Cameron: 38, ∞
Garlomir
»Wie fühlen Sie sich, Admiral?«
Cameron öffnete die Augen. Er lag im Schlaftank, den er selbst im Waffenraum des Angriffsjägers installiert hatte.
»Ich habe nicht geträumt«, sagte er und setzte sich auf. Das vertraute Summen der Bordsysteme umfing ihn, die Welt schien vertraut.
»Diesmal war die Transition nicht annähernd so schlimm«, teilte ihm Hudson mit. Er stand wieder auf dem Rand des Tanks, einen seiner Größe angepassten medizinischen Sensor in den kleinen Händen. »Wir befinden uns noch im Fluidal, haben den Kugelsternhaufen aber inzwischen erreicht. Wir werden langsamer, offenbar nähern wir uns dem Ziel.«
»Wo ist Mrarl?«
»Die Honta-Königin befindet sich in ihrem Ruheraum innerhalb eines der Skitter.«
Cameron sah sich um. »Sind wir abgeschirmt?«
»So gut es geht, Admiral. Ich glaube nicht, dass Mrarl uns hören kann. Um Ihrer Frage zuvorzukommen: Ja, die drei Komponenten sind installiert.«
Cameron stieg aus dem Schlaftank und griff nach seiner Kleidung.
»Sie hat nicht darauf reagiert«, sagte er nachdenklich.
»Ich habe tatsächlich keine Reaktion feststellen können«, erwiderte Hudson.
»Nein, ich meine, als wir im Zeitpalast waren, bei den Zeitblasen. Mrarl hat die Implantate mit keinem Wort erwähnt. Ist das nicht seltsam?«
»Sie meinen, die Honta-Königin müsste von ihnen wissen.«
»Ja«, sagte Cameron überzeugt. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie den Eingriff nicht bemerkt hat. Bestimmt ist sie in der Lage, Fremdkörper in ihrem Körper zu entdecken, wenn nicht mit ihren natürlichen Sinnen, dann mit Sensoren.«
»Falls sie über welche verfügt.«
»In ihren Skittern zweifellos.« Cameron streifte die Jacke mit den Abzeichen eines Admirals über. »Existieren die Implantate noch? Sind sie nach wie vor an Ort und Stelle?«
»Sie wurden nicht entfernt.« Mit seinem Gravitator flog Hudson wieder zu Camerons linker Schulter. »Ich empfange ihre codierten Statussignale. Sie können, wenn dies nötig sein sollte, die Schmerzstimulatoren aktivieren oder die Bombe zünden. Deren Explosion würde Mrarl töten oder so schwer verletzen, dass sie keine Gefahr mehr darstellt.«
Ein Faustpfand, dachte Cameron. Eine Möglichkeit, Druck auszuüben oder sich aus einer Situation zu befreien, die keinen anderen Ausweg bot. Mrarl musste davon wissen, aber sie hatte ihn im Zeitpalast nicht darauf angesprochen und trug die drei kleinen Komponenten noch immer in sich. Welche Erklärung konnte es dafür geben?
Cameron verließ den Waffenraum, suchte den Kommandostand auf und nahm in der Pilotenmulde Platz. Die Displays und das Hauptholo zeigten Diagramme und Schemata, die Auskunft gaben über den Flug im Sekundärraum sowie den Status des Jägers und der Skitter, die ihn umgaben.
Hudson sprang von seiner linken Schulter und landete leichtfüßig auf der Navigationskonsole. Cameron betätigte die Kontrollen und begann mit einer externen Sensorsondierung. Die riesige Station der Kamaläa, ihr Zeitpalast, war irgendwo in den Strömungen des Fluidals verschwunden. Die Sterne des Kugelhaufens schienen zum Greifen nah, ihre energetischen Schatten im Sekundärraum wie Felsen in einem Fluss.
»Wir steuern nicht selbst«, stellte er fest.
»Nein«, erwiderte Hudson, noch immer den medizinischen Sensor in den Händen. »Die Honta-Königin und ihre Skitter steuern uns, was unsere Ressourcen schont. Ich habe mir erlaubt, unsere Systeme auf das notwendige Minimum herunterzufahren.«
Cameron nickte. »Wohin sind wir unterwegs?«
»Ich habe unseren Kurs berechnet.« Im rechten Teil des zentralen Holos erschien eine graphisch aufbereitete Darstellung des Kugelsternhaufens. Eine weiße Linie führte zu einem Roten Zwerg fast in dessen Zentrum. »In einer Stunde sind wir da.«
»Unsere Geschwindigkeit ist ziemlich hoch.« Sie waren so schnell, dass sich die Sterne bewegten und langsam an ihnen vorbeiglitten.
»Wir sind weitaus schneller, als es mit einem Superpositionator möglich wäre«, sagte Hudson und hantierte an dem Medo-Sensor.
Cameron deutete darauf. »Was ist damit?«
»Ich habe Sie untersucht, Admiral«, erklärte der Mikronaut. »Möchten Sie die Ergebnisse sehen?«
Das war eine seltsame Frage, fand Cameron. »Natürlich möchte ich sie sehen.«
Hudson deutete auf das Display direkt neben der Pilotenmulde. Medizinische Daten erschienen dort.
Cameron sah sie sich an. »Weitere Veränderungen der Amygdala?«, fragte er nach einer Weile.
»Ja, Admiral, auf beiden Seiten. Außerdem haben die Aktivitäten von Okzipitallappen und des Gyrus cinguli zugenommen. An jenen Stellen deuten sich zudem strukturelle Veränderungen an.«
»Der Okzipitallappen verarbeitet visuelle Impulse, er ist das Sehzentrum des Gehirns«, überlegte Cameron halb laut. »Der Gyrus cinguli gehört zum limbischen System und ist an Lern- und Gedächtnisprozessen beteiligt.«
»Außerdem auch an der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen«, fügte Hudson hinzu. »Womit wir eine Verbindung zur paarigen Amygdala haben.«
Cameron ließ einige Sekunden verstreichen. »Was bedeutet das?«
»Ihr Gehirn verändert sich«, antwortete Hudson. »Und damit verändern sich auch Ihre Gefühle. Wahrscheinlich verändert sich auch Ihr Denken.«
Wieder folgte kurze Stille.
»Was müssen wir daraus schließen?«, fragte Cameron. »Versucht Mrarl, Einfluss auf mich zu nehmen? Kriecht sie in mich hinein? Könnte es mir ebenso ergehen wie Ganto und den anderen? Verwandle ich mich im Innern in einen Honta?«
»Das muss es nicht zwangsläufig bedeuten, Admiral. Dass sich Ihre Gefühle und Ihre Wahrnehmung verändern, könnte ebenso ein Ergebnis der besonderen Situation sein, des Sturzes hierher in ein dunkles Universum am Ende der Zeit. Zudem waren wir intensiver Strahlung ausgesetzt.«
Cameron überlegte. »Lassen sich von Strahlung verursachte Zellschäden feststellen, irgendwo in meinem Körper?«
»Nein. Allerdings besagt das nicht viel. Die Strahlung könnte dennoch die Veränderung in Ihrem Hirn ausgelöst haben.«
Das genügte Cameron nicht. Er brauchte mehr Informationen, er brauchte Gewissheit.
»Halten Sie das für wahrscheinlich, Hudson?«
»Nein, Admiral«, antwortete der Mikronaut sofort.
»Also wäre es durchaus denkbar, dass Mrarl die Ursache ist …«
»Denkbar wäre das in jedem Fall, Admiral. Immerhin wissen wir, dass die Honta Methoden für die Übernahme von Menschen entwickelt haben.«
Cameron horchte in sich hinein. »Ich bin ich. Und ich bleibe ich.«
Hudson nickte ihm zu.
»Und wir haben die Bombe«, sagte Cameron, wie um sich selbst zu überzeugen. »Wir können sie zünden, wenn die Situation kritisch wird.«
Der Mikronaut nickte erneut.
Cameron blickte wieder ins zentrale Holo und beobachtete, wie die Sterne des Kugelhaufens vorbeiglitten, alles sehr langlebige Rote Zwerge. Einer von ihnen, nur noch eine knappe Stunde Flugzeit voraus, war ihr Ziel. Die Systeme des Angriffsjägers blieben im Minimalmodus – das Schiff war ein Passagier der Skitter-Module, die Kurs und Geschwindigkeit bestimmten.
»Ich würde gerne mit Ihnen über Ihren Bericht hinsichtlich der Ereignisse im Zeitpalast sprechen«, sagte Hudson nach einer Weile. »Allein die Tatsache, dass Sie sich im Zeitpalast der Kamaläa befanden, ist ungewöhnlich genug. Hinzu kommen die Zeitblasen und die Schilderungen der Honta-Königin.«
»Was halten Sie davon?«, fragte Cameron, die Hände auf den Armstützen der Pilotenmulde.
»Mrarls Aussagen sind schwer zu bewerten. Es fehlen konkrete, verifizierbare Daten.«
»Sie könnte lügen.« Über diese Möglichkeit hatte Cameron bereits nachgedacht, bevor er in den Schlaftank gestiegen war. »Es könnte alles eine große Lüge sein.«
»Ja, Admiral.«
»Aber sie könnte auch die Wahrheit sagen.«
»Halten Sie das für möglich, Admiral?«
Cameron ließ sich die Frage durch den Kopf gehen und erkannte die Gefahr: Er wünschte sich, dass Mrarl die Wahrheit gesagt hatte, dass es tatsächlich eine Möglichkeit gab, den Krieg »wegzuerzählen«, damit er nie stattgefunden hatte. Wie viel Leid wäre den Menschen erspart geblieben! Aber an Mrarls Erklärungen zu glauben, bedeutete auch, dass er sie unterstützen und dabei helfen musste, den Platz ihres Eibruders einzunehmen und die große Geschichte der Honta neu zu erzählen, wie auch immer. Und dies wiederum bedeutete, sich von ihr instrumentalisieren zu lassen und ihr zu gestatten, ihn vielleicht für eine ganz andere Sache zu benutzen. Eine Lüge, ein Trick, das war nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich.
Und doch …
Konnte er die Chance auf Frieden – dass der Krieg gar nicht stattgefunden hatte – unberücksichtigt lassen? Der Mensch hoffte leicht und gern. Oft war es allein die Hoffnung, die ihn am Leben hielt und nicht aufgeben ließ.
Die Hand seiner Mutter, warm und lebendig. Natürlich hoffte er, dass es so gewesen wäre, dass all die Menschen auf den von Honta zerstörten und verbrannten Welten nicht gestorben wären und stattdessen ein langes, friedliches Leben gehabt hätten. Doch seine Vernunft sagte ihm, dass man nicht ändern konnte, was geschehen war. Wie sollten Gedanken und das Erzählen einer Geschichte Einfluss auf Raum und Zeit nehmen? Oder stellte er damit die falsche Frage? Verharrte er als lineares Geschöpf zu sehr in seiner eindimensionalen Denkweise? Musste er seine Gedanken biegen und krümmen, wie Mrarl es genannt hatte, um zu verstehen?
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete er ehrlich. »Es klingt gleichzeitig einfach und ungeheuer kompliziert.«
»Was ist mit Ihrem Instinkt, Admiral?«, fragte Hudson. »Was ist mit dem Instinkt des Strategen?«
»Der Mensch in mir hofft«, sagte Cameron. »Der Stratege aber befürchtet einen verborgenen Plan, List und Tücke, wie wir es von den Honta kennen. Und der Soldat in mir wiederum weiß: Wir haben ein Faustpfand. Wir können Mrarl töten, ein Signal genügt.«
»Die Honta-Königin stammt aus einem geheimen Stützpunkt auf Pirontao in der Zirkumferenz«, erinnerte ihn der Mikronaut. »Die verborgene Basis war über tausend Jahre alt. Mit anderen Worten: Die Königin könnte sich dort bereits befunden haben, noch bevor im Jahr 2251 Terrastandard das erste Hypersignal ausgelöst wurde, das die Honta weckte. Sie wartete dort und ließ sich gefangen nehmen.« Nach einer kurzen Pause fügte Hudson hinzu: »Man könnte meinen, Mrarl hätte auf Sie gewartet.«
»Es könnte auch Zufall sein«, gab Cameron zu bedenken.
»Mrarls Weg führte von Pirontao direkt zu Ihnen und dann hierher. Kann das Zufall sein? Es handelt sich bei ihr um ein nichtlineares Geschöpf, das aus der Zukunft kommt und weiß, was geschehen ist und geschehen wird.«
Sich dieser Frage zu öffnen … Es bedeutete, in verschlungenen Bahnen zu denken, in ein geistiges Labyrinth einzutreten und zu riskieren, sich darin zu verlieren.
»Wir sollten besser davon ausgehen, dass hinter allem, was die Honta-Königin unternimmt oder sagt, eine bestimmte Absicht steckt«, fuhr Hudson fort. »Sie ließ sich gefangen nehmen und von Ihnen verhören, sie überlebte mit Ihnen die Schlacht beim Abbreviator Ungox Vierzehn, sie überstand – ebenso wie Sie – den Sturz durch den Vortex hierher, zum Ende der Zeit. Was bei Pirontao geschehen ist, verknüpft sie beide miteinander.«
»Und auch Kora«, sagte Cameron. »Sie hat ebenfalls überlebt.«
»Das behauptet die Honta-Königin. Die entscheidende Frage lautet: Welche Rolle spielen Sie – und eventuell auch Kora – in Mrarls Plänen?«
Cameron deutete auf den roten Zielstern im zentralen Holo vor der Pilotenmulde. »Wir werden es herausfinden.«