23

Für Lisa bestand kein Grund mehr, sich im Lagerraum zu fürchten. Trotzdem bekam sie ihren rasenden Puls nur schwer unter Kontrolle. Kaum dass sie die letzte Stufe überwunden hatte, begann sich die Umgebung vor ihren Augen zu drehen.

Wasser. Du bist in die Küche gegangen, weil du furchtbaren Durst hast. Du musst nur etwas trinken!

Mit wenigen Schritten stand sie in der Nasszelle, drehte den Wasserhahn auf und trank gierig aus der hohlen Hand. Für einen Moment musste sie innehalten, um Atem zu schöpfen. Es war ein purer Reflex, der sie zwang, ihren Oberkörper aufzurichten, um genügend Sauerstoff in die Lunge zu pumpen. Und dabei in den nackten Wandspiegel zu schauen, den einzigen Spiegel im ganzen Leuchtturm. Doch dieses Mal erschrak sie nicht über die aschgrauen Ränder unter ihren Augen. Etwas lenkte sie von ihrem Gesicht ab. Etwas Silbriges, das soeben einen Lichtstrahl reflektierte, der sich durch das kleine Bullauge zwängte. Lisa kniff die Lider zusammen, riss sie wieder auf.

Das Ding war noch immer da, auf dem Schachbrettmuster der Fliesen, direkt neben der Toilette, eng an die Wand geschmiegt. Sehr langsam wandte sich Lisa vom Spiegel ab und drehte sich um. Als steuere jemand anderes ihre Bewegungen, kniete sie sich auf den Boden. Mit gestrecktem Arm angelte sie den rechteckigen Gegenstand aus der Ecke hervor. Er wog zu schwer in ihrer Hand, als dass sie einfach hätte wieder aufstehen können. Kniend starrte sie auf Karlas iPhone. Hier also hatte es die ganze Zeit gelegen, war der dämlichen Nuss aus der Hosentasche gerutscht, als sie auf der Toilette hockte. Zumindest in diesem Punkt hatte Lisa also nicht ihre Finger im Spiel gehabt, weder im Wahn noch bei klarem Verstand. Allerdings bestand keinerlei Chance, dass Karla ihr auch nur ein Wort glauben würde. Vollkommen gleichgültig, was Lisa sagen oder tun würde, Karla wüsste dagegenzuhalten, allein aus Prinzip.

Planlos tippte und wischte Lisa auf dem Display herum. Immerhin hatte das Ding noch Saft, auch wenn der kleine Kontrollbalken des Akkus bereits rot blinkte. Die Funktionen waren jedoch gesperrt und verlangten nach einer PIN. Sie spürte ein irres Lachen in ihrer Kehle, das wie ein Röcheln hervorquoll. Die Verzweiflung nagte an ihren Eingeweiden wie eine hungrige Ratte.

Verdammt! Reiß dich zusammen! Denk. Einfach. Nach.

Leon, natürlich. Plötzlich erschien es ihr als vollkommen logisch, dass der Junge die PIN seiner Mutter kannte, auch wenn er sich noch so desinteressiert am Internetsurfen gab. Jetzt musste Lisa nur noch lange genug an Leon herankommen, um ihm die vier Ziffern zu entlocken. Anschließend musste sie es ungehindert auf die Galerie schaffen, da es in den unteren Stockwerken keinen ausreichenden Empfang gab. Auf dem Wege dorthin brauchte sie lediglich den Zettel vom Wandtelefon zu reißen. Denn es ergäbe kaum Sinn, einfach die Eins-Eins-Null zu wählen. Alles, das sie der Stimme in der Notrufzentrale erzählen konnte, musste unweigerlich wie kompletter Unsinn klingen. Außerdem konnten die kaum einen Streifenwagen vorbeischicken, um aus purer Höflichkeit nachzusehen. Sie musste die Wasserschutzpolizei direkt anrufen. Wenn sie nach Hauptkommissar Anton Hayen persönlich verlangte, hatte sie zumindest eine Chance, ernst genommen zu werden. Und dann, endlich, würde er kommen, um sie zu retten. Ganz bestimmt! Falls der müde Akku lange genug durchhielt.

Sie ignorierte das Knacken ihrer Kniegelenke, als sie vom Boden aufstand. Das Handy verstaute sie in der Seitentasche ihrer Strickjacke. Diese war ausgebeult genug, sodass die eckigen Umrisse darin nicht auffielen, jedenfalls nicht bei flüchtigem Hinsehen. Dann, endlich, ging sie zurück in den Lagerraum, um nach dem Erste-Hilfe-Kasten zu suchen. Besser, sie wiegte Karla in Sicherheit, bis sie die passende Gelegenheit fand, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Auch wenn ihr dafür nicht allzu viel Zeit blieb, mit blinder Hektik würde der Schuss nach hinten losgehen.

Sie entdeckte das Verbandszeug im Regal über der Nische, in der die Rettungsinsel gelegen hatte. Doch noch während sie den orangefarbenen Kasten hervorzog, fiel ihr Blick auf einen länglichen Gegenstand, der wie verirrt zwischen einem Knäuel aus Seilen, Flaschen mit Lösungsmitteln und einem Haufen altgedienter Arbeitshandschuhe lag. Ein Lächeln zuckte über ihre Mundwinkel, als ihre Finger den rutschfesten Griff umschlossen. Ihr Atem beruhigte sich auf wundersame Weise, während sie das Werkzeug anhob.

Der Hammer lag gut in der Hand. Es war einer mit einem flachen Kopf, um Nägel einzuschlagen, und einer leicht gebogenen und gespaltenen Spitze, um unbrauchbare Nägel wieder herauszuziehen. In jedem Fall eignete er sich perfekt als Waffe. Falls Karla ihr noch einmal an die Kehle springen sollte, würde sie davon Gebrauch machen, ohne zu zögern.

Inmitten ihres kleinen Triumphes hörte Lisa plötzlich Schritte auf der Treppe.

»Was machst du da?«, fuhr Karla sie an.

Da ihr keine Zeit zum Nachdenken blieb, stopfte Lisa den Hammerstiel in ihren Gürtel und knöpfte die Strickjacke darüber zu. Dann hob sie den Verbandskasten in die Höhe und drehte sich zu ihrer Schwägerin um.

»Ich habe ihn gefunden. Warum hast du nicht einfach in der Küche gewartet?«

»Du hast mir die Nase gebrochen«, antwortete Karla. »Ich brauche einen Spiegel, um sie mir zu richten.«

Damit setzte sie ihren Weg die Treppe hinunter fort. Ihren Bewegungen nach zu urteilen, hatte sie sich bei dem Sturz etliche Prellungen zugezogen. Für sie bestand keine Notwendigkeit, die Schmerzen zu verbergen. Ganz im Gegensatz zu Lisa, damals, als Robert noch am Leben gewesen war. Es verschaffte ihr eine boshafte Genugtuung zu sehen, wie Karla, die ihren Bruder nahezu vergöttert hatte, litt.

»Lass mich dir wenigstens helfen.« Lisa folgte ihrer Schwägerin in die Nasszelle.

»Geh mir aus dem Weg!« Karla entriss ihr das Verbandszeug. Dabei berührte sie um ein Haar den Hammerkopf, der sich verräterisch unter Lisas Strickjacke abzeichnete. Doch Karla war zu sehr damit beschäftigt, ihr geschwollenes Gesicht im Spiegel zu betrachten.

»Wie du willst«, sagte Lisa.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das Miststück es ihr so leicht machen würde. Zielstrebig stieg sie die Treppen hinauf. Fast befürchtete sie, der handgeschriebene Zettel am Wandtelefon des Dienstraumes könnte in der Zwischenzeit verschwunden sein. Doch er klebte wie all die Jahre zuvor am Plastikgehäuse. Ihre Finger zitterten unkontrolliert, während sie die Klebestreifen loskratzte. Das morsche Papier riss entzwei, als es ihr endlich gelang. Doch auf dem Fetzen in ihrer Hand stand, was sie brauchte. Jetzt hing alles davon ab, ob der Junge ihr noch immer vertraute.

Sie fand Leon draußen auf der Galerie. Gerade hob er das Küchenmesser auf, das ihr in der Nacht zuvor in ihrer Panik aus der Hand gefallen war. Sie hatte es vollkommen vergessen.

»Bitte, Leon, leg das wieder weg«, hörte sie sich sagen.

Als er das Geräusch hinter seinem Rücken wahrnahm, drehte er sich zu ihr um, dabei zeigte die Spitze der Klinge direkt auf Lisas Unterleib.

»Ich wollte nicht, dass deinem Vater etwas passiert.« Die Worte kamen stockend über ihre Lippen. »Es war ein Unfall. Deine Mutter hat recht, ich sehe Gespenster. Hier auf dem Leuchtturm ist niemand außer uns dreien. Also bitte, gib mir das Messer.«

Leon starrte sie nur schweigend an.

Hätte er sie angeschrien, geweint oder gar angegriffen, wäre die Situation einigermaßen erträglich gewesen. Doch in seinen hellblauen Augen, die so sehr an Moritz erinnerten, lag eine Leere, die Lisa körperlich wehtat.

»Hör zu, ich habe das Handy deiner Mutter gefunden!« Sie nestelte es aus ihrer Tasche und hielt es in die Höhe. »Wir können jetzt Hilfe rufen. Du musst mir nur ihre PIN geben.«

In Leons Gesicht schienen sich Hoffnung und Misstrauen einen erbitterten Kampf zu liefern. Seine Lippen öffneten sich, als habe er sich entschieden, seiner Tante Lisa zu glauben. Doch weiter kam er nicht.

»Wusste ich’s doch!«, schrie Karla.

Offenbar hatte nicht einmal Leon bemerkt, dass sie zu ihnen heraufgeschlichen war. Er wirbelte herum, die Klinge nun starr auf seine Mutter gerichtet.

»Um Gottes willen, was hast du ihm erzählt?«, kreischte sie, völlig perplex, von ihrem Sohn so offensichtlich bedroht zu werden.

Zwar hatte sie sich das Nasenbein notdürftig gerichtet, ansonsten jedoch keine Zeit auf die Versorgung ihrer Wunden verschwendet. Es war also alles andere als verwunderlich, dass ihr bloßer Anblick den Jungen verstörte.

»Ich habe dein Telefon gefunden«, brachte Lisa in einigermaßen ruhigem Ton hervor. »Ich brauche nur deine PIN, dann rufe ich die Polizei an. Die werden uns abholen.«

»Sicher.« Karla stieß einen verächtlichen Laut aus. »Sehe ich aus wie eine Vollidiotin?«

»Drei, sieben …«, begann Leon zu diktieren.

»Halt um Gottes willen den Mund!« Karla machte einen halben Schritt auf ihren Sohn zu, verharrte jedoch eine Handbreit vor der Messerklinge. »Was auch immer sie dir eingetrichtert hat, glaube ihr kein Wort. Dort steht die Mörderin deines Vaters!«

»Das ist nicht wahr!«, brachte Lisa gequält hervor. »Aber wir können das später klären. Jetzt müssen wir erst mal weg von hier. Leon?« Wie auf Kommando gab das Telefon in ihrer Hand einen kläglichen Laut von sich. Der rote Kontrollbalken des Akkus blinkte. Lisa schaute ihrem Neffen flehend in die Augen.

»Denk nicht einmal daran!« Karlas Blick flog hektisch zwischen dem Messer in Leons Hand und ihrem Handy, das Lisa umklammert hielt, hin und her. »Sie hat deinen Vater umgebracht, kapierst du das denn nicht?«

»Hört auf!«, brüllte Leon plötzlich aus Leibeskräften.

Karla klappte vor Verblüffung die Kinnlade herunter. Lisa wagte nicht, sich zu rühren.

»Warum denkt ihr bloß immer, dass ich total verblödet bin?«, sprudelte es aus ihm heraus.

»Aber das tut doch keiner«, versuchte Karla, ihn zu beruhigen. Ohne Erfolg.

»Du lügst!«, schrie Leon. »Ich habe es gesehen! Ich habe alles gesehen!« Seine Hand, die das Küchenmesser hielt, stieß ruckartig in Karlas Richtung.

Die Stille, die nun eintrat, war umfassend. Die Wellen tief unter ihnen hielten inne, die Möwen verstummten, kein Lufthauch regte sich mehr.

»Nein, Leon, du musst mir zuhören«, presste Karla hervor. »Dein Papa war sehr leichtsinnig, er ist –«

»Hör. Endlich. Auf. Zu lügen!« Er hob die Messerklinge ein wenig höher. »Ich habe dich gestern Nacht beobachtet. Tante Lisa war draußen auf der Turmleiter, Papa hat auf dem Bauch gelegen, um sie heraufzuziehen. Du hast seine Beine festgehalten. Am Anfang. Und dann hast du ihn gestoßen, einfach so!« Tränen liefen seine roten Wangen hinab, doch er blinzelte nicht einmal. »Tante Lisa soll endlich die Polizei rufen! Drei, sieben, neun, zwei.«

Lisas Überlebensinstinkt übersprang das Trommelfeuer, das aus allen Winkeln ihres Gehirns gleichzeitig losbrach. In einer Art Vakuum gefangen, tippte sie die Zahlen in den Ziffernblock. Es gelang ihr noch, die Nummer von dem abgerissenen Zettel zu wählen. Dann stürzte sich Karla wie eine Furie auf sie.

Lisa riss die Hand mit dem Telefon darin in die Höhe, um es für Karla außer Reichweite zu bringen. Eine vollkommen sinnlose Übung, wenn man mit einer deutlich größeren Gegnerin rang.

»Wasserschutzpolizei Cuxhaven, Kommissarin Raubach, was kann ich für Sie tun?«, hörte sie eine blecherne Stimme.

»Hallo? Wir sind auf dem Leuchtturm Roter Sand! Wir brauchen Hilfe!«, schrie Lisa, so laut sie konnte. Kurz bevor sich Karlas Fingernägel in ihr Handgelenk krallten.

Ein weiterer Stoß. Das Handy entglitt ihren Fingern. Lisas gesamte Wahrnehmung fixierte das kleine, rechteckige Gerät.

»Hallo?« Die Stimme der Polizistin, direkt in Reichweite, unendlich weit entfernt.

Lisa warf sich zu Boden. Der Hammer, der in ihrem Hosenbund steckte, quetschte sich dabei so fest in ihre Eingeweide, dass ihr der Atem stockte.

»Hallo?«

Ihre Finger berührten das kalte Metall. Bis sich die Sohle von Karlas Sportschuh über ihrem Handrücken niedersenkte. Lisa stieß einen erstickten Schrei aus, als einige der empfindlichen Knochen brachen. Trotzdem tastete sie weiter nach dem Telefon. Doch bei jeder flüchtigen Berührung schnippte sie es einige Millimeter von sich fort. Ein letzter Versuch machte jegliche Hoffnung zunichte. Das Handy schlitterte über den Fußboden der Galerie, fand das freie Feld unter dem Geländer. Dann fiel es mit einem letzten »Hallo?« in die Tiefe.