Hansen wippte in seinem voluminösen Bürostuhl, die Füße überkreuzt auf dem Schreibtisch, und starrte aus dem Fenster. Die Lichter des Hafens glommen schwach zu ihm herein. Ansonsten herrschte in dem Raum mitternächtliche Dunkelheit. In der Leitzentrale war eine Art erschöpfte Ruhe eingetreten. Sämtliche Maßnahmen zur bevorstehenden Bergung der Havaristen waren getroffen worden. Im Moment blieb für Hansen nichts weiter zu tun, als auf den Sonnenaufgang zu warten.
Dennoch widerstrebte es ihm, nach Hause zu gehen und sich für einige Stunden im Bett lang auszustrecken. Auch dort fände er weder Schlaf noch Erholung. Zu viele Gedanken hämmerten unerbittlich gegen seine Schädelwand. Das Einzige, das ihm momentan helfen könnte, wäre eine Schachtel Aspirin. Doch um an diese zu gelangen, müsste er nicht nur sein Büro verlassen, sondern in den ersten Stock hinunterlaufen, wo sich der Erste-Hilfe-Kasten im Wandschrank der Gemeinschaftsküche befand. Spätestens dort träfe er unweigerlich auf einen Kollegen, der ihm ein Gespräch über das gewaltige Schiffsunglück aufdrängen würde. Doch über das, was ihn am meisten beschäftigte, konnte er mit niemandem reden.
Mit jedem Atemzug schwand seine Hoffnung, dass Benno Frey sich urplötzlich mit einer plausiblen Erklärung bei ihm melden würde, sei es per E-Mail, Telefon oder Flaschenpost. Selbstverständlich hatte er selbst auch versucht, den Journalisten zu erreichen, nach gut vier Stunden jedoch frustriert aufgegeben. Am Ende war es ihm geradezu kindisch erschienen, ein und dieselbe Mobilnummer im Zehnminutentakt anzurufen. Einen anderen Telefonanschluss, unter dem er es hätte probieren können, gab es nicht. Im Gegensatz dazu hatte Frey etwa ein Dutzend unterschiedliche E-Mail-Absender genutzt, um Hansen Fotos oder kurze Textnachrichten zu schicken. Doch von jeder einzelnen Freemail-Adresse, die Hansen anschrieb, kam postwendend die Rückmeldung, sie sei ungültig. Offenbar hatte Frey seine Accounts nur wenige Male verwendet und anschließend wieder gelöscht.
Was für ein Idiot war Hansen nur gewesen, sich auf diesen Windhund einzulassen!
Die erste und bislang einzige persönliche Begegnung hatte in einer Hamburger Hafenkneipe stattgefunden, in der überwiegend Touristen verkehrten. Damals war Hansen zu versessen auf den Deal gewesen, um die notwendige Vorsicht walten zu lassen. Andernfalls wäre ihm bestimmt rechtzeitig aufgefallen, dass es sich bei Benno Frey im Wesentlichen um eine künstlich erschaffene Figur handelte, die sich in den sozialen Netzwerken perfekt inszenierte. Der Mann hinter der Rolle beherrschte es hingegen vortrefflich, sich der Überprüfung seiner Identität zu entziehen. Er arbeitete konsequent freiberuflich, hatte offenbar keine näheren Angehörigen und war quasi ununterbrochen auf Reisen. Den einzigen festen Wohnsitz, den Hansen hatte finden können, war die Adresse einer WG von Langzeitstudenten, in der Frey jedoch niemals auftauchte. Kurz gefasst pflegte der Journalist einen Lebensstil, der sicherstellte, dass ihn niemand vermisste. Das hieß, Hansen würde ihn auf gar keinen Fall finden, wenn er nicht gefunden werden wollte.
Es war also sehr gut denkbar, dass sich Hansens Informant bester Gesundheit erfreute. In diesem Fall war davon auszugehen, dass Frey aus einem ganz bestimmten Grund beschlossen hatte, seine Story bis zur Veröffentlichung für sich zu behalten. Also was zur Hölle hatte die kleine Ratte herausgefunden, das zu sensationell war, um es mit seinem Partner zu teilen? Oder gab es womöglich eine dritte Person, die in diesem Spiel mitmischte? Vielleicht hatte ein pfiffiger Kollege vom BKA dieselbe Idee gehabt wie Hansen und setzte nun gewisse Druckmittel ein, um Frey ganz für sich allein zu beanspruchen?
Hansen umschloss den scharfkantigen Schraubverschluss der Wasserflasche mit seiner Handfläche, ohne dem schneidenden Schmerz Beachtung zu schenken. Allein der Gedanke, einer dieser hochwohlgeborenen Superhelden könnte ihm derart in die Parade fahren, trieb seinen Blutdruck in die Höhe. Bis ihm unvermittelt ein viel näherliegender Gedanke durch den Kopf schoss.
Anton Hayen. Es musste einen triftigen Grund dafür geben, dass sich sein alter Kumpel so hartnäckig weigerte, mit ihm persönlich zu sprechen. Also was, wenn er Lunte gerochen hatte? Dass Anton eine mädchenhafte Empfindsamkeit an den Tag legen konnte, hatte er zur Genüge bewiesen. Damals, als ihr letzter gemeinsamer Einsatz im Bremerhavener Containerterminal so katastrophal aus dem Ruder gelaufen war. Zugegeben, Hansen hatte Anton damals wohlweislich nicht in seine Pläne eingeweiht. Denn sein Kumpel hätte alles darangesetzt, diesen Leichtsinn zu unterbinden. Und am Ende damit recht behalten. Trotz allem war die Sache für ihn mit einer Beförderung zum Hauptkommissar ausgegangen. Dafür hatte Hansen in seinem neuen Amt persönlich gesorgt. Antons Dank bestand jedoch ausschließlich darin, dass er seinem Gönner seither systematisch aus dem Wege ging. Also wie zum Teufel hätte Hansen ihm den Deal mit Benno Frey überhaupt begreiflich machen sollen?
Hansen öffnete die Faust und betrachtete die roten Wundränder, die der Flaschendeckel in seiner Handfläche hinterlassen hatte. Abermals realisierte er, wie einsam es um ihn herum geworden war, seit er nicht mehr zur See fuhr. Wie es aussah, war jetzt der Punkt erreicht, sich einen Ruck zu geben und den ersten Schritt zur Versöhnung zu gehen. Ohne sich der Handlung wirklich bewusst zu sein, griff er zum Telefonhörer. Doch bevor er ihn von der Gabel heben konnte, begann der Apparat unter seiner Hand zu läuten. Das Display zeigte eine Mobilnummer, die er nur zu gut kannte.
»Du hast drei Sekunden, bevor ich wieder auflege«, sagte Hansen in die Sprechmuschel. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde. »Es sei denn, du willst dich bei mir entschuldigen. Aber wenn ich es mir recht überlege, macht das auch keinen Unterschied mehr.«
»Er weiß es längst«, sagte sie, noch während er redete.
»Was?« Hansen hatte sie durchaus verstanden. Dennoch ergaben ihre Worte überhaupt keinen Sinn.
»Anton. Er weiß, dass dieser Journalist nicht abgetaucht ist, um in Ruhe einen Reisebericht zu schreiben«, klärte sie ihn auf. »Den Rest wird er auch herausbekommen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Du kennst ihn.«
Damit bestätigte sie nur, was Hansen ohnehin vermutete. Allerdings war er auf völlig andere Themen gefasst, wenn Dorothea Raubach ihn mitten in der Nacht anrief.
Seit sie ihn vor eineinhalb Wochen ohne ein Wort der Erklärung verlassen hatte, überkam sie in unregelmäßigen Abständen eine recht spezielle Sehnsucht, um die sie niemals lange herumredete. Allerdings gehörte Dorothea Raubach zu der Spezies Frau, die den Respekt verlor, wenn sie zu schnell bekam, was sie wollte. Somit hatte er sie tapfer zappeln lassen, bis er vor zwei Tagen doch schwach geworden war. Selbstverständlich war er nach dieser Wahnsinnsnacht davon ausgegangen, dass sie zu ihm zurückkehrte. Stattdessen hatte sie sich klammheimlich davongestohlen, während er schlief. Er war ihr nicht einmal einige eilig geschriebene Worte auf einem Zettel wert gewesen. Noch deutlicher hätte sie ihm kaum mitteilen können, was er ihr bedeutete: gar nichts.
»Ich denke, es ist besser, wenn du ihm reinen Wein einschenkst. Immerhin ist er dein Freund«, sagte sie in einem aufreizend sachlichen Ton.
»Als ob du wüsstest, was dieses Wort bedeutet«, schnaufte er. »Ganz abgesehen davon, dass es dich einen Scheiß angeht, wie ich meinen Job erledige.«
»Du meine Güte, beruhige dich.« Sie klang, als verstünde sie wirklich nicht, warum er sauer auf sie war. Wobei »sauer« es nicht einmal annähernd traf. »Ich versuche nur, dir einen Gefallen zu tun. Mir ist klar, wie viel für dich auf dem Spiel steht. Würdest du deine dämliche Heimlichtuerei aufgeben, könnten wir alle an einem Strang ziehen.«
»Was zur Hölle willst du damit sagen?« Er ließ die malträtierte Handfläche auf die Schreibtischplatte niedersausen.
»Ich bitte dich. Denkst du wirklich, ich hätte nicht mitgekriegt, dass du einen Informanten auf der ›Beluga‹ hast? Abgesehen davon ist es ein Dauerbrenner im Flurfunk, wie dich diese Fishtown-Geschichte wurmt. Man muss kein Mathegenie sein, um hier eins und eins zusammenzuzählen.«
»Moment, versuchst du etwa gerade, mich zu erpressen?«
»Unsinn, warum sollte ich das tun?«
»Keine Ahnung, sag du es mir.«
»Kann es sein, dass du langsam paranoid wirst?«
Hansen holte tief Luft und zählte im Geiste bis drei. »Warum verrätst du mir nicht endlich, was du willst?«, sagte er gerade laut genug, dass sie ihn verstehen konnte.
»Aber das tue ich doch die ganze Zeit.« Langsam klang sie ein wenig beleidigt. »Ich versuche, dir zu helfen.«
Schweigend wartete Hansen darauf, dass sie fortfuhr.
»Du hast Angst, dass Anton deinen Alleingang dieses Mal nicht so einfach hinnehmen wird, richtig?«
Er blieb ihr die Antwort schuldig.
»Nur mal angenommen, er hätte vor, dich vor der Obrigkeit anzuprangern. Wäre es dann nicht gut, einige Argumente in petto zu haben, um ihn davon abzuhalten?«
»Rede weiter.« Schon jetzt war ihm klar, dass Dorothea nicht vorhatte, ihm ein Angebot aus Nächstenliebe zu unterbreiten. Dennoch konnte es von Vorteil für ihn sein, ihr wenigstens zuzuhören.
»Was weißt du über Antons Beziehung zu einer gewissen Lisa Holtkamp?« Das Zögern in ihrer Stimme war zu winzig, um ihr ernsthafte Gewissensbisse zu unterstellen.
»Nichts«, antwortete Hansen wahrheitsgemäß. »Er hat sie das eine oder andere Mal erwähnt. Allerdings nur, wenn wir beide betrunken waren. Wie kommst du darauf?«
»Ich habe Unterlagen bei ihm gefunden, die beweisen, dass sie etwas Schreckliches getan hat. Anders ausgedrückt: Hauptkommissar Anton Hayen deckt ein Verbrechen. Könnte dir diese Information vielleicht nützlich sein?«