dank das, was du bisher für undenkbar gehalten hast.«

Camerons Blick kehrte zu den beiden Menschen zurück. Er streckte die frei gewordene rechte Hand aus und spürte wieder den Widerstand, die unsichtbare Barriere, die ihn von dem Mann und der Frau trennte.

»Was kann die Zeit besiegen?«, fragte Mrarl, als Cameron nicht antwortete.

All die Jahrmilliarden, dachte er. Das Universum leer, fast alle Sterne erloschen. Aber hier befanden sie sich nicht im gewöhnlichen Kontinuum, sondern im Sekundärraum, im Fluidal, in einer Zwischendimension mit eigenen physikalischen Regeln.

»Nichts«, antwortete er. »Man kann die Zeit nicht besiegen, ebenso wenig den Raum. Aber …«

Da war er, ein krummer Gedanke.

»Ja?«, fragte Mrarl.

»Man kann beide überlisten«, fuhr Cameron fort. »Den Raum mit Supla, Superpositionatoren und Abbreviatoren. Und die Zeit …«

»Ja?«, knarrte Mrarl.

»Die Kamaläa haben einen Weg gefunden, nicht wahr? Ihr Konstrukt, ihre riesige Station im Fluidal … Sie ist tatsächlich ein Zeitpalast und wurde erbaut, um die Zeit zu überlisten.«

»Bieg sie weiter, deine Gedanken, noch ein kleines Stück«, forderte ihn Mrarl auf. »Du bist auf dem richtigen Weg.«

»Vielleicht wollten sie den Menschen helfen«, überlegte Cameron laut. »Vielleicht haben sie uns geholfen. Menschen kamen hierher, auf der Suche nach …«

Er zögerte. Vor ihm öffnete sich eine Tiefe, in die man fallen, in der man sich verirren konnte, denn sie enthielt von Zeit und Kausalität getrennte Bedeutungen und Ursachen, ein gewaltiges, unentwirrbares Durcheinander aus vermeintlich zusammenhanglosen Ereignissen und ihren Alternativen: ein Universum der Möglichkeiten.

»Hast du gesehen und gehört, Admiral Cameron?«, fragte Mrarl. Es klang fast hoffnungsvoll. »Hast du verstanden?«

Cameron glaubte, einen ersten Blick ins Nichtlineare geworfen zu haben, in die Welt der Honta.

»Die Menschen kamen hierher, vielleicht mit Hilfe der Denker und Kamaläa, um … Lücken in der Zeit zu finden und den nichtlinearen Gegner zu besiegen.«

Der Krieg war verloren gewesen, erinnerte sich Cameron. Das hatte er als Stratege erkannt, damals, als das Universum noch voller Sterne gewesen war. Gegen einen Feind, der aus der Zukunft kam und wie beliebig in der Zeit reisen konnte. Es war unmöglich, einen solchen Feind auf Dauer abzuwehren, denn er wusste im Voraus, wo und wie man sich verteidigen würde. Wenn man gegen ihn bestehen und überleben wollte, musste man ebenso viel Wissen erlangen. Man musste herausfinden, wo und wie er angreifen würde, damit Vorbereitungen getroffen werden konnten.

Hatten die Kamaläa damals, in ferner Vergangenheit, ihre Zurückhaltung aufgegeben, vielleicht deshalb, weil sie sich in Gegenwart oder Zukunft selbst bedroht gesehen hatten? Hatten sie entschieden, den Menschen zu helfen und ihnen ihren Zeitpalast im Sekundärraum zur Verfügung zu stellen? War ein Bündnis zwischen Liga, den Maschinenzivilisationen der Denker, den Kamaläa und vielleicht auch den Zirra entstanden, um die Honta gemeinsam abzuwehren? Die Menschen und ihre Verbündeten wären jedoch weiterhin in der Linearität gefangen gewesen, in den geradlinigen Zusammenhängen gewöhnlicher Kausalität. Aber der Zeitpalast im Sekundärraum hätte ihnen Schlupflöcher geboten, eine Möglichkeit, außerhalb der Zeit zu stehen und einen Blick ins Nichtlineare zu werfen, in die Dimension des Möglichen. Vielleicht hatten sie dort erkennen können, was die Honta planten.

»Sind deine Gedanken genug gebogen und gekrümmt, damit du endlich sehen und hören kannst?«, fragte Mrarl.

Cameron wich einen Schritt von den beiden Menschen zurück.

»Es sind Zeitblasen«, sagte er. »Die Kamaläa im ersten Raum und diese Menschen … Sie existieren und leben, aber wir sehen sie in einer Zeitblase, in einem erstarrten Moment.«

Mrarls Fühler bewegten sich auf eine Weise, die Cameron als Zustimmung interpretierte. »Es hat geholfen, die Gedanken zu verbiegen, nicht wahr? Du beginnst tatsächlich zu verstehen.«

Cameron wandte sich ihr zu. »Was ist damals passiert? Haben wir den Krieg tatsächlich verloren? Sind unsere Versuche, von hier aus Einfluss auf den Kriegsverlauf zu nehmen, gescheitert?«

Mrarl neigte den dreieckigen Kopf von einer Seite zur anderen. »Ihr habt ihn verloren, und eure Welten sind verbrannt, von euren Städten blieb nur Staub, eure Namen gerieten in Vergessenheit. Soll ich dir den Grund dafür zeigen? Er ist hier, ganz in der Nähe.«

»Ja, zeig ihn mir!«

Die Honta-Königin deutete mit den vorderen Gliedmaßen in einen weiteren Tunnel. »Dort.«

Cameron folgte ihr in den nächsten Raum.

70

Der Tunnel führte zu einem Schlachtfeld, in einen Raum, viel größer als die anderen beiden, so groß, dass das Licht der mobilen Sonde nicht ausreichte, ihn ganz zu erhellen. Knochen und staubige, zerfallene Kleidungsreste lagen inmitten der Reste geborstener Aggregate und dunkler Schlackehaufen. Menschen und Honta hatten sich hier einen heftigen Kampf geliefert, wodurch die Einrichtung des Saals fast vollständig zerstört worden war. Risse und Löcher zeigten sich in Wänden und Decke. Der Boden wirkte an mehreren Stellen wie aufgesprengt und gab den Blick frei auf geplatzte Installationen.

Mrarl wich den Trümmern aus oder kletterte agil über sie hinweg. Cameron folgte ihr, noch immer in einen Schild gehüllt, von dem er nicht wusste, wie viel Schutz er gewährte. Die Honta-Königin hatte deutlich darauf hingewiesen, dass sie in der Lage gewesen wäre, ihn zu töten, auch ohne eine Waffe, und das glaubte er ihr, er wusste, wozu große Honta imstande waren.

Die Sensoren orteten eine elektromagnetische Anomalie nahe der Mitte des Saals, und plötzlich hielt Cameron wieder den Variator in der rechten Hand.

»Das nützt dir hier nichts, kleiner Mensch«, knarrte Mrarl. »Was willst du damit erreichen? Tote kann man nicht töten, Zerstörtes kann man nicht zerstören. Und den Erinnerer erreichst du damit nicht.«

Schließlich gelangten sie zu einem offenen Bereich im Zentrum des Trümmerfelds, und dort erhob sich ein transparenter rechteckiger Block, wie aus Glas, in seinem Innern ein Honta, etwas kleiner als Mrarl.

»Das ist er«, verkündete sie, »der Erinnerer.«

Cameron ging langsam um den Block herum, den die Sensoren des Einsatzanzugs als Ursache der EM -Anomalie identifizierten. Der Honta ruhte reglos in seinem Innern. Nicht nur die Größe unterschied ihn von Mrarl. Die vorderen Gliedmaßen waren krumm, wie verkümmert, die Fühler kurz, die Flügel schmal. Einen seltsamen Kontrast dazu bildeten die kräftigen metallischen Farben. Ein leuchtendes Violett am gestreckten Hinterleib ging über grüne und gelbliche Töne an Flanken und Unterleib in ein funkelndes Rot an Hals und Kopf über. Die Augenringe präsentierten ein tiefes, schimmerndes Blau.

Ein vages Glühen umgab den Honta.

»Solche Farben habe ich bei euch nie zuvor gesehen«, sagte Cameron und schob den Variator ins Halfter.

»Was weißt du über unsere Farben?«, klickte Mrarl, und er glaubte, einen abfälligen Ton zu hören. »Nichts weißt du darüber. Du müsstest deine Gedanken noch mehr verbiegen, um sie zu deuten.« Die Fühler richteten sich auf den durchsichtigen Block und die Gestalt darin. »Der Erinnerer ist einzigartig. Seine Farben erzählen eine eigene kleine Geschichte, eingebettet in die große.«

»Dies ist eine weitere Zeitblase, nicht wahr?« Cameron betrachtete die Sensorendaten in seinem Helmvisier. Viel verrieten sie nicht. »Der Honta in dem Block lebt, irgendwo und irgendwann.«

»Deine Gedanken werden wieder zu gerade!«, knarrte Mrarl, lauter als zuvor. »Er befindet sich an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeit. Er erzählt, er steuert und lenkt.«

»Zeit«, wiederholte Cameron. »Wird es nicht allmählich Zeit für deine Geschichte, Mrarl? Du hast den Erinnerer erwähnt, hier ist er. Was ist mit den ›Entarteten‹?«

»Du kennst sie, Admiral Cameron«, erwiderte die Honta-Königin, und diesmal war Cameron sicher, dass es traurig klang. »Du hast gegen sie gekämpft. Sie haben eure Welten verbrannt.«

»Die Honta, die uns seit Jahrhunderten angreifen, sind entartet? «

Mrarl neigte den Kopf. »Sie sind das Ergebnis einer falschen Geschichte.«

Cameron drehte die Worte hin und her, auf der Suche nach versteckter Bedeutung.

»Was ist die richtige Geschichte? Wo sind die normalen , nicht entarteten Honta? Welche Rolle spielen sie?« Cameron schnappte nach Luft. »Warum sind wir hier?«

»Es ist meine Aufgabe, hier zu sein und den Erinnerer zu finden, der vom Ende der Zeit aus die Fäden der Vergangenheit spinnt«, verkündete Mrarl. »Er erinnert sich und erzählt, er bestimmt die Wege unseres Volkes. Aber es sind falsche Erinnerungen und falsche Erzählungen, sie sind entartet, sie machen uns zu etwas, das wir nicht sind.«

Die Honta-Königin hob ihre vorderen Gliedmaßen und streckte sie dem gläsernen Block entgegen, ohne ihn erreichen zu können.

»Unsere große Geschichte wird weitergetragen, von einem Erzähler zum anderen, von einem Erinnerer zum nächsten. So geschieht es, seit die ersten von uns zu den Sternen aufsahen und von fernen Welten träumten, seit sie sich neue Flügel bauten und durch die große Leere flogen. Aber einer von ihnen wurde …«

Mrarl zögerte und suchte vielleicht nach einem Ausdruck, den Cameron verstehen konnte.

»Einer von ihnen wurde krank«, fuhr sie fort. »Seine Gedanken verloren sich in den Kapiteln unserer langen Geschichte. Er fügte ihnen Episoden hinzu, die neue Zeiten schufen, neue Entwicklungen. Er …«

Die Honta-Königin unterbrach sich erneut.

»Er ›entartete‹?«, fragte Cameron.

»Wir haben versucht, ihm zu helfen, aber er wollte sich nicht helfen lassen«, erklärte Mrarl. »Seine Gedanken, die lenken und leiten sollten, verdrehten und verzerrten. Er glaubte, unsere Geschichte sei falsch erzählt worden, und begann damit, alte Kapitel zu entfernen und durch andere zu ersetzen. Er veränderte unsere Vergangenheit und damit auch Gegenwart und Zukunft.«

»Soll das heißen, wir verdanken den jahrhundertelangen Krieg einem … verrückten Geschichtenerzähler?«

Mrarl schwang den Kopf von einer Seite zur anderen. »Erinnerer sehen und hören, was ist und was sein könnte. Sie erzählen die Realität.«

Cameron starrte auf die Gestalt im transparenten Block. »Ich soll glauben, dass dieser Honta für alles verantwortlich ist?«

»Seine Gedanken haben die alte Geschichte gebogen und gebrochen«, knarrte Mrarl. »Es hätte nie ein Krieg stattfinden sollen. Wir waren ein friedliches Volk.«

»Woher willst du das wissen?«, hielt Cameron dagegen. »Wie kannst du es wissen, wenn die Vergangenheit eine Geschichte von Leid und Tod ist, von Feuer und Asche? Wie willst du dich an Dinge erinnern, die nie geschehen sind?«

»Weil ich außerhalb der Geschichte stehe«, antwortete die Honta-Königin. »Weil der Erinnerer und Erzähler dort mich nicht wegerzählen kann. Weil ich Teil seiner eigenen Geschichte bin, seiner Existenz. Ich kenne ihn gut. Er heißt Mror und ist mein Eibruder.«

71

»Eibruder«, wiederholte Cameron. »Du meinst, du bist Mrors … Zwillingsschwester?«

»So könnte man es nennen«, bestätigte Mrarl.

Cameron dachte einen Schritt weiter. »Und das bedeutet …«

»Es bedeutet, dass auch ich imstande bin, die große Geschichte zu denken, zu erinnern und weiterzuführen. Die Sieben Koryphäen von Garlomir haben unser Ei vorbereitet. Wir beide haben die Gedanken bekommen, die nötig sind, um die vielen Kapitel und ihre Episoden zu begreifen. Wir sehen und hören mehr als andere. Wir sehen und hören genug, um die Geschichte fortzusetzen. So wurden wir geboren, das war unsere Aufgabe.«

Cameron deutete auf den durchsichtigen Block. »Warum bist du nicht dort bei ihm?«

»Weil mich mein Eibruder verstieß.« Wieder klang sie traurig. »Weil er versuchte, mich aus der Geschichte zu entfernen. Weil er keinen Rivalen neben sich duldete? Ich weiß es nicht. Ich kenne seine leitenden, lenkenden Gedanken, aber ich sehe und höre nicht genug von ihm, um ihn gänzlich zu verstehen.«

Cameron hielt einen eigenen Gedanken fest. »Es hat über Jahrhunderte hinweg ein schrecklicher Krieg stattgefunden, weil dein Zwillingsbruder die falsche Geschichte erzählt hat?«

Mrarl signalisierte Zustimmung.

»Doch du könntest seinen Platz einnehmen und die richtige Geschichte erzählen?«

»Ich erinnere mich an die alte Geschichte«, präzisierte die Honta-Königin. »Mror war nicht imstande, mir die Erinnerungen daran zu nehmen. Ich kann sie wiederherstellen, sie neu erzählen.«

»Und in der alten Geschichte gibt es keinen Krieg?«

»So ist es«, bestätigte Mrarl.

Cameron versuchte, sich Wesen vorzustellen, deren Erinnerungen und Gedanken Einfluss auf die Realität nahmen, auf den Zeitstrom und die Ereignisse in ihm.

»Wir könnten die Geschichte ändern?«, fragte er vorsichtig, sich der Tiefen um ihn herum auf eine Weise bewusst, die ihn schwindeln ließ. Er stand am Rand von etwas Großem, von etwas Ungeheuerlichem – es ging über alles hinaus, das er bisher für möglich gehalten hatte.

»Du denkst schon wieder gerade, Mensch«, klackte Mrarl ungeduldig. »Denk krumm!«

»Du könntest den Krieg verhindern?«, vergewisserte sich Cameron.

»Ich könnte die Geschichte wiederherstellen«, lautete die Antwort. »Ich könnte das Wegerzählte neu erzählen.«

»Du könntest dafür sorgen, dass der Krieg nie stattgefunden hat?«, fragte Cameron. »Dass in der Galaxis Frieden herrscht?« Er dachte plötzlich an die Hand seiner Mutter, warm nicht von Feuer, sondern von Leben.

»Ich könnte korrigieren, was korrigiert werden muss«, knarrte Mrarl, den Kopf erhoben, die Fühler auf den Block gerichtet. »Siehst du die Funken? Erkennst du sie? Sind deine Augen dazu imstande, Mensch?«

Eine der vorderen Gliedmaßen deutete auf das vage Glühen, das Mror umgab.

Cameron trat vor, bis zur Widerstandszone, und sah genau hin. Das Glühen bestand aus winzigen glitzernden Punkten, die langsam dahinglitten, einander umkreisten, in einem kurzen Schimmern kollidierten und sich wieder voneinander trennten. Ihre Zahl ließ sich kaum abschätzen. Es mussten Millionen sein, vielleicht noch viel mehr.

Er wich zurück, und aus den Funken wurde wieder eine Wolke.

»Hast du sie gesehen, die Splitter?«, fragte Mrarl.

»Die Splitter von was?«

»Von Welten und Zeiten!« Wieder klang die Honta-Königin ungeduldig. »Von all dem, was jemals gewesen ist und sein kann. Es sind die Splitter der gebrochenen Geschichte, die Splitter der Zeit! Sie müssen wieder zusammengefügt werden.«

»Und du bist dazu in der Lage?«, fragte Cameron.

»Was ist mit dir, Mensch?«, knirschte Mrarl. »Musst du alles zwei- oder dreimal hören, um zu verstehen? Ja, ich kann tun, was getan werden muss. Deshalb bin ich hierhergekommen.«

Gab es tatsächlich eine Möglichkeit, den Krieg zu beenden? Oder dafür zu sorgen, dass er nie stattgefunden hatte? Cameron wagte kaum zu hoffen.

»Dann los«, sagte er. »Hier sind wir. Dort ist dein Eibruder. Nimm seine Stelle ein. Erzähl die Geschichte neu, ohne den Krieg.«

Mrarl brachte den Kopf ganz nahe an ihn heran. Die Augenringe leuchteten heller. »Du hast immer noch nicht verstanden, Admiral Cameron. Dies ist ein Ziel für ein Ziel. Hast du die Kamaläa oder die beiden Menschen berühren können? Nein, natürlich nicht. Wie solltest du die Zeitblasen durchdringen können? Zeit und Raum gehorchen dir nicht, sie ignorieren dich.«

»Aber du …«, begann Cameron.

»Ich stehe außerhalb.« Mrarl hob wieder den Kopf, und ihre Stimme, die gleichzeitig aus dem Lautsprecher des Kommunikators drang, wurde leiser. »Ich müsste eine ganz neue Geschichte erzählen, um meinen Bruder hier zu erreichen, und ich könnte nicht sicher sein, dass es die richtige Geschichte ist. Ich habe diesen Ort aufgesucht, um zu erfahren, wo er sich befindet, von wo aus er die Welt denkt und erzählt. Ich habe ihn gesehen und gehört, den Bruder meines Eis. Ich weiß nun, wo ich ihn erreichen kann.«

»Im Kugelsternhaufen«, erriet Cameron.

Mrarl drehte sich um und kehrte zum Tunnel zurück. »Dieser Ort hat seinen Zweck erfüllt.«