»Und du bist dir ganz sicher, dass dieser Benno Frey in Rotterdam von Bord gegangen ist?«, blaffte Hansen in den Telefonhörer. Ein Schweißtropfen löste sich von seiner Stirn und landete träge auf der Computertastatur.
»Ich habe ihm nicht persönlich dabei zugesehen, falls du das meinst«, konterte Merle, ohne die Ruhe zu verlieren.
»Aber du hast mit ihm gesprochen«, hakte Hansen nach.
»Nein. Ich habe es ungefähr ein Dutzend Mal unter seiner Mobilnummer probiert. Fehlanzeige. Dieser Frey hat nicht einmal eine Mailbox. Bei der Reederei hat er nur eine Hamburger Postfachadresse angegeben. Der Typ scheint sich generell gern bedeckt zu halten. Ist vielleicht so eine Art Starallüre. Immerhin ist er als Reisejournalist ziemlich bekannt. Und er sieht verdammt süß aus.«
Merles angeborener Frohsinn versetzte ihn nur noch mehr in Wallung. »Fest steht also nur, dass der Mann seit der Schiffskollision unauffindbar ist, richtig?«
»Nun ja. Man könnte es so sehen«, entgegnete sie jetzt deutlich verhaltener.
»Bin ich hier denn der Einzige, der das seltsam findet?« Er schrie Merle nur deshalb an, weil es sonst niemanden gab, an dem er seinen Unmut auslassen konnte. Er würde sich beizeiten bei ihr entschuldigen müssen. Doch im Moment hatte er ganz andere Probleme.
»Ich bin mir sicher, dass Hauptkommissar Hayen die Besatzung der ›Beluga‹ noch einmal gründlich befragen wird«, sagte Merle, als spräche sie mit einem wütenden kleinen Jungen, der sein Lieblingsspielzeug verloren hatte.
»Dann sage ihm gefälligst, er soll es sofort tun! Das ist ja wohl das Mindeste, Himmelherrgott noch mal!« Er knallte den Hörer auf die Gabel und rieb sich die schmerzende Stirn.
Dass sich sein alter Kumpel rarmachte, wenn es um private Verabredungen zum Feierabendbierchen ging, war eine Sache. Die Zusammenarbeit auf beruflicher Ebene stand jedoch auf einem ganz anderen Blatt. Hansen hatte ausdrücklich die »Rungholt« mit Bootsführer Anton Hayen zur »Beluga« geschickt, weil er auf dessen professionelle Mitarbeit zählte. Damals, als sie noch gemeinsam zur See gefahren waren, hatte Anton ihn unzählige Male fast in den Wahnsinn getrieben, weil er sich an irgendwelchen Details festbiss, die schon längst nicht mehr in ihre Zuständigkeit fielen. Niemals würde Anton das fast geisterhafte Verschwinden eines Passagiers mit einem bloßen Achselzucken zur Kenntnis nehmen. Weder aus Bequemlichkeit noch um seinen Vorgesetzten zu ärgern. Nachlässigkeit lag einfach nicht in seiner Natur. Also warum hielt Anton es nicht einmal für notwendig, diese brisante Information persönlich und auf direktem Wege an ihn weiterzugeben? Warum überließ er es einer jungen Kommissarin aus der Fischhalle, den Einsatzleiter zu informieren, als wären sie niemals befreundet gewesen?
Mechanisch griff er zur Flasche Mineralwasser, die auf seinem Schreibtisch stand, und trank sie gierig zur Hälfte leer. Dabei wünschte er sich bei jedem Schluck, es möge sich um etwas Stärkeres handeln. Gleichzeitig wusste er, dass ihm weder Alkohol noch sonst eine Form von Betäubungsmittel derzeit weiterhelfen würde. Um sein Problem in den Griff zu bekommen, benötigte er einen klaren Kopf. Zumal es hierbei nicht um Anton Hayen ging, sondern um Benno Frey.
Nicht, dass Hansen glaubte, dies wäre sein echter Name. Aber das spielte im Moment eine eher untergeordnete Rolle. Die wichtige Frage lautete, wo zum Teufel dieser Mistkerl steckte. Schon seit Tagen hatte Hansen weder E-Mail noch Anruf von ihm erhalten. Dabei war es der Kern ihrer Vereinbarung, dass der Journalist einen lückenlosen Bericht seiner Recherchen an den Leiter der Wasserschutzpolizei persönlich weitergab. Da Frey in den Wochen zuvor stets zuverlässig abgeliefert hatte, lag die Vermutung nahe, dass irgendetwas furchtbar schiefgelaufen war.
Hansen kämpfte schon zu lange auf verlorenem Posten, um dem Standardprozedere von Zoll, Bundeskriminalamt und Polizei noch einen Funken Vertrauen entgegenzubringen. Genau genommen glaubte niemand ernsthaft, die deutschen Behörden könnten allein mit Bordmitteln etwas gegen den rasant zunehmenden Drogenschmuggel ausrichten. Inzwischen sprachen die Medien von einer wahren »Kokain-Schwemme«, die mit den riesigen Containerschiffen über die Weltmeere in die europäischen Häfen gelangte. Zwar setzte man zunehmend moderne Röntgengeräte ein, um die anlandenden Container auf ihren tatsächlichen Inhalt zu durchleuchten. Bei der gewaltigen Menge, die täglich in den Terminals abgefertigt wurde, waren allerdings kaum mehr als Stichproben möglich. Außerdem versteckten die Schmuggler das Kokain so geschickt in der regulären Ladung, dass sich die Technik schlicht als unbrauchbar erwies. Davon abgesehen hatten sich Beamte an Dienstvorschriften ebenso zu halten wie an vollkommen idiotische Gesetze, wollten sie ihren Job auf Lebenszeit nicht gefährden.
Falls sie tatsächlich beabsichtigten, etwas auszurichten, waren sie auf die Unterstützung von Informanten angewiesen, die außerhalb des Behördenapparates agierten. Doch aus eigener, bitterer Erfahrung wusste Hansen, dass es verflucht riskant war, auf Hinweise zu vertrauen, die unmittelbar aus der Schmugglerszene stammten. Diesen Fehler hatte er einmal begangen. Die Sache war ihm mit Karacho um die Ohren geflogen. Ein weiteres Desaster dieser Größenordnung konnte er sich definitiv nicht leisten.
Deshalb war ihm das erste Treffen mit diesem Journalisten wie ein Sechser im Lotto erschienen. Benno Frey verkörperte den Prototyp des Abenteuerurlaubers, hatte sich jedoch als ebenso karriereorientiert erwiesen wie Hansen selbst. Die Abmachungen zwischen ihnen waren schnell und unkompliziert vonstattengegangen. Hansen bekam genaue Informationen über die neuesten Tricks der Schmuggler sowie deren Namen. Im Gegenzug erhielt Frey Einblick in sämtliche Polizeiakten, durfte beim Zugriff zugegen sein, ohne Einschränkungen Bildmaterial veröffentlichen und sich auf Polizeischutz berufen, falls er es für notwendig halten sollte.
Selbstverständlich konnte Hansen derartige Versprechen nicht eigens in die Tat umsetzen. Allerdings verfügte er über genügend »Freunde« in entsprechenden Positionen, für die er mit dem einen oder anderen Gefallen – sei es dienstlich oder privat – in Vorleistung getreten war. Die meisten von ihnen würden sich ohne mit der Wimper zu zucken bei ihm revanchieren, wenn er sie darum bäte. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Ganz egal, um welche Währung es sich dabei handelt. Diese Lektion hatte Christian Hansen schon sehr früh in seiner Laufbahn gelernt. Allerdings nützten ihm weder Schuldigkeiten noch Weisheiten, wenn Benno Frey beschlossen hatte, einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Gut möglich, dass jemand auf der »Beluga« Verdacht geschöpft hatte und er gezwungen gewesen war, in Rotterdam die Flucht zu ergreifen. Nur warum wendete er sich dann nicht an ihn, um den versprochenen Polizeischutz einzufordern?
Die naheliegende Antwort darauf bereitete ihm Bauchschmerzen: Er musste in Erwägung ziehen, dass Benno Frey seinen Job womöglich mit dem Leben bezahlt hatte. Gleichzeitig war er nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben, bevor stichhaltige Beweise auftauchten. Denn ohne seinen Mann auf der »Beluga« könnte er seinen gesamten Zugriffsplan zerreißen und im Klo hinunterspülen.
Kurz vor seinem Abtauchen hatte Frey ihm gesteckt, dass ein Teil des geladenen Kokains irgendwo zwischen Helgoland und Bremerhaven auf Kurierboote geladen werden und über kleinere Häfen an Land gebracht werden sollte. Ursprünglich hatte Hansen die exakte Position und Zeit dieser Übergabe in Erfahrung bringen wollen. Die schnellen Küstenboote der Polizei hätten auf der Lauer liegen sollen, um im richtigen Moment die Drogenkuriere zu jagen, zu stoppen, das Kokain sicherzustellen und die Schmuggler noch auf See zu verhaften. Auf diese Weise wäre der Erfolg allein auf das Konto der Wasserschutzpolizei gegangen. Genau das, was Hansen derzeit brauchte.
Durch die Kollision war die »Beluga« nun jedoch von Polizeibooten, Seenotrettern und Schleppern quasi eingekesselt, was die Drecksäcke zwang zu improvisieren. Hansen hielt es für möglich, dass sie das Kokain in Neoprentaschen verstauen würden, die mit einem Peilsender versehen waren. In einem günstigen Moment könnten sie diese unbemerkt über Bord werfen und darauf hoffen, dass ihre Kuriere sie in einiger Entfernung vom »Mutterschiff« auflesen würden. Die Wasserschutzpolizei müsste also auch in diesem Fall schneller sein. Allerdings hätten sie nur eine Chance, wenn ihr Späher sie über das Vorgehen auf der »Beluga« in Echtzeit informierte. Andernfalls durften sie getrost davon ausgehen, dass die Drogen direkt vor ihrer Nase davonschwammen, bevor sie auch nur Verdacht schöpften.
Vielleicht verzichteten die Schmuggler auch ganz auf diesen Zirkus und vertrauten auf den traditionellen Anlandungsweg über den Containerhafen. Ebenso gut war es möglich, dass die Arschlöcher noch ganz andere Tricks auf Lager hatten, von denen Hansen nicht einmal eine Ahnung besaß. Ohne Benno Frey konnte er die geplanten Verhaftungen also in jedem Fall vergessen.
Hauptkommissar Christian Hansen war Realist genug, um zu wissen, dass sich eine ähnliche Gelegenheit kaum noch einmal bieten würde. Über die Konsequenzen machte er sich keine Illusionen. Der leitende Polizeidirektor hatte die Bedingungen von Hansens spontaner Beförderung im letzten Sommer deutlich formuliert. Entweder er lieferte in absehbarer Zeit vorzeigbare Erfolge, oder sein schickes Büro mit Blick auf die Elbmündung wäre Geschichte. Erneut spürte Hansen, wie ihm der Schweiß aus sämtlichen Poren quoll.