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»Willst du wirklich für den Rest des Wochenendes Trübsal blasen?« Moritz streckte die Hand aus, um Lisa an der Schulter zu berühren, zuckte jedoch zurück, als hätte ihn ein Stromschlag erwischt. »Es steht dir natürlich frei, das zu tun. Zumal ich dir die Laune gründlich verdorben habe. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass es dich glücklicher macht, wenn du dich schmollend in deiner Koje verkriechst.«

Lisa gab den Versuch auf, sich schlafend zu stellen. Sie schlug die Augen auf und betrachtete Moritz’ Gesicht, das zwischen den Vorhängen im Schatten lag.

»Karla ist oben und bereitet eine Geburtstagsüberraschung für dich vor«, sagte er. »Verfluche mich, so viel du willst. Aber glaube mir: Sie hat keine Ahnung. Andernfalls hätte sie mich in der Zwischenzeit längst gehäutet, gevierteilt und meine Einzelteile an die Möwen verfüttert.«

»Ich verfluche dich nicht.« Lisa kroch aus der Koje und setzte sich neben Moritz auf die Bettkante. »Du bist ein echter Freund, der einzige, den ich noch habe.« Von ihrer Wut war nichts geblieben als eine tiefe Traurigkeit.

Dass Moritz sie so offensichtlich begehrte, veränderte einfach alles. Vor allem bedeutete es, dass sich ihre Wege trennen würden, sobald sie wieder auf dem Festland waren. Seit ihrer Entlassung aus der Klinik wohnte Lisa in der großzügigen Altbauwohnung der Dehnhardts, in der das zweite Kinderzimmer nie mehr als eine Abstellkammer gewesen war. Wie alles andere in ihrem bisherigen Leben hatte Lisa diese Gastfreundschaft als selbstverständlich hingenommen. Es war dringend an der Zeit, ihre Ängste zu überwinden und der Welt da draußen allein die Stirn zu bieten. Auch wenn es bedeutete, dass sie eine Menge zu lernen hatte.

Eine Rückkehr in die feudale Villa, die sie gemeinsam mit Robert bewohnt hatte, war jedoch völlig ausgeschlossen. Dort würde er wie gewohnt hinter jeder Ecke lauern, um seiner ungehorsamen Frau eine gehörige Tracht Prügel zu verpassen. Lisa schaffte es nicht einmal in Begleitung eines Maklers, einen Fuß in dieses Geisterhaus zu setzen. Sie hatte dem freundlichen jungen Mann bereitwillig die Schlüssel überlassen, obwohl sich ihr gesamtes Hab und Gut nach wie vor in der Villa befand. Abgesehen davon, dass die meisten Sachen in einem kleinen Häuschen, wie sie es sich vorstellte, ohnehin keinen Platz fänden, würde sie sich von allem trennen, das an ihr Eheleben mit Robert erinnerte. Bislang hatte ihr schlicht die Energie gefehlt, sich um ihre Zukunft zu kümmern. So gesehen versetzten Moritz’ Annäherungsversuche ihr nur den notwendigen Tritt in den Hintern.

Falls nicht alles anders käme. Morgen früh würde Anton ihre Postkarte lesen. »Es ist noch nicht zu spät.«

»Wie bitte?«, fragte Moritz.

»Nichts«, entgegnete Lisa rasch. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte.

»Also, was ist, gehen wir endlich?« Jetzt stupste er sie freundschaftlich an.

»Natürlich«, sagte sie und schenkte ihm ihr mädchenhaftes Lächeln.

Sofort bemerkte sie, wie sich seine verkrampften Muskeln ein wenig lockerten.

Gleich darauf vernahmen sie ein Poltern auf der Treppe.

»Was macht ihr denn hier unten?« Leon schoss um die Kurve und stoppte keuchend vor ihnen. Trotz des schummrigen Petroleumlichts sah Lisa, wie seine geröteten Wangen leuchteten. »Es ist gleich so weit!« Er griff nach ihrer Hand und zog sie förmlich mit sich die Treppe hinauf.

Moritz folgte ihnen mit einem Schritt Abstand.

Völlig außer Atem erreichte Lisa die Galerie. Der kalte Wind schnitt scharf in ihr erhitztes Gesicht. Wolkenfetzen zogen über den Nachthimmel. In der Ferne lagen matt beleuchtete Schiffe scheinbar bewegungslos auf See. Ein atemberaubend schöner Anblick, der sie unweigerlich in seinen Bann schlug. Weit im Norden blitzte ein gleißender Lichtstrahl auf, verschwand wieder, um kurz darauf erneut zu erscheinen.

»Was ist das?«, fragte Lisa.

»Helgoland«, antwortete Moritz. »Die Insel hat das stärkste Seefeuer in ganz Deutschland. In klaren Nächten wie dieser sieht man es bis zu den Ostfriesischen Inseln. Oder bis zum Roten Sand.«

Bevor Lisa etwas entgegnen konnte, gewahrte sie eine Veränderung, die hinter ihrem Rücken vor sich ging. Zögernd drehte sie sich um.

Das Laternenhaus war hell erleuchtet.

Nur langsam realisierte sie, dass hinter den Fenstern Dutzende Kerzen und Öllampen flackerten.

»Kein echtes Leuchtfeuer, aber man kann es sich zumindest vorstellen. Jedenfalls ein bisschen«, sagte Moritz. Er klang recht zufrieden mit dem Ergebnis.

»Es ist wunderschön«, brachte Lisa hervor, bevor ihr der Kloß im Hals das Sprechen schwer machte.

Karla kam nun ebenfalls auf die Galerie. Zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn stimmte sie ein Ständchen an, bei dem Leons Knabenstimme herrlich schräg herausstach. Mit dem Ärmel ihrer Strickjacke wischte sich Lisa die feuchten Augenwinkel.

»Herzlichen Glückwunsch, Tante Lisa!«, rief Leon und schlang seine Arme um ihre Taille.

Sie strich ihm über den Rücken; jetzt ließ sie die Tränen hemmungslos an ihren Wangen hinabrinnen.

Vielleicht war dies der beste Zeitpunkt, wenn nicht der einzige, um sämtliche Missverständnisse der letzten Stunden zu begraben.

Doch bevor Moritz und Karla ihre Glückwünsche aufsagen konnten, streifte etwas Scharfes ihren Scheitel. Dann klatschte ein kleines Wesen mit einem hässlichen Geräusch gegen die Scheibe des Laternenhauses. Ein etwas gedämpfterer Laut folgte, als der Vogel direkt vor ihren Füßen zu Boden stürzte. Hilflos zuckte er mit den Flügeln, die in einem unmöglichen Winkel abstanden. Lisa versuchte, einen Laut des Entsetzens auszustoßen. Doch ihre Lungen krampften sich zusammen, dass ihr der Atem stockte.

Leon kniete neben dem verletzten Vogel und streichelte ihn vorsichtig. »Warum hat er das getan?«, fragte er leise.

»Das Licht«, brachte Lisa hervor. »Hier ist es fünfzig Jahre lang dunkel gewesen. Bestimmt hat ihn unser Licht in die Irre geführt. Wir müssen es löschen.«

»Schon gut, ich mach das«, sagte Moritz. Kurz darauf drang aus dem Laternenhaus nur noch ein matter Schimmer.

Vorsichtig kniete sich Lisa neben dem zuckenden Vogel auf den Boden.

»Das ist keine Möwe«, stellte Leon fest.

»Ein Krammetsvogel«, sagte Lisa mehr zu sich selbst. »Es ist schon früher vorgekommen, dass Zugvögel nachts gegen den Turm geflogen sind. Aber ich habe noch nie davon gehört, dass es um diese Jahreszeit geschehen ist.« Sie schluckte. »Es ist unsere Schuld, dass er sich verletzt hat.« Verdammt, wir sollten überhaupt nicht hier sein!

Als wolle er ihr zustimmen, schlug der Vogel verzweifelt mit den gebrochenen Flügeln.

»Können wir ihn gesund pflegen?«, fragte Leon. »Das hätten die Leuchtturmwärter doch bestimmt getan.«

»Geht doch schon mal hinein«, sagte Lisa mit einer Stimme, die nur wenig Ähnlichkeit mit ihrer eigenen hatte.

»Was hast du vor?«, fragte Moritz, nachdem er Karla und seinen Sohn außer Hörweite wusste.

»Weißt du, was die Männer damals tatsächlich mit den verunglückten Vögeln gemacht haben?«, entgegnete Lisa, ohne den Blick von dem hilflosen Tierchen zu wenden.

»Was?«

»Sie haben sie gebraten und gegessen.«

»Ich denke nicht, dass jemand hungrig ist.« Plötzlicher Argwohn überlagerte den Sarkasmus in Moritz’ Tonfall.

»Ich überlasse es gern dir. Willst du?«

»Wie bitte?«

»Das arme Kerlchen wird auf keinen Fall überleben. Wir können sein Leiden nur verkürzen.«

»Verlierst du jetzt völlig den Verstand?« Er starrte sie mit einer Mischung aus Abscheu und morbider Faszination an.

Statt zu antworten, streichelte sie den bebenden Körper des Tieres, bevor sie es vorsichtig aufhob. Dann packte sie blitzschnell seinen Hals. Die winzigen Knochen knackten grauenhaft, als eine ruckartige Drehung ihres Handgelenks die Qualen des Vogels beendete. Noch einmal streichelte sie sein Gefieder, dann warf sie ihn über die Reling ins Meer.

»Wir werden Leon irgendwie davon überzeugen, dass er plötzlich davongeflogen ist.« Sie schaute in die Ferne. Fast glaubte sie zu sehen, wie die kleine Drossel am Horizont verschwand.

Mit einem wehmütigen Seufzen drehte sie sich um. Moritz betrachtete sie mit schockstarrem Gesicht.

»Was ist? Du siehst mich an, als hätte ich eine Untat begangen. Hast du etwa eine bessere Idee?«

»Nein.« Er bemüht sich, tief durchzuatmen. »Aber das spielt jetzt ohnehin keine Rolle mehr, oder?« Er brachte nichts weiter als ein Kopfschütteln zustande. Die Situation überforderte ihn maßlos. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich könnte etwas zu trinken vertragen.« Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, wandte er sich ab und ging hinein.

Lisa blieb allein auf der Galerie zurück. Eine scharfe Böe erfasste sie so plötzlich, dass sie sich am Geländer festhalten musste, um nicht über Bord gefegt zu werden. Erst jetzt kam ihr zu Bewusstsein, was soeben geschehen war.

Sie hatte weder Ekel noch Bedauern dabei empfunden. Genau genommen hatte sie in jenem Moment überhaupt nichts gefühlt.

Wie damals.

Ich müsste erschüttert sein, traurig, verwirrt. Andererseits … Verdammt, ich hatte doch keine Wahl!

Über ihr brachen die Wolken auseinander und gaben eine silbrige Mondsichel frei.

»Lisa! Wo bleibst du nur? Wir warten alle auf dich!« Es war Moritz, der seinen Kopf zur Türöffnung herausstreckte.

»Schau, der Mond liegt auf dem Rücken.« Sie deutete in den Himmel hinauf.

»Hat das etwas zu bedeuten?«, fragte er mit etwas angestrengter Geduld.

»Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete sie rasch.

Sie brachte ihre Gesichtsmuskeln unter Kontrolle und setzte ihr einstudiertes Lächeln auf. Dann folgte sie ihm ins Laternenhaus, wo Karla soeben den Korken von einer Sektflasche zog.

»Da bist du ja endlich.« Sie verteilte den Sekt auf drei Wassergläser, sodass der Schaum über den Rand quoll.

»Nicht gerade stilvoll, aber durchaus passend für diesen Ort«, sagte sie, während sie jedem ein Glas reichte; für Leon stand eines mit Orangensaft bereit.

»Auf Lisa!« Karla zögerte einen Moment, als wollte sie dem Toast noch etwas hinzufügen, doch es war ihr offenbar entfallen. Stattdessen trank sie ihr Glas in einem Zug leer. Lisa beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie sie sich sogleich nachschenkte.

»Ihr wisst schon, dass Alkohol auf dem Leuchtturm strikt verboten ist?« Unschlüssig drehte sie ihr Glas in der Hand.

Sie wusste, wie spießig sie sich gerade anhören musste. Trotzdem existierte das Alkoholverbot nicht, um den Gästen den Spaß zu verderben. Die Treppen waren ausgetreten und steil, die Notbeleuchtung äußerst dürftig. Das Geländer der Galerie reichte ihr gerade mal bis unter die Brust; es schützte nur vor einem Sturz in die Tiefe, solange man Herr seiner Sinne war. Für einen Betrunkenen bestand der gesamte Leuchtturm aus nahezu tödlichen Stolperfallen.

Karla schnaufte ärgerlich. »Ich denke nicht, dass man uns deshalb gleich verhaften wird«, sagte sie.

»Karla hat recht«, pflichtete Moritz seiner Frau bei, »von einem Gläschen Sekt wird doch niemand gleich –« Weiter kam er nicht. »Lisa? Alles okay?«

Seine Worte drangen nur sehr verzerrt an ihr Ohr. Wie unter einem Bann starrte sie aus dem Fenster, wo die eigenartige Mondsichel gerade hinter einer vorbeiziehenden Wolke verschwand. Doch das war es nicht, was ihre Urinstinkte in Alarmbereitschaft versetzte. Dort draußen war noch etwas anderes. Besser gesagt: jemand. Er musste ihren Blick wahrgenommen und im selben Moment Deckung gesucht haben. Die Glasscheibe war wieder zu einem matten Spiegel erstarrt. Erst jetzt bemerkte Lisa, dass sie einige Sekunden lang schlicht vergessen hatte, zu atmen. Ein Reflex ließ sie nach Luft schnappen. Im selben Moment sah sie ihn wieder. Das dunkle Haar zerzaust, tiefe Furchen auf der hohen Stirn, das Gesicht so bleich wie das Mondlicht. Doch sie kannte ihn zu gut, um an einen Irrtum zu glauben. Zu viele Jahre hatte sie in stetiger Angst an seiner Seite verbracht. Ihre Blicke begegneten sich. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen.

Das Glas fiel ihr aus der Hand. Klirrend zerschellte es auf dem Boden. Ein erstickter Schrei drang wie ein Keuchen aus ihrer Kehle. Lisa taumelte.

»Oh mein Gott!« Im letzten Moment verhinderte Moritz, dass sie gegen die Holzbank krachte. »Was ist mit dir?«

Sie fühlte seine Hand auf ihrer Stirn.

»Kann vielleicht mal jemand ein Glas Wasser besorgen?«, schrie er, da sich außer ihm niemand zu regen schien.

Lisa blinzelte energisch. Langsam wich der Schock aus ihren Gliedern.

»Lass nur, es geht schon wieder«, sagte sie. Unwirsch richtete sie sich auf.

»Bist du sicher? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!« Moritz ließ augenblicklich von ihr ab.

Lisa nahm ihren Mut zusammen und schaute aus dem Fenster, auf genau die Stelle, an der er gestanden hatte. Aber dort war nichts. Nur Karlas Gestalt, die sich leicht verzerrt in der Scheibe spiegelte. Schon immer war die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder verblüffend gewesen.

Es war nur Karla. Ihr Spiegelbild hat mir einen Streich gespielt, weiter nichts. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten!

Denn Robert war tot. So wie es die Inschrift auf seinem Grabstein bezeugte.

»Es tut mir leid. Nur ein dummer Schwächeanfall.« Lisa rang sich ein entschuldigendes Lächeln ab. »Das alles heute war wohl etwas zu viel für mich.«

»Wir hätten nicht herkommen sollen«, sagte Karla. Eine Rüge, die sich an ihren Mann richtete.

»Natürlich nicht, was für eine blöde Idee von mir!«, schnaufte Moritz. Er hob seitlich die Arme und ließ sie wieder fallen, sodass seine Handflächen gegen die Oberschenkel klatschten.

»Deine Idee war einfach großartig.« Lisa berührte ihn flüchtig an der Schulter. Moritz tat ihr plötzlich furchtbar leid. Er hatte alles gegeben, um seiner Familie eine Freude zu machen, erntete jedoch nichts als Schelte.

Er stieß nur einen weiteren frustrierten Laut aus.

»Ich sollte mich hinlegen«, sagte Lisa.

»Ich begleite dich«, sprang Moritz in die Bresche, »nur, damit du nicht die Treppe hinunterfällst.«

»Nein!«, intervenierte sie harscher als beabsichtigt. »Ich wäre gern einen Moment allein«, fügte sie deutlich sanfter hinzu; schnell sandte sie Moritz einen um Verständnis heischenden Blick.

»Wie du willst.« Seine Resignation war umfassend.

Lisa zuckte noch einmal mit den Mundwinkeln, dann drehte sie sich um und ging. Das Einzige, das Moritz jetzt tun konnte, war, seine Frau zu besänftigen. Und sei es nur um Leons willen. Gegen Lisas Dämonen war er machtlos. Er konnte sie ja nicht einmal sehen. Zum millionsten Mal fragte sie sich, wie viel Moritz über ihre Ehe mit Robert gewusst oder zumindest erahnt hatte. Doch auch das war inzwischen bedeutungslos. Moritz’ unbeholfene Versuche, ihr beizustehen, kamen zu spät. So oder so.

Sämtliche Glieder fühlten sich an wie pures Blei, als sie die Treppen hinunterstieg, unfassbar schwer, kaum noch biegsam, so als würde ein inneres Gift ihre Muskelfasern zerfressen. Lisa war nie eine große Sportlerin gewesen. Doch in der Klinik hatte ein Pfleger – der einzige, der ehrliches Verständnis für sie aufgebracht hatte – sie täglich zu einem langen Spaziergang genötigt. Seine Beine waren etwa doppelt so lang gewesen wie die ihren, sodass sie ziemlich weit ausschreiten musste, um mit ihm Schritt zu halten. Diese Gewohnheit hatte sie beibehalten, als sie zu den Dehnhardts an den Stadtrand gezogen war. Am mangelnden Training lag es also nicht, dass ihr Atem plötzlich nur noch stoßweise ging. Es war blanke Panik, die sich in den Vordergrund drängte.

Verdammt! Ich habe nur ein Spiegelbild gesehen, ein gottverfluchtes Spiegelbild!

Dass Robert sie noch immer in ihrem gemeinsamen Haus erwartete, wunderte sie kein bisschen. In Moritz’ und Karlas Wohnung war sie hingegen sicher vor ihm gewesen. Was aller Wahrscheinlichkeit nach daran lag, dass er seiner geliebten Schwester nicht offenbaren wollte, was für ein Arschloch er war. Aber jetzt befand sich Lisa weit weg von zu Hause, gemeinsam mit Karla. Also was um alles in der Welt –

Sie stöhnte unwillkürlich auf. Natürlich, hier auf dem Turm war er Anton begegnet, hatte gesehen, wie Lisa sich mit ihm unterhielt, einfach so. Damals hatte sich Robert noch ziemlich gut unter Kontrolle gehabt. Dennoch musste ihn der Ungehorsam seiner angehenden Ehefrau mächtig gewurmt haben. Seither hatte sie so viele unverzeihliche Dinge getan, dass sie nichts Besseres verdiente, als dass er sie bis hierher verfolgte. Was war sie doch für eine Närrin! Warum war sie nicht einfach mit der »Oland« wieder zurück nach Bremerhaven gefahren, als Hardy es ihr angeboten hatte?

Ohne sich an den Weg erinnern zu können, fand sich Lisa im engen Schlafraum wieder. Durch die kleinen Fenster fiel gerade genug Mondlicht herein, um sich orientieren zu können. Für einen Moment liebäugelte Lisa damit, sich samt Klamotten in ihre Koje fallen zu lassen und die Vorhänge fest zuzuziehen. Bevor sie der Trägheit nachgeben konnte, verspürte sie jedoch ein dringendes menschliches Bedürfnis. Besser, sie rang sich jetzt gleich zum Abstieg in den düsteren Lagerraum durch. Später würde sie es vermutlich nicht mehr wagen, was ihrer Gesundheit nicht sonderlich zuträglich wäre.

Sie zerrte ihre Reisetasche unter Leons Rucksack mit aufgedruckten Batman-Motiven hervor. Nach einigem Wühlen fand sie ihren Kulturbeutel und ein Frotteehandtuch. Dann schnappte sie sich eine der kleinen Taschenlampen, die im ganzen Raum verteilt an irgendwelchen Haken hingen. Das Ding funktionierte auf Anhieb. Derart gerüstet öffnete Lisa die Tür und trat auf den Absatz der Eisenstufen, die zur untersten Turmebene hinabführten. Nach kurzem Suchen streifte der schmale Lichtkegel ihrer Stablampe einen alten Drehschalter, wie man ihn bis in die sechziger Jahre hinein benutzt hatte. Sie probierte ihn aus. Wider Erwarten wurde sie belohnt; zwei dieser ovalen Wandleuchten, deren Glasschirme mit einem Gitter gesichert waren, parierten sofort. Lisa wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an die schummrige Sepia-Einfärbung gewöhnt hatten. Was jedoch nichts daran änderte, dass diese Funzeln mehr Schatten als Licht produzierten.

Da ihr kaum eine Wahl blieb, richtete sie die kleine Taschenlampe auf die Treppenstufen und setzte mit gebotener Vorsicht einen Fuß vor den anderen. Bis sie ein Geräusch innehalten ließ. Es hatte geklungen wie ein Ächzen, irgendwie brüchig, in jedem Fall alles andere als vertrauenerweckend. Die Treppe? Möglicherweise gab eine Verschraubung nach, oder die gesamte Konstruktion schwang in ihren altersschwachen Verankerungen. Oder jemand lauerte im Dunkeln unter den Stufen, bereit, nach Lisas Fesseln zu greifen, um sie unweigerlich ins Stolpern zu bringen. Es wäre ganz nach Roberts Geschmack, ihr einen Mordsschrecken einzujagen, bevor er ungehemmt auf sie eindrosch.

Sie unterdrückte einen Aufschrei. Hektisch leuchtete sie auf ihre Füße, die in soliden, knöchelhohen Schnürschuhen steckten. Nichts. Doch jetzt hörte sie es wieder. Ein Geräusch, das sie an eine knorrige Eiche erinnerte, die sich im Wintersturm bog. Das Knarzen schien von überall gleichzeitig zu kommen.

Der Turm. Natürlich, es war der Turm selbst, dessen uralte Fundamente tief in den Meeresgrund hinabreichten, wo die See unentwegt an seinem Sockel zerrte.

Lisa konzentrierte sich auf ihre Atmung, wie sie es in langen Therapiesitzungen gelernt hatte. Man hatte es ihr als wirksame Maßnahme gegen Panikattacken beigebracht. Manchmal half es. Manchmal nicht.

Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung. Dabei schwenkte sie die Taschenlampe viel zu hastig von einem Winkel in den anderen. Die bizarren Silhouetten der herumstehenden Gegenstände zuckten durch den wandernden Lichtkegel. Und schienen auf unheimliche Weise zum Leben zu erwachen. Lisa schluckte trocken, als sie begriff, dass Robert sich gar nicht unter der Treppe verstecken musste. Wo es doch viel einfacher war, mit dem gespenstischen Durcheinander der Umgebung zu verschmelzen, als ein Schatten unter vielen. Auf diese Weise bräuchte er nur zu warten, bis Lisa ihm von ganz allein nahe genug käme. So nah, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie an den Haaren zu packen und durch den Raum zu schleudern.

Ihr Herz trommelte schmerzhaft gegen die Rippen.

Hör auf, verdammt noch mal! Er ist nicht hier. Er kann überhaupt nicht hier sein. Robert ist tot, tot, tot!

Lisa wusste, dass sie ihre Angst nur zu bekämpfen vermochte, indem sie sich der Situation stellte. Das behauptete jedenfalls Professor Feldmann, der sich ihrer so intensiv angenommen hatte. Feldmann war ein schmieriger, geifernder, alter Widerling. Aber deswegen musste ja nicht alles, was er sagte, falsch sein.

Lisa gab sich einen letzten Ruck. Dann machte sie sich daran, die Untiefen des Lagerraumes abzusuchen, leuchte mit ihrer Taschenlampe in jede Nische, die sich zwischen all dem Krempel auftat.

Vor der westlichen Tür stapelten sich Werkzeugkisten und aufgerollte Wasserschläuche. Die zwei mächtigen Eisenriegel wiesen keinerlei Spuren auf, nichts deutete darauf hin, dass sie in den letzten dreißig Jahren auch nur angerührt worden waren; dicke Rostgeschwüre wuchsen aus der weißen Farbhaut. Der östliche Einstieg, vor dem die Dalben lagen, war ebenfalls fest verriegelt. In den Regalen unter der Treppe befanden sich Arbeitsgeräte und undefinierbare Materialien, die man für Ausbesserungsarbeiten benötigte. Flüchtig erhaschte der kleine Lichtkegel einen weißen, kofferähnlichen Kasten, der wie gelangweilt an der Wand lehnte. »Rettungsinsel« war in fetten schwarzen Buchstaben darauf gedruckt. Eine ziemlich amüsante Vorkehrung, wenn man bedachte, dass dieser Leuchtturm seit mehr als einem Jahrhundert ein unsinkbares Bollwerk inmitten der Strömungen bildete. Bestimmt war ihr Dasein einer dieser unsinnigen EU-Vorschriften geschuldet, die es im Gegenzug versäumten, an einem Ort wie diesem für eine ordentliche Beleuchtung zu sorgen.

Ein wenig beruhigter ging Lisa nun auf die schmale Tür neben dem Wassertank zu, hinter der sich die winzige Nasszelle befand. Schnell schlüpfte sie hinein, fand einen weiteren Lichtschalter, der eine Neonröhre zum Aufleuchten brachte. Völlig außer Atem hastete Lisa zum Waschbecken und drehte den Hahn auf. Mit hohlen Händen schaufelte sie sich literweise kaltes Wasser ins Gesicht. Als sie wieder aufsah, erschauderte sie. Das Abbild, das ihr aus dem nackten Spiegel entgegenblickte, schien sie zu verhöhnen. Ihre normalerweise zarten Gesichtszüge waren eingefallen wie die einer neunzigjährigen Frau. Ihre Augen lagen so tief in den Höhlen, dass sie fast schwarz wirkten. Die Wangenknochen traten unnatürlich spitz hervor. Unter den blassen Lippen wirkte sogar das Zahnfleisch weiß. Zum ersten Mal fragte sich Lisa, ob es tatsächlich so klug gewesen war, die sicheren Mauern der Klinik zu verlassen.

Angewidert riss sie sich von ihrem Spiegelbild los. Der Druck auf ihre Blase erinnerte sie nun mit voller Macht daran, warum sie überhaupt hierhergekommen war. Rasch benutzte sie die Toilette. Anschließend putzte sie sich gründlich die Zähne. Obwohl es vor dem Zubettgehen keinen Sinn machte, bürstete sie sich ausgiebig die Locken. Erst als sie keinen weiteren Grund mehr fand, in der grell erleuchteten Nasszelle zu bleiben, gab sie sich einen Ruck. Im Laufschritt eilte sie in den Schlafraum hinauf und knallte die Tür hinter sich zu. Es kam ihr vor, als hätte sie eine Ewigkeit unten im Lagerraum verbracht. Deshalb rechnete sie fest damit, Karla oder Moritz geradewegs in die Arme zu laufen. Doch sie hörte nicht einmal ein Rascheln aus einer der Kojen dringen. Lisa war in dem kleinen Raum vollkommen allein. So schnell sie konnte, schlüpfte sie aus den Schuhen, tauschte ihre Jeans gegen eine bequeme Jogginghose und kroch in ihre Koje.

Sie glaubte nicht daran, in dieser Nacht auch nur eine Minute Schlaf zu bekommen.