20

»Sie können es sich wieder bequem machen. Die Fischhallen sind längst außer Sichtweite«, sagte der Fahrer des Krankenwagens. Er hatte sich als Mühlmann oder Möhler oder so ähnlich vorgestellt. Das Namensschild an seinem T-Shirt war aus Hansens momentaner Position nicht zu erkennen.

»Ich weiß, es geht mich nichts an«, plapperte er weiter, »aber sind Sie eine Art verdeckter Ermittler? Oder warum ist es so wichtig, dass Ihre Kollegen nicht wissen dürfen, dass Sie unseren toten Freund begleiten?«

Hansen richtete sich aus seiner kauernden Haltung im Fußraum auf und rieb sich den verspannten Nacken.

»Wie Sie schon sagten, es geht Sie nichts an«, entgegnete er grimmiger als beabsichtigt.

»Schon gut, Mann.« Möhlmann, oder wie auch immer er hieß, hob flüchtig die Hände vom Lenkrad. Für den Rest der Fahrt konzentrierte er sich ausschließlich auf den Verkehr.

Knappe zehn Minuten später erreichten sie die Sankt-Magnus-Klinik. Die beiden Sanitäter schoben die Bahre mit dem Toten aus dem Transportraum des Krankenwagens und hielten damit auf den Hintereingang zu. Hansen schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Eilig durchschritt er die voluminöse Drehtür des Hauptportals. Im Foyer angekommen, suchte er die Wartebänke nach einem Mann ab, der in seinen Augen als Rechtsmediziner durchging. Seine Ungeduld erreichte bereits die kritische Phase, als ein schmächtiger Wicht die Zeitung sinken ließ, hinter der sein Oberkörper vollständig verborgen gewesen war.

»Entschuldigung, Sie sind nicht zufällig Hauptkommissar Hansen?«, fragte er mit bedauernswert hoher Stimme.

»Und Sie sind?« Hansen ging einige Schritte auf das Kerlchen zu, hielt jedoch einen leicht übertriebenen Sicherheitsabstand.

»Professor Dr. Detlef Mader.« Er stand auf und deutete eine Verbeugung an. »Kommissarin Lessing von der Kripo Bremen teilte mir mit, dass Sie hier vor Ort dringend einen Rechtsmediziner benötigen.«

»Das ist richtig, ich hatte Frau Lessing heute früh darüber informiert.« Allerdings hatte sich Hansen nach dem Telefonat mit der Kommissarin etwas anderes unter diesem Leichendoktor vorgestellt.

»Dann ist Ihnen bekannt, dass mich Ihr Klient um meinen wohlverdienten Urlaub bringt?«, hakte Mader nach.

»Nun ja, Frau Lessing deutete an, dass Ihnen die Untätigkeit im Strandkorb womöglich gar nicht liegt.« So ähnlich hatte sie sich tatsächlich ausgedrückt. Trotzdem ärgerte sich Hansen, dass es ihm herausgerutscht war.

»Ich gebe zu, dass mich die Hitze ziemlich erschöpft. An der Nordsee hatte ich doch eher mit einer frischen Brise gerechnet«, gab Mader unumwunden zu. Dann musterte er Hansen von Kopf bis Fuß. »Allerdings versicherte Frau Lessing mir, ihr Cuxhavener Kollege sei ein umgänglicher Typ. Sie kennen sich nicht besonders gut, oder?«

Hansen ignorierte die Spitze. Er war Esther Lessing nur ein einziges Mal auf einer Fachtagung begegnet. Sie schien direkt dem Laufsteg der Pariser Fashion Week entsprungen und hatte in ihm den unzügelbaren Wunsch nach einer tabulosen Romanze ausgelöst. Zu seinem Leidwesen waren seine Avancen an ihr abgeprallt wie Gummigeschosse an einem Panzer. Somit wirkte es wie Balsam auf sein verwundetes Ego, dass Lessing ihm ohne mit der Wimper zu zucken half, wenn er sie darum bat. Jetzt musste er diesem rattengesichtigen Hänfling nur noch beweisen, dass Hauptkommissar Hansen tatsächlich ein netter Kerl war.

»Tut mir leid, ich bin wohl etwas übernächtigt. In der Wesermündung hat es ein verheerendes Schiffsunglück gegeben. Hält uns alle mächtig auf Trab.«

»Ich habe davon in den Nachrichten gehört«, entgegnete Mader nun vollkommen sachlich. »Hat Ihre Leiche etwas damit zu tun?«

»Genau das müssen Sie für uns herausfinden. Ich meine, wir wären Ihnen zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie das für uns tun könnten.«

»Ihre Kollegin deutete an, dass die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt ist. Es wäre hilfreich, wenn Sie einige Anhaltspunkte für mich hätten. Ich meine, Sie hegen doch eine Vermutung, um wen es sich handeln könnte, richtig?«

»Nicht wirklich«, entgegnete Hansen. »Das heißt, wir vermissen tatsächlich einen Passagier. Allerdings sieht es so aus, als sei er unter falscher Identität gereist. Außerdem ist sein gesamtes Gepäck verschwunden. Ich kann Ihnen also nichts geben, das möglicherweise für einen DNA-Abgleich taugt.« Das war zumindest nicht gelogen, auch wenn er es vorzog, den Namen des Journalisten vorerst für sich zu behalten. »Bitte, können Sie nicht einfach anfangen und mir alle Auffälligkeiten mitteilen?«

Mader rümpfte die Nase, was ihm einmal mehr Ähnlichkeit mit seinem Namensverwandten eintrug. »Nun gut, ich werde tun, was ich kann«, sagte er.

»Ich danke Ihnen vielmals.« Hansen gab sich keine Mühe, die Erleichterung in seiner Stimme zu unterdrücken. »Nur eines noch«, fügte er mit einer gewissen Eindringlichkeit hinzu. »Es ist gut möglich, dass noch ein weiterer Beamter hier auftauchen und Fragen über den Toten stellen wird. Es ist ungeheuer wichtig, dass Sie sämtliche Informationen zuerst mir zukommen lassen.« Er überreichte Mader seine Visitenkarte. »Und verraten Sie ihm auf gar keinen Fall, dass wir bereits miteinander gesprochen haben. In Ordnung?«

»Das kostet aber extra«, entgegnete der schmächtige Professor mit todernster Miene.

Für einen Moment schaffte er es, Hansen restlos zu verunsichern.

»Kleiner Scherz.« Mader verzog die Mundwinkel zu etwas, das einem Grinsen sehr nahe kam. »Sie waren niemals hier und bekommen alle Infos exklusiv. Geht klar. Dann mache ich mich mal an die Arbeit.« Ohne sich mit Abschiedsfloskeln aufzuhalten, marschierte er erhobenen Hauptes auf einen der Fahrstühle zu.

Als Hansen aus dem kühlen Foyer auf die Straße trat, schlug ihm die Hitze wie eine Wand entgegen. Er winkte ein Taxi herbei und ließ sich auf die Rückbank fallen. Während der Fahrt zur Leitstelle dachte er darüber nach, ob Esther Lessing ihm diesen seltsamen Leichendoktor als Revanche für seine Annäherungsversuche geschickt hatte. Und ob sie sich insgeheim über ihn lustig machte.