Die Splitter der Zeit

Cameron: 38, ∞
Welten ohne Zahl

96

Etwas packte Cameron und riss ihn fort.

Hitze umgab ihn, und für einen Moment befürchtete er zu verbrennen. Aber sie ließ schnell nach und wich einem seltsam tauben Gefühl, das ihn veranlasste, argwöhnisch an sich herabzusehen.

Die Beschädigungen des Einsatzanzugs beschränkten sich nicht mehr nur auf Risse und Löcher. Er war teilweise verbrannt, und als Cameron die Beine bewegte, lösten sich mehrere Synth-Fetzen. Sie schwebten davon, leichter als welke Blätter im Wind, und verschwanden in einem weißen Nebel so dicht, dass die Sichtweite nur wenige Meter betrug.

»Jako!«, rief Cameron. »Hören Sie mich?«

Lebe ich noch?, dachte er und hob die Hände. Die dünnen, mit haptischen Sensoren ausgestatteten Handschuhe existierten nicht mehr. Er betrachtete graue Finger, an denen Ruß und Asche klebten, bewegte sie, und das taube Gefühl wiederholte sich.

Wenn er sich die Frage stellte, ob er noch lebte, konnte er nicht tot sein. »Holen Sie mich zurück, Jako!«, rief er in den weißen Nebel.

Keine Antwort.

Ein leises Knistern drang an seine Ohren, wie von kleinen elektrischen Entladungen. Etwas geschah, er spürte es, etwas veränderte sich um ihn herum, etwas kam näher .

Die Hand des Soldaten griff nach dem Variator, doch die Waffe war nicht mehr da, das Halfter halb zerrissen. Die grauen, rußigen Finger fanden das Vibromesser, das nicht mehr vibrierte, dessen Klinge aber noch immer spitz und scharf war, erinnerte er sich.

Wir verteidigen uns, tönte Grindels Stimme aus der Vergangenheit. Solange noch Leben in uns steckt, geben wir den Kampf nicht auf.

So hatte er es seine Söhne und Töchter gelehrt, auch den jungen Cameron.

Der vom Rekruten zum Admiral gewordene Cameron schloss die Augen, sammelte seine Gedanken und hob die Lider. Der Kampf war noch nicht zu Ende. Er ging nie zu Ende, es gab immer nur kurze Pausen, ein Atemholen vor der nächsten Schlacht.

Im weißen Nebel glitzerte etwas.

Cameron hielt das Messer bereit. Im weißen Funkeln entstanden keine Linien wie zuvor, es bildeten sich nicht die Umrisse von Gebäuden. Stattdessen sah er zahllose winzige Objekte, schimmernd und glitzernd wie Eisstaub in kalter Luft. Als sie näher kamen, wurden sie etwas größer, mehrere Millimeter oder einige wenige Zentimeter, und formten eine dichte Wolke, die Cameron auf allen Seiten umgab.

Das Knistern gewann an Intensität, ähnelte dem Rauschen eines Flusses. Einige der Objekte schwebten näher, und Cameron stellte fest, dass sie wie Fragmente eines Spiegels aussahen, die Bilder von fernen Orten zeigten.

Er begriff plötzlich, was er sah.

Die Splitter der Zeit.

Das Knistern und Rauschen … Es setzte sich aus zahllosen Stimmen zusammen, die aus den Splittern kamen, jeder von ihnen ein besonderer Ort in Zeit und Raum. Cameron glaubte, sie verstehen zu können, wenn er sich auf sie konzentrierte, und er fragte sich, wie das möglich war.

Du musst sehen und hören, flüsterte Mrarl aus seinem Gedächtnis oder vielleicht von einem der kleinen spiegelnden Fragmente. Du musst verstehen .

Cameron begann zu verstehen.

Ihm wurde klar, dass Mrarl ihn vorbereitet hatte, damit er die Bestandteile der Geschichte sehen und hören konnte. Hudson hatte es frühzeitig erkannt: strukturelle Veränderungen erst in der paarigen Amygdala, dann auch in Okzipitallappen und Gyrus cinguli. Betroffen waren die Verarbeitung visueller Impulse, das Sehzentrum des Gehirns, das limbische System mit den Lern- und Gedächtnisprozessen sowie Gefühle.

Sie hatte ihm etwas eingepflanzt, die Honta-Königin, so wie auch ihr etwas eingepflanzt worden war, in seinem Auftrag. Mrarl hatte sein Gehirn verändert, sein Denken und Fühlen, damit er sah und hörte, damit er verstand . Und er hatte ihr etwas gegeben, das ihren Körper zerreißen und zerfetzen, sie töten konnte.

Cameron drehte sich langsam in der Wolke aus glitzernden Splittern. Es mussten viele Millionen oder Milliarden sein, jeder Einzelne von ihnen eine Welt in einer bestimmten Zeit. Er wusste es plötzlich, das Wissen stieg in ihm auf. Was er hier sah und hörte, war die große Geschichte der Honta mit all ihren Verzweigungen, mit all ihren Kapiteln und Episoden, teilweise vom Erzähler – Mrarls Eibruder Mror – verworfen, aber dennoch existent.

Eine Dimension aus Möglichkeiten und Alternativen, das wahre Multiversum, unendlich und mit unendlicher Mannigfaltigkeit.

Wie sollte man sich in einem so gewaltigen Labyrinth orientieren? Wie sollte man unter unendlich vielen Möglichkeiten die eine finden, die man suchte?

Cameron schob das Vibromesser in die Ausrüstungstasche, hob die Hand und streckte sie den Splittern der Zeit entgegen. Sie bewegten sich, sie reagierten auf die grauen Finger und tanzten an den Fingerkuppen. Sie schienen noch heller zu glitzern und zu schimmern, und plötzlich erkannte er Strukturen in dem Glanz, Muster, die den Weg wiesen, wenn man sie zu deuten wusste.

Wie hatte Mrarl es angestellt?, fragte sich Cameron. Wie hatte sie Einfluss auf sein Gehirn genommen und es verändert? Und was noch wichtiger war: Was wollte sie damit bezwecken? Sie hatte gewollt, dass er sah und hörte , dass er Einblick in die große Geschichte bekam, dass er sich sogar in ihr orientieren konnte. Warum?

Cameron stand nicht mehr, er schwebte, er flog langsam durch die Wolke aus Splittern, ohne dass sie ein Ende nahm. Sie teilte sich vor ihm, manche Fragmente leuchtend hell wie Wegweiser, als wollten sie ihm etwas zeigen.

Vorsichtig ergriff er einen der Splitter und sah … Jako. Er befand sich an Bord eines Raumschiffs, eines Mutterschiffs der Vereinten Streitkräfte. Es war die Wega , Schwesterschiff der Antares , die ausgerechnet beim Wega-System verlorengegangen war. Dort stand er im Hangar, neben einer Schar Soldaten und in der Nähe eines großen, halb hohen Behälters, der den Platz eines Angriffsjägers einnahm: Jakob Peres Zuga, Kommandeur der Vereinten Streitkräfte, etwas jünger als der Mann, dem Cameron begegnet war, das Haar dunkel, in den Augen nichts Fremdes, nur ernste Entschlossenheit. Ein Mann mit einem wichtigen Auftrag.

Zwei Admiräle traten vor und öffneten den Behälter. Ein Mediker folgte ihnen mit einem Bot, der über mehrere Greifarme verfügte. Einen streckte er in den Behälter, und als er wieder zum Vorschein kam, hielt die mechanische Hand ein wurmartiges Geschöpf.

So hatten die Reste von Oberkommando und strategischem Korps entschieden: Die neu entdeckten Symbionten sollten Jakob Peres Zuga und den Soldaten seiner Einsatzgruppe besondere Widerstandsfähigkeit geben und sie in die Lage versetzen, Garlomir zu erreichen, ins Zentrum der Honta-Macht vorzustoßen und den großen Erzähler zu töten.

Camerons Finger bewegten sich, er änderte seine Flugrichtung, und neue Splitter schwebten ihm entgegen, genau jene, die er sehen wollte. Er verfolgte den Weg der Gruppe, vom brennenden, zerstörten Kern der Liga durch den Perseus-Arm der Galaxis, über Minerva, Plakon, Enrakis und die anderen Welten des Konsekutiven Bundes – im Jahr 2601, noch während der Ära der Solaren Union, von sieben unabhängigen Sonnensystemen gegründet – bis hin zu den Zwillingswelten Joukka und Joluna, zwei kalten erdgroßen Planeten, die um ein gemeinsames Schwerkraftzentrum kreisten, in einem System aus drei Roten Zwergen, eines G‑Sterns und eines Blauen Riesen, ganz am Ende des Spiralarms gelegen, direkt am Rand der großen intergalaktischen Leere. Die Gravitationsgezeiten in jenem System, Quintus genannt, waren überaus komplex, die genaue Bahn der Zwillingswelten ließ sich kaum berechnen. Einige Einsiedler hatten sich dort niedergelassen, Menschen, die Schnee und Eis liebten und die Gesellschaft anderer Menschen mieden, aus welchen Gründen auch immer. Außerdem gab es dort wissenschaftliche Forschungsstationen und einen Stützpunkt der Vereinten Streitkräfte.

Cameron hatte das Quintus-System nie besucht, wusste aber, dass es als künstlich galt, geschaffen vermutlich von den mythischen Xon. Was vielleicht auch für die Brücken in der Nähe galt. Das technische Korps der Liga hatte dort die experimentellen Sigma-Abbreviatoren geschaffen, nicht für den zivilen Dienst bestimmt. Von dort aus erfolgte der große Sprung nach Garlomir.

Cameron beobachtete, wie sie ihr Ziel erreichten, die tapferen, zu allem entschlossenen Männer und Frauen. Wie sie auf die Inhibitoren der Sieben Koryphäen trafen und plötzlich feststellen mussten, dass ihre Waffen und Instrumente nicht mehr funktionierten.

Warum hatte der Feind die Sigma-Abbreviatoren nie angegriffen?, überlegte Cameron, während er das Geschehen beobachtete, durch Jahrmilliarden davon getrennt. Hatten die Honta darauf verzichtet, damit die Einsatzgruppe nach Garlomir gelangen konnte? Mit seinem neuen Blick stellte er sich die Ereignisketten wie die Fäden eines Spinnennetzes vor, das durch Zeit und Raum reichte, bestimmt für nichtlineare Geschöpfe, nicht für Menschen, die nur eine Zeit und einen Raum sahen, ohne die unzähligen Möglichkeiten daneben, rechts, links, oben, unten und dazwischen. Die Stimme des Erzählers konnte das Mögliche austauschen und der Raum-Zeit dadurch eine andere Gestalt geben. Jakob Peres Zuga und die anderen verfingen sich in dem Netz. Ohne Waffen konnten sie nicht kämpfen, sie mussten fliehen, und bei der Flucht gerieten sie in die Splitter der Zeit.

Vielleicht war es eine Falle. Eine Geschichte innerhalb einer kleinen Geschichte, eine Laune von Mror.

Cameron sah, welche Wege sie durch die Welten nahmen. Er sah, wie die Soldaten starben, weil sie der toxischen Verbindung mit den Symbionten erlagen, die eine Million Jahre zuvor die Xon ausgelöscht hatten. Kaum jemand ertrug die »Freundschaft« auf Dauer. Einige Männer und Frauen verschwanden auch, jene, die sich angeblich irgendwo niedergelassen hatten, um ihr langes Leben ohne den Krieg zu verbringen.

Aber das war eine Lüge. Es gab kein langes Leben. Jedenfalls keins, das sich über Jahrtausende oder gar Jahrhunderttausende erstreckte.

Aus Jakob Peres Zuga, Kommandeur der Vereinten Streitkräfte, wurde Jako, Reisender in Zeit und Raum. Er starb nicht durch den Symbionten, doch die Verbindung war auch bei ihm toxisch, sie raubte ihm nach und nach den Verstand. Er glaubte, uralt zu sein, vielleicht eine Million Jahre, aber Cameron sah seinen Weg, die einzelnen Stationen seiner Reise durch die Welten. Jako, verloren im Wahn, hatte tatsächlich länger gelebt als ein gewöhnlicher Mensch, aber nicht mehr als einige Jahrhunderte.

Cameron sah auch seine Zukunft, den plötzlich einsetzenden physischen Zerfall, den der Symbiont nicht verhindern konnte. Er sah ihn in einer der wenigen Oasen in den weiten Wüsten von Jolafor, wie er schwach und plötzlich gealtert in einen Tümpel mit trübem Wasser kroch, wie sich sein Körper auflöste und der »Freund« die zerfallende organische Masse nutzte, um sich zu teilen und mehr zu werden.

Es war eine Möglichkeit und vielleicht die wahrscheinlichste. Eine andere bestand darin, dass er irgendwann die Orientierung verlor, obwohl er über einen Kompass verfügte, und im Nichts endete.

Wo befand sich Jako?, überlegte Cameron, erfüllt von einer sonderbaren Ruhe inmitten der Myriaden Splitter. Welche Möglichkeiten standen ihm zur Verfügung? Konnte er etwas gegen ihn, Cameron, unternehmen?

Graue Hände bewegten sich inmitten des Funkelns und Glitzerns … und fanden einen Mann groß wie er selbst, scheinbar Mitte vierzig, mit dunklem Haar und einem Gesicht, in dem die Proportionen von Stirn, Augen und Nase stimmten. Ein Reisender vor allem durch die Zeit, aufgebrochen vor vielen Jahrmilliarden, damals, als es noch Menschen gegeben hatte, als die letzten Überlebenden aus der Milchstraße in die Große Magellansche Wolke geflohen waren. Jako, ebenfalls ein Opfer des Krieges, auf seine eigene Art und Weise.

Er ging über weißen Sand, ein grünblaues Meer auf der einen Seite und die grüne Mauer dichter Vegetation auf der anderen. Er ging langsam, die Augen geschlossen, das warme Licht eines gelben Sterns im Gesicht.

»Ich sehe dich«, murmelte Cameron. »Ich höre dich.«

Der Mann blieb stehen, doch der Umhang, den er trug, blieb in Bewegung. Es war nicht der Wind, der ihn bewegte. Der Freund regte sich, vielleicht spürte er etwas.

»Bleib, wo du bist«, sagte Cameron leise. »Halte dich von Jolafor fern. Vielleicht bekommst du dadurch einige zusätzliche Jahre.«

Er nahm den Splitter, in dem er Jako sah und hörte, er nahm ihn vorsichtig und hielt ihn behutsam zwischen grauen Fingerspitzen, bevor er ihn abseits der anderen losließ und beobachtete, wie er allein davonschwebte, ohne Verbindung zu den übrigen.

Es war einfach, wenn man wusste, worauf es ankam.

Auf dem weißen Strand von Morottna, zweiter Planet des Teka-Systems, im Jahr 2412 Terrastandard – in dem Jahr, als die polymorphen Yrrmani entdeckt worden waren –, holte Jako seinen Kompass hervor, der fast genauso aussah wie das Muster der Steine, die ein siebenjähriger Knabe namens Cameron in den Sand eines Flussufers gelegt hatte. Er hob und drehte ihn, aber nichts geschah. Er stand weiterhin auf dem weißen Strand, das Meer auf der einen und der Wald auf der anderen Seite.

Jako ließ seinen Kompass fallen, hob den Kopf und blickte zum Himmel hoch, als vermutete er Cameron irgendwo zwischen den wenigen Wolken. Er rief etwas, aber Cameron hörte nicht mehr hin. Er schob den betreffenden Splitter noch etwas weiter von sich und beobachtete, wie dieser allein zwischen den anderen verschwand.

Eine kleine Geschichte, fast zu Ende erzählt. Eine winzige Episode – und doch ein ganzes langes Menschenleben.

Cameron schloss erneut die Augen, als könnte er dadurch mehr sehen. Als er sie wieder öffnete, näherte sich ein anderer Splitter, vielleicht allein vom Wunsch herbeigerufen.

Er betrachtete ihn, strich den flexiblen Helm zurück, dessen Visier ohnehin keine Daten zeigte und dessen Lautsprecher stumm war, griff unter den Kragen des Einsatzanzugs und zog am dünnen Halsband. Zum Vorschein kam ein silbernes Memo-Medaillon, das er vor vielen Jahren geschenkt bekommen hatte, damals ohne zu verstehen, was es bedeutete.

Mit dem grauen Daumen strich er darüber und sah, wie Koras Gesicht auf der einen Seite erschien und seins auf der anderen, beide jung. Koras Lippen bewegten sich, und sie sagte leise, nur für ihn: »Ich bin bei dir.«

Für einen Moment oder auch zwei hielt er das Medaillon in der Hand. Dann schob er es zurück unter den Kragen des Einsatzanzugs und nahm den Splitter entgegen, der nur eine Armeslänge entfernt wartete. Cameron wusste, was die winzige spiegelnde Fläche zeigte: eine Flussgabelung, links mit einem Wasserfall und rechts mit einem Bauwerk wie ein ins Riesenhafte gewachsener pyramidenförmiger Bienenstock. Die Pyramide, ihre Außenflächen nicht glatt, sondern voller Stufen und Vertiefungen, kam näher.

Dort ruhte Mror, umsorgt von den Honta seines großen Nestes, und erzählte die Geschichte.

Und dort befand sich Kora, gefangen in einem Honta-Kokon.

Ein Köder, wie Mrarl behauptet hatte. Um ihn anzulocken.

Cameron wusste noch immer nicht, warum er so wichtig sein sollte, dass Mror diesen Teil der Geschichte erzählte, die ihn voller dramatischer Wendungen hierhergeholt hatte, nach Garlomir am Ende der Zeit. Er wusste nicht, welche Rolle er spielen sollte, nicht einmal die Splitter konnten es ihm zeigen.

Aber er wusste: Er war kein gewöhnlicher Mensch mehr. Was auch immer die Honta-Königin Mrarl, Eischwester des Erzählers, mit ihm gemacht hatte: Er sah und hörte , er hatte begonnen zu verstehen.

Er verstand genug, um zu wissen, was getan werden musste.

Er würde Kora befreien. Nicht nur aus dem Kokon. Er würde sie aus Mrors Geschichte nehmen und sich selbst ebenfalls. Beide gemeinsam würden sie eine neue Geschichte erzählen, ihre eigene, unabhängig von nichtlinearen Honta-Gedanken, ohne die unberechenbaren Winde des Krieges.

Cameron hielt den Splitter in der offenen Hand und ließ ihn größer werden.

Groß genug, um hineinzuschlüpfen.

97

Links schäumte und spritzte der Fluss über Felsen und stürzte schließlich über den Rand der Klippe in Garlomirs finstere Tiefen. Rechts strömte er ruhig und breit, zu dem pyramidenförmigen Bauwerk, das aus Tausenden von Waben bestand: Mrors Nest, Zentrum der Honta-Macht.

Cameron verharrte zwischen den Felsen.

Honta kletterten aus den Waben, breiteten ihre Flügel aus und flogen dicht über den Fluss hinweg. Sie alle waren klein, nicht länger als zwei oder drei Meter. Entartete, wie Mrarl sie genannt hatte. Ihre Vorfahren mochten vor Dutzenden Jahrmilliarden den Krieg gewonnen haben, aber auch sie waren Überlebende, wie die kleinwüchsigen Menschen, die Jako für einen Gott hielten. Niemand von ihnen konnte die Zeit betrügen, auch wenn sie für Garlomir und den Kugelsternhaufen, vermutlich den letzten seiner Art im ganzen Universum, eine besondere Rolle spielte.

Cameron trug wieder die Atemmaske, den Helm im Nacken zusammengefaltet. Er setzte sich in Bewegung, schlich am Ufer entlang, sein Einsatzanzug halb verbrannt. Er mied die Stellen heller Lumineszenz, blieb im Dunkeln, in der rechten Hand das Messer, das zwar nicht mehr vibrierte, dessen Klinge aber noch immer spitz und scharf war. Er wusste, wohin er den Fuß setzte, er sah es genau, trotz der Dunkelheit, die ihn schützte, und er hörte das Klicken und Knarren der Honta-Stimmen selbst aus großer Entfernung.

Er hörte auch noch etwas anderes: ein seltsames Knistern, das aus dem Boden kam, manchmal begleitet von einem Brodeln aus dem Fluss und einem fernen Grollen vielleicht aus großer Tiefe. Staub rieselte von hohen Felsen, kleine Steine lösten sich. Die Vibrationen und Erschütterungen dauerten einige Sekunden, dann kehrte wieder Ruhe ein.

Cameron schlich weiter. Die Atemmaske vor Mund und Nase gab ihm genug Sauerstoff, Entschlossenheit gab ihm genug Kraft. Immer näher kam er dem großen Bauwerk, der pyramidenförmigen Wabenstruktur, neben der andere Gebäude aufragten, die Reste von ihnen. Wie viel wussten diese Honta, ebenso »entartet« wie die fernen Nachfahren der menschlichen Soldaten? Waren sie noch imstande, so zu sehen und zu hören wie Mrarl, wie der Feind im großen, langen Krieg? Hatten sie sich ihre nichtlineare Natur bewahrt, die ihnen einen Blick über die Zeiten und Räume gewährte? Wussten sie, was geschehen war und geschehen würde?

Niemand stellte sich ihm entgegen. Es schwärmten keine Honta aus, um ihn abzufangen und zu überwältigen. Oder um ihn zu töten. Es wurde, soweit er das feststellen konnte, kein Alarm ausgelöst. Gab es Warnsensoren, stumme, geduldige Wächter, die nach Eindringlingen Ausschau hielten? Existierten verborgene Sicherheitseinrichtungen, die Menschen daran hindern sollten, die Wabenpyramide zu erreichen?

Zwischen einigen aufragenden Felsen am Ufer des ruhigen Flussarms hielt Cameron inne, das Messer noch immer in der rechten Hand. Ein Köder, erinnerte er sich. Kora sollte ihn anlocken. Erneut fragte er sich nach dem möglichen Grund dafür, und wieder fand er keine Antwort. Spielte er tatsächlich eine besondere Rolle im großen Muster der Ereignisse, die sich über Jahrmilliarden erstreckten? War es nicht vermessen, so etwas zu glauben, lief es nicht auf grenzenlose Selbstüberhöhung hinaus? Warum sollte ausgerechnet er wichtig sein für die Geschehnisse, die den Krieg und die Zukunft des Universums bestimmten? Es war vollkommen absurd anzunehmen, dass eine einzelne Person inmitten eines so riesigen, unermesslichen Ereignisozeans von zentraler Bedeutung sein sollte.

Es sei denn …

Cameron duckte sich etwas tiefer zwischen die Felsen am Fluss, als sich unten in der Pyramide einige Waben öffneten und kleine Honta zum Vorschein kamen. Sie schlugen mit ihren Flügeln und glitten wie zuvor die anderen über den Fluss dahin. Mit welcher Aufgabe, mit welchem Ziel? Handelte es sich um Wächter? Waren sie beauftragt, nach ihm zu suchen?

Es sei denn …

Es gab eine Möglichkeit. Einen Plan, der Cameron eine zentrale Rolle gab, ihn sogar zum Dreh- und Angelpunkt des Geschehens machte. Die Honta wussten davon, wenn sie noch durch Zeit und Raum sahen. Und er wusste, dass sie davon wussten, was ihm vielleicht einen kleinen Vorteil einbrachte.

Er würde versuchen, den großen Erzähler zu töten, Mror, Mrarls Eibruder, der die »falsche Geschichte« erzählte. Der Krieg musste endlich aufhören, wenigstens hier, am Ende der Zeit. Möglicherweise gab es sogar … Rückwirkungen, nichtlineare Wellen, die sich durch Zeit und Raum ausbreiteten, von der fernen Zukunft in die Vergangenheit.

Eine neue Mission, ein Ziel – das Leben des Erzählers beenden, mit dem Messer, wenn es nicht anders ging. Ein letzter Kampf für den zum Admiral gewordenen Soldaten. Was hatte Grindel gesagt? Wir kämpfen überall dort, wo wir kämpfen müssen.

Cameron wartete, bis die Honta in der Ferne verschwunden waren, bevor er den Schutz der Felsen verließ, in der Hand das Messer, das ein letztes Mal töten sollte.

98

Natürlich gab es keine Brücken, die über den breiten Flussarm führten, Honta brauchten so etwas nicht. Auf der Suche nach einem Übergang blieb Cameron nichts anderes übrig, als sich wieder ein Stück weit von der Wabenpyramide zu entfernen, bis er schließlich eine Stelle fand, wo das Wasser flach genug war, um hindurchzuwaten.

Cameron rutschte auf einem Stein mitten im Fluss aus und fiel. Stechender Schmerz zuckte durch Schulter und Knie, aber der Soldat achtete nicht darauf, er kam sofort wieder auf die Beine und ging weiter. Es ertönte kein Alarm, nur das Rauschen des Wassers begleitete ihn zur anderen Seite, wo er sich in die Lücke zwischen zwei Felsen zwängte und horchte.

Nichts regte sich um ihn herum, niemand schien ihn bei der Flussüberquerung beobachtet zu haben, obwohl der Fluss vom Pyramidenbau aus gut zu überwachen war. Vorsichtig tastete er Bein und Schulter ab, um herauszufinden, ob er sich verletzt hatte. Aus dem stechenden wurde ein dumpfer Schmerz, und nichts schränkte seine Bewegungen ein.

Und er musste in Bewegung bleiben, wenn er im nassen Einsatzanzug nicht frieren wollte. Geduckt schlich er an einer Felswand entlang, die nur einige wenige dünne Mineralienadern mit Lumineszenz enthielt. Das verhaltene Knacken und Knirschen kleiner Steine unter seinen Stiefeln klang fast wie die Honta-Sprache.

Immer wieder sah er zur Pyramide auf, doch die Waben blieben geschlossen, es brachen keine weiteren Honta zu einem Flug über den Fluss auf.

Der Feind wusste, dass er kam. Aber wusste er auch um das Wie und Wo Bescheid? Kannte er jeden Schritt, jedes Detail? Ruhten die ganze Zeit über wissende Honta-Blicke auf ihm, was er auch tat, wohin er sich auch wandte?

Niemand versuchte, ihn aufzuhalten.

Der große Pyramidenbau war das Ziel. In seiner Mitte, umgeben von schützenden Waben, erzählte Mror seine große Geschichte, daran zweifelte Cameron nicht. Er hatte ihn gesehen, in einem der winzigen Splitter, die Spinne im Netz, das sich Jahrmilliarden durch Zeit und Raum erstreckte.

Ich krieche über einen der Fäden, dachte Cameron, als er sich der Pyramide näherte. Ich lasse ihn erzittern, den Faden, so vorsichtig ich auch bin, und die kleine Vibration verrät mich der Spinne. Aber ich weiß auch, dass sie von mir weiß, und ich bin nicht wehrlos.

Er erreichte die Pyramide und berührte ihre warme Mauer aus rauem, porösem Gestein. Er legte beide Hände darauf, die freie linke und die rechte mit dem Messer. Kora – wo befand sie sich? Wohin hatte man sie gebracht? Vielleicht trennten ihn nur wenige Wände von ihr.

Kora, der Köder. Er hätte ihn ignorieren können, und vielleicht wäre das besser gewesen. Vermutlich rechnete der Feind nicht mit einem sofortigen, unmittelbaren Angriff auf das Zentrum seiner Macht. Aber Grindel hatte seine Kinder und Rekruten nicht nur gelehrt, immer und unter allen Umständen zum Kampf bereit zu sein. Ebenso wichtig war, Menschen zu helfen, wo ihnen geholfen werden konnte. Wer dieses Gebot missachtete, verletzte einen Teil seiner Soldatenpflicht, und das kam gerade Kora gegenüber nicht in Frage.

Ich bin gleich bei dir, dachte Cameron. Er konzentrierte sich und fühlte sie nahe, die Splitter der Zeit. Einer hatte ihn hierhergebracht, ein anderer konnte ihm zeigen, wo sich Kora befand.

Er nahm die linke Hand von der Mauer, hielt sie offen und gerade und stellte sich den Funkenschwarm vor, das Schimmern und Glitzern. Ein Licht entstand über der Handfläche, von der das Flusswasser den Ruß gewaschen hatte, und leuchtete so hell, dass Cameron Entdeckung befürchtete und die Hand schloss.

Sofort kehrte die Dunkelheit zurück. Cameron wartete einige Sekunden, bevor er die linke Hand wieder öffnete, langsam und vorsichtig. Aus dem Licht wurde ein Splitter wie von einem Spiegel und zeigte ihm Kora, von klebrigen Fäden umhüllt, die nur den Kopf unberührt ließen. Er sah genauer hin …

Etwas störte seine Konzentration, und das Licht verschwand. Mit einem dumpfen Knacken und Knirschen öffnete sich wenige Meter entfernt eine Wabe, und ein Honta streckte die vorderen Gliedmaßen nach draußen.

Cameron erstarrte, eine vage Silhouette in der Dunkelheit. Kälte kroch in den nassen, zerrissenen Einsatzanzug. Durch die Atemmaske schien er plötzlich nicht mehr genug Luft zu bekommen.

Den vorderen Gliedmaßen folgten die Fühler, und sie neigten sich in Camerons Richtung.

Er beugte die Knie, bereit für den Sprung, das Messer nach vorn gerichtet. Die Welt schien wieder zu schrumpfen, bis sie nur noch ihn und den Gegner enthielt, einen Honta nicht größer als die anderen, nur zwei oder drei Meter, aber dennoch stärker als ein Mensch. Cameron musste ihn überraschen, ihm zuvorkommen, nur dann hatte er eine Chance.

Ein Schatten flog aus der Finsternis heran, groß und massiv, so plötzlich, dass Cameron, der besser sah als zuvor, ihn erst im letzten Augenblick bemerkte. Ein Honta landete zwischen ihm und der offenen Wabe, eine Königin mit ungelegten Eiern in ihrer Fruchtblase. Eins ihrer Beine stieß den kleineren Artgenossen ins Innere der Pyramide zurück, ein anderes neigte sich Cameron entgegen.

»Mrarl?«, klickte er verblüfft, das Messer noch immer gehoben.

»Es tut mir leid, Mensch«, knarrte die Honta-Königin. »Dies wird dir nicht gefallen.«

Das Bein traf Cameron an der Seite des Kopfes. Dunkelheit verschluckte ihn.