Hudson, ∞
Garlomir
Nach dem Hang, der einer Rampe ähnelte, kam Hudson nur sehr langsam voran. Das Geröll am Ufer des subplanetaren Flusses zwang ihn zum Klettern, was Energie kostete. Sein Gravitator wäre dabei ungemein hilfreich gewesen, aber seine Selbstreparaturfunktion war noch damit beschäftigt, ihn wieder vollständig wiederherzustellen.
Immer wieder musste Hudson innehalten und die improvisierte Wärmepumpe als Energiequelle nutzen, um die Akkumulatoren zu laden. Wobei er nicht über ein bestimmtes Niveau hinausgehen durfte, damit seine Systeme vor einem Funktionsausfall durch den Einfluss der Inhibitoren geschützt blieben. Orientierung, Bewegung, Situationsanalyse – alles unterlag erheblichen Beschränkungen. Er konnte nicht annähernd so schnell und gründlich denken, wie es notwendig gewesen wäre.
Eins aber war ihm klar: Je mehr Zeit verging, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass er zu spät eintraf, um seinen letzten Auftrag zu erfüllen.
Wohin auch immer Admiral Cameron und die Honta-Königin verschwunden waren … Hudson begriff, dass er eine Möglichkeit finden musste, schneller zu ihnen zu gelangen.
Als er während einer weiteren Pause für die Energiegewinnung darüber nachdachte, registrierten seine haptischen Sensoren ein Zittern im Boden, eine allgegenwärtige, die gesamte Umgebung betreffende Vibration.
Innerhalb weniger Sekunden wurden daraus so heftige Erschütterungen, dass das Wasser des nahen Flusses zu schäumen begann und sich der Felsen, neben dem Hudson angehalten hatte, zur Seite neigte. Es gelang dem Mikronauten gerade noch rechtzeitig, seinem Fall mit einem raschen Sprung auszuweichen.
Er verharrte zwischen zwei zitternden runden Steinen und versuchte zu ergründen, was geschah. Auf Garlomir gab es seit Äonen keine tektonische Aktivität mehr, es konnte also kein Erdbeben gewesen sein.
Bei der Suche in den restaurierten Datenspeichern stieß er auf die Ergebnisse von Messungen, die die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Universums betrafen. Er erinnerte sich an seine erste Annahme, dass das große Auseinanderreißen erst in einigen hunderttausend Jahren Terrastandard erfolgen würde. Dann war ihm aufgefallen, dass die Abstände der Sterne des Kugelhaufens zunahmen, was auf eine extreme Beschleunigung der Ausdehnung hindeutete. Er hatte neue Berechnungen vorgenommen und war dabei zu dem Schluss gelangt, dass sich die endgültige Katastrophe – die Auflösung fester Materie und sogar ihrer Atome – nicht erst in hunderttausenden Jahren anbahnte, sondern bereits in wenigen Jahren, vielleicht sogar in Monaten oder Wochen.
Hudson sammelte neue Daten, so gut das mit den wiederhergestellten Sensoren und begrenzter Energie möglich war. Bei ihrer Analyse reifte die Erkenntnis in ihm heran, dass der große Riss bereits begonnen hatte. Es blieben nicht einmal mehr Monate oder Wochen, sondern nur noch Tage, vielleicht Stunden.
Er dachte darüber nach, während die Erschütterungen und Vibrationen, Vorboten von etwas viel Gewaltigerem, allmählich nachließen.
Das Universum starb. Die Expansion des Raums nahm solche Ausmaße an, dass es die Sterne und Planeten des bisher stabil gebliebenen Kugelhaufens zerfetzen würde. Nicht einmal die Atome würden der explosiven Ausdehnung standhalten.
Das Ergebnis: ein immenses, kolossales Nichts, in dem nicht einmal mehr Vakuumenergie existierte, eine dunkle Leere ohne Inhalt. Und selbst dieses Nichts würde schließlich zerreißen – und mit ihm die Zeit.
Und danach?, fragte sich Hudson. Sofort erkannte er die Absurdität des Gedankens, denn wenn es keine Zeit mehr gab, hatte es keinen Sinn, über ein Danach zu spekulieren.
Die Ladung der Akkumulatoren genügte nicht, um den Weg fortzusetzen. Hudson musste weiter warten, während die Wärmepumpe Energie sammelte, und verbrachte die Wartezeit mit Überlegungen und Berechnungen.
War die Beschleunigung der Expansion inhärent, lag sie im Vorgang der Ausdehnung selbst begründet? Es ließ sich nicht ganz ausschließen, fand Hudson, obwohl sich bei den Messungen und Analysen kein physikalischer Faktor ergeben hatte, der als Erklärung in Frage kam. Welchen anderen Grund konnte es geben?
Wollte der Erzähler seine große Geschichte zu Ende bringen? Es erschien Hudson noch absurder als zuvor die Frage nach dem Danach ohne Zeit. Gedanken und Worte konnten durchaus Einfluss auf die Realität nehmen, wenn sie von handelnden Individuen in die Tat umgesetzt wurden. Doch in dem Fall existierte eine klare, logische Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Aber wie sollten Gedanken oder Worte ohne Taten die Wirklichkeit bestimmen und verändern, ohne irgendeine Art von physischer Einwirkung?
Schließlich meldeten die Akkumulatoren ausreichend Ladung, und sofort setzte Hudson seinen Weg fort. Am Flussufer entlang eilte er von Stein zu Stein, zwängte sich durch Lücken zwischen Felsbrocken und vermied Klettern, wo er es vermeiden konnte, weil es mehr Energie benötigte.
Wieder kam er viel zu langsam voran. Dieses Problem, erkannte er, erforderte seine volle Aufmerksamkeit, zumal der Zeitfaktor eine noch größere Rolle spielte als bisher angenommen.
Welche Möglichkeiten gab es, schneller voranzukommen?
Hudson blieb am Flussufer stehen und fragte sich, ob er schwimmen sollte oder ob es möglich war, ein Boot zu bauen. Aber wie, aus welchen Materialien?
Einige hundert Meter entfernt kam ein Honta aus der Dunkelheit und flog dicht über dem Fluss stromaufwärts. Hudson beobachtete ihn, versteckt hinter einem Stein, und plötzlich hatte er eine Idee, das Ergebnis einer schnellen Datenkorrelation.
Er trat hinter dem Stein hervor, bis zur Wassergrenze, hob dort beide Arme, winkte und rief: »Ich bin hier! Ich bin hier!«
Die Worte blieben für den Honta natürlich sinnlos, er konnte sie nicht verstehen. Es genügte, wenn er sie hörte, wenn er die Schallwellen registrierte.
Das geflügelte Wesen änderte den Kurs und kam direkt auf ihn zu.
Hudson veränderte die Konsistenz der äußeren Schichten seines Flexmetall-Körpers, sicherte die internen Systeme und ließ die Arme sinken. Wenige Sekunden später war der Honta heran und packte ihn mit den ausgestreckten vorderen Gliedmaßen. Krallen bohrten sich ihm in die weich gewordenen Hautschichten und hoben ihn hoch.
Hudson ließ es mit sich geschehen, in der Hoffnung, dass ihn der Honta dorthin trug, wo sich Admiral Cameron und die Honta-Königin befanden.