Hudson, ∞
Garlomir
Die haptischen Sensoren funktionierten mit minimaler Energie und vermittelten nicht das Äquivalent von Schmerz, sondern Daten, die Kontakte mit Substanzen und Gegenständen betrafen.
Hudson hatte ihre Empfindlichkeit reduziert, um nicht zu viele Alarmmeldungen zu empfangen, aber trotzdem mangelte es nicht an warnenden Hinweisen. Sie teilten ihm mit, dass sich die Krallen des Honta, der ihn trug, zu tief in eine weich und amorph gestaltete Epidermis bohrten, was die Funktionen der internen Systeme bedrohte.
Während des Flugs über den Fluss machte sich Hudson daran, seine Interna zu schützen, indem er den äußeren Schichten seines Körpers mehr Festigkeit gab und die Krallen ein wenig zurückdrängte.
Das merkte der Honta und fürchtete offenbar, seine Beute zu verlieren, weshalb er noch fester zugriff. Hudson schirmte daraufhin seine wichtigsten Systeme besser ab, vor allem die rekonstruierte Signaleinheit, damit ihre Integrität gewahrt blieb.
Voraus geriet ein pyramidenartiges Bauwerk in Sicht, bestehend aus zahlreichen wabenartigen Strukturen. Der Honta flog darauf zu und ging etwas tiefer. Eine der Öffnungen ganz unten schien sein Ziel zu sein.
Hudson nahm eine rasche Situationsanalyse vor und berechnete die Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Szenarien. Den höchsten Wert erzielte die Möglichkeit, dass man ihn für ein wichtiges Artefakt hielt, das genauer untersucht werden musste, woraus folgte, dass nach wie vor keine unmittelbare Zerstörungsgefahr bestand. Man würde ihn vermutlich zu einem Ort bringen, an dem eine genaue Untersuchung stattfinden konnte. Dass dort eine Verständigung möglich war, bezweifelte Hudson. Aber vielleicht erhielt er Gelegenheit, wichtige Informationen zu sammeln und herauszufinden, wo sich Admiral Cameron und die Honta-Königin aufhielten.
Es bestand durchaus das Risiko von Schäden und Defekten, das ließ sich nicht vermeiden. Hudson legte detaillierte redundante Anweisungen in seinen Selbstreparatursystemen ab, mit Prioritäten bei der Wiederherstellung wichtiger Funktionen. Die höchste davon hatte die Signaleinheit – er musste in der Lage sein, das Zündsignal zu senden.
Der Honta trug ihn durch die Öffnung ins Innere der großen, aus einer Vielzahl von Waben bestehenden Pyramide und flog mit etwas reduzierter Geschwindigkeit durch Tunnel und Räume. Die Sensoren übermittelten Hudson neue ambientale Daten: Die Temperatur stieg, und die Luft enthielt mehr Sauerstoff, genug für die Atmung von Menschen, was die Überlebenschancen des Admirals erhöhte. Hinzu kamen energetische Emissionen gerade unterhalb der Inhibitionsschwelle. Offenbar gingen sie von Lichtquellen aus, in deren Schein Photosynthese betreibende Zellkulturen wuchsen, was den gestiegenen Sauerstoffanteil der Luft erklärte.
Hudson fügte die Sensordaten zu einer Übersicht zusammen, die es ihm gestattete, ihren Weg in Relation zur Umgebung zu verfolgen. Erst ging es weiter ins Innere des Pyramidenbaus, der sehr alt zu sein schien, dann durch fast vertikale Schächte hinab in die Tiefe, umschwärmt von zahlreichen Honta. Es wurden immer mehr, so viele, dass eine sichere Navigation kaum mehr möglich war.
Was den Honta, der Hudson trug, schließlich veranlasste, etwa hundert Meter unter der Pyramide in einem Raum zu landen, in dessen offenen Waben Larven lagen. Mit klickenden, klackenden und knarrenden Lauten verständigte er sich mit seinen Artgenossen, fügte der verbalen Kommunikation sich verändernde Körperfarben und Bewegungen von Fühlern und Gliedmaßen hinzu. Hudson nahm es zur Kenntnis, ohne den Mitteilungscode der Honta entschlüsseln zu können, dazu reichte seine Verarbeitungskapazität bei weitem nicht aus. Er bedauerte es sehr, denn dadurch blieb ihm der Zugang zu einer wichtigen Informationsquelle verwehrt.
Die Krallen hielten ihn noch immer fest. Natürlich hätte er sich jederzeit durch eine weitere strukturelle Veränderung der äußeren Körperschichten befreien können, doch es wäre kaum möglich gewesen, den Honta zu entkommen, denn er musste sein energetisches Niveau so niedrig wie möglich halten, was eine starke Begrenzung seiner motorischen Funktionen bedeutete. Er konnte sich nur langsam bewegen, Laufen oder schnelles Klettern kamen nicht in Frage. Die Reparaturfunktion hatte inzwischen den Gravitator wiederhergestellt, aber es stand nicht genug Energie für einen Flug zur Verfügung, den die Inhibitoren vermutlich ohnehin unmöglich gemacht hätten.
Abwarten erschien ihm die beste Option. Daten sammeln, auswerten, die Situation analysieren, bis sich eine Gelegenheit zu konkretem Handeln bot.
Überraschenderweise wandten sich die vielen Honta, die den Neuankömmling in Empfang genommen hatten, nun von ihm ab und krabbelten und flogen an den offenen Waben vorbei in einen breiten Tunnel, der offenbar noch etwas weiter in die Tiefe führte.
Der Honta mit dem Mikronauten in seinen Krallen breitete seine Flügel aus, stieg wieder auf und folgte den anderen. Er schien es eilig zu haben.
Plötzlich geschah etwas, das eine noch größere Überraschung war. Eine Energiepatrone, die zur technischen Ausstattung seines Flexmetall-Körpers gehörte, meldete Hudson eine Ladung von siebenundzwanzig Prozent. Das war nicht viel. Unter normalen Umständen hätte ihn ein solcher Hinweis veranlasst, den Energiebedarf seiner Systeme zu reduzieren und eine baldige Wiederaufladung auf die Prioritätenliste zu setzen. Aber es handelte sich um weitaus mehr Energie, als ihm bisher zur Verfügung gestanden hatte.
Langsam und vorsichtig verbesserte er die Leistungsfähigkeit seiner Sensoren und fuhr die internen Systeme hoch. Das energetische Niveau stieg, ohne dass sich ein begrenzender Einfluss bemerkbar machte.
Hudson folgerte daraus, dass die Inhibitoren deaktiviert oder ausgefallen waren.
Daraus ergaben sich neue Möglichkeiten.
Er recycelte die ineffiziente Wärmepumpe, die ihn bisher mit Notenergie versorgt hatte, zapfte die Ladung der Energiepatrone an und begann mit einer neuen Situationsanalyse.
Kommunikation : Das Kommunikationssystem funktionierte, es meldete volle, uneingeschränkte Funktionsbereitschaft. Dennoch konnte weiterhin keine Verbindung mit Admiral Cameron oder dem Angriffsjäger auf der Oberfläche von Garlomir hergestellt werden.
Rekonstruierte Signaleinheit : Ihr Leistungspotenzial war gestiegen. Hudson verband sie mit dem Kommunikator.
Priorität : An seiner Mission, am letzten Auftrag, änderte sich nichts. Wenn er die Honta-Königin fand, musste Hudson die Bombe in ihr zünden, sofern der Admiral dazu nicht imstande war und keine anderweitigen Anweisungen erteilen konnte.
Bewegungs- und Aktionsfreiheit : Um den letzten Auftrag zu erfüllen, musste er sich frei bewegen und agieren können. Der Honta, den er als Transportmittel benutzt hatte, hielt ihn noch immer fest, die Krallen waren noch immer tief in seine äußeren Körperschichten gebohrt. Mit der zusätzlichen Energie wäre es ihm möglich gewesen, sich sofort aus dem Griff zu befreien, zu laufen und flink zu klettern. Aber in welche Richtung sollte er sich wenden?
Diese Frage brachte Hudson zum nächsten Punkt:
Ortung : Er vergrößerte das Funktionsspektrum seiner Sensoren, stellte ihnen mehr Energie zur Verfügung und leitete eine umfassende Sondierung ein.
Eins der ersten Ergebnisse bestand aus Daten, die auf zunehmende Instabilität in der planetaren Kruste von Garlomir hinwiesen. Vibrationen und Erschütterungen wiederholten sich und wurden heftiger. Während des Flugs spürte man nichts, deshalb hatte Hudson es bisher nicht bemerkt, aber die kritische Phase rückte immer näher.
Das zweite Resultat betraf eine Wärmequelle, nicht weiter als dreihundert Meter entfernt. Dort gab es Energieströme, und allem Anschein nach waren die vielen Honta genau dorthin unterwegs.
Orientierung : Dieser Punkt stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem vorherigen. Die Wärmequelle mit den Energieströmen stellte ein wahrscheinliches Ziel dar. Daraus ergaben sich zwei Möglichkeiten: Entweder entschied Hudson, sich aus dem Griff der Krallen zu lösen und den Weg allein fortzusetzen, oder er ließ sich weiterhin tragen, da sich der Honta, der ihn festhielt, all den anderen angeschlossen hatte, die zur Wärmequelle unterwegs waren.
Hudson wählte die zweite Möglichkeit, weil er es noch immer für angebracht hielt, sparsam mit seiner Energie umzugehen. Und weil er vermeiden wollte, mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er blieb reglos, ohne seine Haut zu verändern und die Krallen abzustoßen, doch er fuhr heimlich mit der Sondierung fort.
Die Sensoren erweiterten seinen Wahrnehmungshorizont: Er sah die Schächte, Tunnel und Räume unter der Pyramide, die Verbindungen zwischen ihnen, ein uraltes Netzwerk, das tief in den Planeten reichte und zu einem großen Teil gar nicht mehr benutzt wurde. Und er sah einen großen Raum nicht weit voraus, eine Höhle mit einem Durchmesser von mehr als fünfhundert Metern. Dort befand sich die Wärmequelle, dort trafen sich die georteten Energieströme.
Der ihn tragende Honta flog so dicht über seine Artgenossen hinweg, dass Hudson mit den Beinen Rückenpanzer und nach oben gerichtete Fühler berührte. Er zog die Beine an, ohne den Griff der Krallen zu beeinträchtigen, und verbesserte die Auflösung der Sensoren mit ein wenig mehr Energie.
Die ermittelten Daten präsentierten eine vertraute Biosignatur in der Höhle direkt voraus – Admiral Cameron befand sich dort, noch dazu in der Gesellschaft eines zweiten Menschen!
Zwei weitere signifikante biologische Signaturen betrafen größere Honta. Einer von ihnen konnte Mrarl sein, vermutete Hudson.
In der Höhle lag die Temperatur ein ganzes Stück über dem Gefrierpunkt von Wasser, was zum einen auf die Energieströme zurückzuführen war und zum anderen auf die Präsenz der vielen kleinen Honta, die sich vor einem riesigen Gespinst zusammendrängten und über seine Stränge krabbelten. In der Mitte sah Hudson mit den visuellen Sensoren eine Blase, die einen besonders großen Honta enthielt. Er war noch ein ganzes Stück größer als die Königin.
Mrarl befand sich direkt unter der Blase und hielt zwei Menschen auf ihrem Rückenpanzer fest. Admiral Cameron und seine Begleiterin, vermutlich Kora, befanden sich in ihrer Gewalt!
Damit waren alle Voraussetzungen erfüllt. In seiner gegenwärtigen Situation konnte der Admiral nicht den Befehl für die Zündung der Bombe geben, und Mrarl stellte ganz offensichtlich eine Gefahr für ihn und die Frau an seiner Seite dar.
Hudson handelte.
Er veränderte die Beschaffenheit seiner Epidermis, gab ihr eine feste Struktur und an einigen bestimmten Stellen scharfe Kanten.
Krallen brachen, der Honta fauchte.
Hudson fiel.
Dicht über den anderen kleinen Honta auf dem Höhlenboden fing er seinen Sturz mit dem Gravitator ab, gab ihm mehr Energie, stieg auf und sendete das Zündsignal.