Lisa schlug die Augen auf. Ihr Puls pochte hektisch gegen die Schläfen, sie atmete stoßweise, und sämtliche Sehnen schienen sich instinktiv zu spannen. Für den Moment entdeckte sie nichts, das ihre plötzliche Alarmbereitschaft rechtfertigte. Allerdings erschrak sie allein über die Tatsache, dass sie überhaupt eingeschlafen war. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie weg gewesen war, vielleicht eine Stunde oder auch nur wenige Minuten. Fest stand nur, dass sie sich auf die unbequeme Holzbank im Laternenhaus gelegt hatte, um genau das zu verhindern. Während sie sich vorsichtig in eine sitzende Position aufrichtete, protestierte so ziemlich jeder einzelne Muskel in ihrem Körper. Grelle Sonnenstrahlen fluteten durch die verglasten Wände. Lisa blickte hinaus, suchte mit den Augen die Galerie ab, konnte aber auch dort niemanden entdecken. Offenbar hatte Karla den Plan aufgegeben, Lisa zum Freitod zu verhelfen. Zumindest vorerst.
Für den Moment schien sie im sonnenhellen Laternenhaus in Sicherheit zu sein. Das Problem war nur, dass sich jetzt ein quälender Durst meldete. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt einen Schluck Wasser getrunken hatte. Vermutlich begann ihr Körper langsam zu dehydrieren. Wenn sie nicht bald etwas dagegen unternahm, riskierte sie rasende Kopfschmerzen, die ihrer allgemeinen Verfassung ganz sicher nicht zuträglich wären. Sie gab sich einen Ruck. Auf wackeligen Beinen stieg sie die Treppen hinab.
Karla erwartete sie in der Küche. Sie stand hinter ihrem Sohn, die Hände ruhten auf seinen völlig verspannten Schultern. Leons Augen waren rot entzündet und verquollen, seine Lippen zitterten bei dem Versuch, einen Weinkrampf zu unterdrücken. Die Berührung seiner Mutter schien ihm keinerlei Trost zu spenden. Fast sah es so aus, als wartete er nur auf eine günstige Gelegenheit, ihr zu entkommen.
»Ich habe ihm erzählt, was seinem Vater zugestoßen ist«, sagte Karla.
Es zerriss Lisa das Herz, den Jungen so hilflos trauernd vor sich zu sehen. »Leon, es tut mir so entsetzlich leid«, flüsterte sie.
Für den Bruchteil einer Sekunde wechselte der Ausdruck in seinen Augen; er starrte sie an, als wären ihr plötzlich Teufelshörner und Pferdefuß gewachsen. Das Blut in Lisas Adern schien sich in feine Eiskristalle zu verwandeln und machte jeden Pulsschlag zur Qual.
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann …« Sie streckte die Hand aus, um ihm über das Haar zu streichen.
Reflexartig zog Karla ihn einen halben Schritt rückwärts, sodass Lisa ins Leere griff. »Rühr meinen Sohn nicht an!«
Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Auch wenn sie es ihrer Schwägerin nicht einmal verübeln konnte. Von Trauer und Scham überwältigt, schaute Lisa zu Boden.
»Wir wissen nicht, wie lange wir hier noch festsitzen werden«, sagte Karla. »Aber bis dahin gelten ab sofort feste Regeln. Regel Nummer eins kennst du bereits.«
»Ich soll mich von Leon fernhalten.« Bittere Magensäure stieg in ihrer Speiseröhre empor. Sie schluckte hörbar.
»Gut. Regel Nummer zwei: Du wirst überhaupt nichts tun ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Egal ob du auf die Toilette gehen, dir in der Nase bohren oder Löcher in die Luft starren willst – du wirst mich vorher um Erlaubnis fragen. Ist das klar?«
»Ja«, hauchte Lisa. Natürlich war ihr bewusst, dass Karla sie über Gebühr demütigte, weil es ihr eine Art perverse Genugtuung verschaffte. Doch im Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als die Folgsame zu spielen.
»Regel Nummer drei: Sobald wir wieder Festland unter den Füßen haben, fahre ich dich ohne Umwege in die Feldmann-Klinik. Du wirst dich auf einen längeren Aufenthalt dort einstellen. Hast du das verstanden?«
»Ich soll aus deinem und Leons Leben verschwinden. Endgültig.« Sie wollte nicht weinen, nicht vor diesem Scheusal, das ernsthaft befürchtete, Lisa könne dem Jungen auch nur ein Haar krümmen. Doch sie konnte die Tränen nicht aufhalten, die ihr nun über die Wangen rannen.
»Warum bist du nicht einfach gesprungen? Ich habe dir doch angesehen, wie sehr du es wolltest.«
Plötzlich geschah etwas in Lisas Kopf. Es fühlte sich an, als fiele ein störender Bolzen aus einem Räderwerk, das sich nun schwerfällig in Gang setzte. Auch wenn Lisa noch nicht recht wusste, was das alles zu bedeuten hatte.
»Es wäre für uns alle das Beste gewesen.« Offenbar deutete Karla ihr Schweigen als schmerzhafte Einsicht. »Aber es ist noch nicht zu spät. Du kannst es noch immer tun. Warum gehst du nicht wieder hinauf und bringst es zu Ende?«
»Hast du allen Ernstes geglaubt, dass ich es dir so leicht mache?« Die Frage schoss ihr wie ein Pfeil durch den Kopf. Für einen Moment wagte sie zu hoffen, Karla möge sie überhört haben. Doch die verzerrte Miene ihrer Schwägerin ließ keine Zweifel offen.
»Was willst du damit sagen?« Ihre dunklen Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie schob ihren Sohn beiseite und machte einen Schritt auf Lisa zu.
»Nur, dass ich nicht so dumm bin, wie du denkst«, sagte Lisa. Es wunderte sie selbst, wie ruhig die Worte aus ihrem Mund drangen. Anton wird kommen. Er wird mich retten. Vor dir, vor deinem im Sarg verwesenden Bruder und vor dieser verfickten Klapsmühle!
»Schon klar, du bist ausgesprochen clever, so viel habe ich gelernt. Es gehört schon ein ordentliches Maß an Verschlagenheit dazu, Männer derart zu manipulieren, dass sie sogar für dich in den Tod springen.« Sie fixierte Lisa wie eine Schlange ihre Beute.
»Bitte, das ist nicht fair.«
»Kennst du das Gefühl, einen Pickel auf der Stirn zu haben, der dich bei jedem Blick in den Spiegel feuerrot angrinst?« Karlas Blick bohrte sich kalt und schwarz in Lisas Kopf. »Du versuchst, ihn auszuquetschen. Aber natürlich machst du es damit nur noch schlimmer, kratzt sogar die gesunde Haut auf und reibst dabei zusätzlich Dreck in die Wunde. Ehe du dich versiehst, ist aus dem Pickel ein fetter, eitriger Furunkel geworden, an den du jede Minute des Tages denken musst, weil du weißt, wie sehr er dich verunstaltet.« Sie gab einen Laut von sich, der wie eine Mischung aus Keuchen und Lachen klang. »Genau so fühlt es sich für mich an, seit du das erste Mal aufgetaucht bist. Du bist wie ein Krebsgeschwür, das Tag um Tag wuchert, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte. Es sei denn, ich reiße es heraus. Ein für alle Mal.«
Es fühlte sich an, als bohre sich ein Dolch in ihre Eingeweide. Dabei waren es nicht einmal die gnadenlosen Worte, die sie verletzten, sondern die Todesverachtung, die in Karlas Tonfall lag.
»Ich verstehe nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Für dich ist es vollkommen selbstverständlich, dass die Männer dich umschwärmen wie Fliegen ein Stück rohes Fleisch. Es kümmert dich nicht, ob du eine andere Frau oder eine ganze Familie ins Unglück stürzt. Hauptsache, die Welt dreht sich ganz allein um dich.« Karla spie ihr die Worte entgegen, dass kleine Speicheltröpfchen umherflogen.
»Also doch. Du hast Moritz und mich zusammen auf der Galerie gesehen. Aber es war nicht so, wie du denkst. Ich kann es dir erklären.«
»Oh bitte, erspar mir das. Weißt du, ich glaube dir sogar, dass du nicht einmal bemerkst, was du anrichtest. Aber Moritz war bei klarem Verstand, soweit man es von einem notgeilen Loser behaupten kann. Er war scharf auf dich, seit er dich das erste Mal gesehen hat. Genau wie Robert.«
»Es gibt überhaupt keinen Grund für deine Eifersucht. Moritz und ich waren Freunde, nicht mehr. Und was Robert anbelangt, weiß jeder, wie nahe ihr euch standet. Aber er war dein Bruder, nicht dein Ehemann.«
»Was spielt das für eine Rolle? Du hast sie mir beide weggenommen. Und als sie dir langweilig wurden, hast du sie umgebracht!«
»Das ist nicht wahr!«
»Glaubst du ernsthaft, du könntest mich jetzt noch für dumm verkaufen?« In Karlas Augen funkelte so abgrundtiefer Hass, dass Lisa vor Angst der Atem stockte.
»Was hast du jetzt vor? Willst du mich eigenhändig töten?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Lisa beobachtete, wie Karlas Mundwinkel nervös zuckten.
»Verfluchte Scheiße, warum bist du nicht einfach gesprungen?«, kreischte sie.
So plötzlich, dass Lisa keine Zeit zu reagieren blieb, stürzte sich Karla wie von Sinnen auf sie.
Eiskalte Finger umklammerten ihren Hals, überaus kräftige Daumen pressten sich gegen ihren Kehlkopf. Lisa wusste, dass sie dieser Furie nichts entgegenzusetzen hatte.
»Hör auf, Mama, du bringst sie ja um!« Leons Schrei drang seltsam gedämpft und misstönend an ihr Ohr.
Offenbar zerrte der Sauerstoffmangel bereits an ihrer Wahrnehmung. Die Welt vor ihren Augen verschwamm, als befände sie sich tief unter Wasser. Dann passierte noch etwas, das ihr Bewusstsein jedoch nicht mehr wirklich erreichte. Denn im selben Moment versank die Welt um sie herum in Grabesdunkel. Erst als sie schmerzhaft auf den Boden schlug, kehrten ihre Sinne zurück. Das Erste, was sie sah, hätte sie in einem anderen Leben zum Lachen gebracht: Leon stand breitbeinig hinter seiner Mutter, mit beiden Händen umklammerte er den Stiel einer schweren, gusseisernen Bratpfanne, die er wie eine Waffe im Anschlag hielt. Allem Anschein nach hatte er Karla damit einen Hieb ins Kreuz versetzt, damit sie von Lisa abließ.
»Wie konntest du so etwas nur tun? Ich bin deine Mutter!« Karlas Miene spiegelte eine solche Menge an Emotionen, dass sie unmöglich alle zu deuten waren.
»Ist mir egal! Ich will, dass ihr endlich damit aufhört!«, schrie Leon aus Leibeskräften. Sein Gesicht glänzte alarmierend rot unter dem dicken Schweißfilm. Einer der Brillenbügel war von seinem Ohr gerutscht, das Gestell balancierte notdürftig auf seiner Nasenspitze. Er schielte auf fast groteske Weise über den Rand der Gläser hinweg und versuchte, seine Umgebung einigermaßen scharf zu sehen.
»Was zur Hölle hast du mit meinem Sohn gemacht?«, kreischte Karla wie von Sinnen. »Wie hast du es geschafft, ihn derart gegen mich aufzuhetzen?«
»Du solltest dich einfach einen Moment beruhigen«, sagte Lisa, während sie aufstand, ohne Karla aus den Augen zu lassen. Sie wusste selbst, wie abgedroschen das klang, doch etwas Besseres fiel ihr einfach nicht ein. Nicht in einer Million Jahren hätte sie es für möglich gehalten, ihre Schwägerin vor Eifersucht brennen zu sehen.
»Ich werde mich erst beruhigen, wenn ich dich sicher hinter Schloss und Riegel weiß. Aber vorher will ich wissen, was für ein Gift du meinem Sohn ins Ohr geträufelt hast. Raus mit der Sprache!«
»Du bist ja vollkommen paranoid.«
»Oh nein. Wie es aussieht, bin ich all die Zeit über nicht paranoid genug gewesen, um deine Bosheit zu erkennen!«
Mit klauenartig gespreizten Händen stürzte sich Karla abermals auf sie.
Doch dieses Mal traf es Lisa nicht unvorbereitet. Sie schaffte einen Ausfallschritt. Genau im richtigen Moment schob sich ihr Fuß vor das Schienbein ihrer Gegnerin. Mit einem verblüfften Aufschrei hob Karla einige Zentimeter vom Boden ab und schlug, von einem dumpfen Geräusch begleitet, bäuchlings der Länge nach hin. Ein dünnes Rinnsal Blut sickerte unter ihrem Gesicht hervor.
Lisa stand wie gebannt da. Mehrere Atemzüge lang glaubte sie fest daran, ihre Schwägerin soeben getötet zu haben. Gleichsam wartete sie darauf, dass sich Mitleid in ihr regte oder zumindest ein gewisses Bedauern. Doch es war wie in ihrer Geburtstagsnacht, auf der Galerie, als sie dem verletzten Krammetsvogel den Hals gebrochen hatte. Sie fühlte absolut gar nichts. Bis sie ein halb ersticktes Röcheln wahrnahm, das ihr einen Schauer des Ekels bescherte.
Das Miststück presste die Handflächen auf den Boden, hob sich in eine Art Liegestütz und rollte zur Seite ab. Aus einer seltsam verdrehten Haltung schaute sie zu Lisa auf. Ihre Nase beschrieb einen unnatürlichen Winkel und schwoll bereits stark an. Auf ihrer Stirn prangte eine Platzwunde. Leicht benommen versuchte sie, etwas Blut fortzuwischen, das ihr in die Augen tropfte, verschmierte es dabei jedoch wie Kriegsbemalung auf den Wangen.
»Du gottverdammtes Flittchen«, presste Karla hervor. Ihre Zahnreihe glänzte ebenfalls rötlich, offenbar hatte sie sich bei dem Sturz auf die Zunge gebissen. »Glaubst du, dass du damit irgendetwas besser machst?« Trotz ihres Hasses schien tatsächlich ein Funken Respekt in ihren Augen zu glimmen. Von nun an würde sie auf der Hut sein, so viel stand fest.
»Im Lagerraum gibt es einen Erste-Hilfe-Kasten«, sagte Lisa nüchtern. »Bleib, wo du bist, dann kann ich deine Wunden versorgen.«
»Das könnte dir so passen!« Karla versuchte aufzustehen, sank jedoch erschöpft zurück.
Der bloße Gedanke, dieses Scheusal zu berühren, verursachte Lisa Übelkeit. Aber um Leons willen musste sie sich zusammenreißen.
Widerwillig machte sie sich auf den Weg hinunter in den Lagerraum.