Prolog

Es war ein kühler, wolkiger Tag im Juni, als das Schicksal seine Weichen stellte. Bis zum frühen Morgen hatte das Wetter damit gedroht, den geplanten Ausflug buchstäblich ins Wasser fallen zu lassen. Jetzt war die kleine Reisegruppe nach dreistündiger Seefahrt endlich am Ziel angekommen. Doch Anton hatte nur noch Augen für sie.

Selbst aus der Ferne wirkte ihre zierliche Gestalt so zerbrechlich wie Porzellan. Obwohl bis zum Abend kaum mit Sonnenschein zu rechnen war, trug sie einen breitkrempigen Hut, der ihr milchweißes Gesicht beschattete. Dennoch bemerkte Anton die dunklen Halbmonde unter ihren Augen, die ihr den Anschein verliehen, sie erhole sich nur mühsam von einer langen Krankheit. Selbst das Lächeln ihrer blassen Lippen wirkte etwas angestrengt, fast so, als leide sie unter einer tiefen Traurigkeit, die nicht einmal die Scherze ihres Begleiters vertreiben konnten.

Je länger Anton sie und den Mann neben ihr beobachtete, desto stärker beschlich ihn das Gefühl, dass dieser Typ die Ursache für ihre Melancholie darstellte. Zugegeben, er sah blendend aus: sportliche Figur, kantige Wangenknochen, gerade Nase, breites Kinn und kräftige Brauen über den etwas eng stehenden Augen. Das schwarze Haar war so perfekt geschnitten, dass selbst der Seewind Mühe hatte, es zu zerzausen. Männer dieses Kalibers wussten für gewöhnlich, dass ihnen die Frauenherzen zuflogen. Daher wunderte es Anton nicht, diese zarte Schönheit an seiner Seite zu sehen. Nur spürte er allzu deutlich die düsteren Schwingungen zwischen dem Paar.

Im selben Atemzug schalt er sich einen Idioten. Natürlich waren es bloße Wunschvorstellungen, die sein verblendetes Gehirn produzierte. Wie ein pubertierender Jüngling sah er sich als weißer Ritter, der seine Herzdame aus den Fängen des dunklen Lords befreite. Mit einem energischen Kopfschütteln riss er sich vom Anblick dieser Frau los. Bis zum Ende des Tages würde er es nicht einmal schaffen, drei unverbindliche Sätze mit ihr zu wechseln oder sie gar nach ihrem Namen zu fragen. Jedenfalls nicht, solange dieser Dressman sie so gekonnt von den übrigen Menschen abschirmte. Wie ein Wachhund hielt er jeden auf Distanz, der höflichen Kontakt suchte. Richtete jemand das Wort an sie, antwortete er, bevor sie auch nur die Chance bekam, den Mund zu öffnen. Näherten sich mehrere Personen gleichzeitig, legte er seinen Arm um ihre Schultern und führte sie wie beiläufig ein Stück von der Gruppe fort. Tatsächlich hatte es den Anschein, als befürchtete er, sie könne etwas ungeheuer Dummes sagen oder ihn auf eine andere Weise beschämen. Dabei wirkte sie aus Antons Sicht viel zu schüchtern, um mehr als artig gestammelte Konversation zu treiben.

Seine Grübeleien ließen ihn fast vergessen, wo er sich aufhielt und wie viele Umstände es gekostet hatte, an diesen Ort zu gelangen. Wie ferngesteuert schlenderte er die gewundenen Treppen auf und ab, schaute in jedem Stockwerk in alle Himmelsrichtungen aus den Fenstern hinaus auf das Meer. Gedankenverloren betrachtete er die museale Einrichtung der runden Räume, die trotz der kaum isolierten Stahlwände eine erstaunliche Behaglichkeit verströmten. Noch einmal erklomm er die letzte Wendeltreppe hinauf ins Laternenhaus. Von dort führte eine schmale Tür auf die Galerie. Anton trat in den ewigen Wind hinaus.

Dort stand sie. Allein. Mit ihren zartgliedrigen Händen umklammerte sie das niedrige Geländer. Wie gebannt blickte sie auf einen weit entfernten Punkt am Horizont.

Jetzt oder nie. Anton konnte sein Glück kaum fassen. Mit mühsam gezügelten Schritten ging er auf sie zu.

»Beeindruckend, nicht wahr?« Sofort ärgerte er sich, dass ihm keine intelligentere Ansprache eingefallen war.

Sie benötigte einen Atemzug, um zu begreifen, dass sie gemeint war.

»Ja. Es ist einfach atemberaubend«, entgegnete sie. Ihre Stimme klang verblüffend tief und melodisch.

»Dieser Leuchtturm ist wirklich etwas ganz Besonderes. Gott sei’s gedankt, dass man ihn vor dem Verfall gerettet hat«, plapperte er weiter.

»Als Kind habe ich Postkarten gesammelt, auf denen er abgebildet ist.« Etwa eine Sekunde lang überwand sie ihre Schüchternheit und sah ihm direkt in die Augen.

Dies war der Moment, in dem er dieser Frau hoffnungslos verfiel. Im strahlenden Grün ihrer Iris schimmerte eine unstillbare Sehnsucht nach Freiheit, gepaart mit einer unvorstellbaren Angst, auch nur den ersten Schritt aus ihrem Schneckenhaus zu wagen. Dieser eine Blick löste in Anton den unbändigen Wunsch aus, sie vor allem Übel dieser Welt zu beschützen, koste es, was es wolle.

»Jede Nacht vor dem Einschlafen habe ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre, hier zu wohnen. Ganz allein, mitten auf See«, sagte sie versonnen. Plötzlich senkte sie beschämt die Lider. »Bitte entschuldigen Sie, ich rede kindisches Zeugs.«

»Nein, überhaupt nicht«, entgegnete Anton schnell. »Mein Urgroßvater hat hier als Leuchtturmwärter gearbeitet. Die Männer haben wochenlang auf dem Turm gewohnt, bis die Ablösung kam. Ich habe alte Briefe auf dem Dachboden meines Elternhauses gefunden, die er während seiner Dienstzeiten an die Familie geschrieben hat. Seither habe ich mir gewünscht, eines Tages hierherkommen zu können.«

»Und jetzt sind wir beide hier«, sagte sie.

Mit diesem einen Satz versicherte sie Anton, dass sie dasselbe fühlte wie er. Es war kein Zufall, dass sie sich ausgerechnet hier begegneten. Es war ihre Bestimmung.

»Wie ich sehe, haben Sie meine Verlobte gut unterhalten«, sagte eine strenge Stimme aus dem Off.

Anton drehte sich um. Der dunkelhaarige Typ stand so dicht vor ihm, dass er seinen Atem im Gesicht spürte. Instinktiv trat Anton einen Schritt zurück.

»Robert, da bist du ja.« Sie lächelte ihm gehorsam entgegen. Eher pflichtschuldig ließ sie es zu, dass er einen Arm um ihre schmalen Schultern legte.

Der Bann war gebrochen. Dennoch bereitete es Anton Übelkeit zu sehen, wie der Macho seine Besitzansprüche zur Schau stellte. Außerdem verriet jede ihrer Regungen, wie unglücklich sie in diesem Augenblick war. Anton verspürte den intensiven Drang, den Mistkerl einfach über die Reling ins Meer zu stoßen.

Noch viele Jahre später wünschte er sich, er hätte es damals tatsächlich getan.