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»Denkst du, jemand hat uns gehört?« So vorsichtig, als fürchtete er sich vor der Antwort, schaute Leon zu ihr auf.

Die Versuchung, ihm Mut zuzusprechen, war groß. Doch es gab keinen Grund mehr, ihn wie ein Kind zu behandeln. Ein einziger Blick in seine hellblauen Augen reichte aus, um zu erkennen, dass sein unbeschwertes Gemüt der Vergangenheit angehörte. Der Junge war in den letzten Stunden um Jahre gealtert. Gleichzeitig hatte er längst bewiesen, dass sein gesunder Menschenverstand weitaus besser funktionierte als ihr eigner. Leon war der einzige Mensch, auf den sie sich jetzt noch verlassen konnte.

»Schwer zu sagen. Aber wir sollten lieber keine allzu großen Hoffnungen darauf setzen«, antwortete sie.

»Dann müssen wir es eben weiter versuchen!« Leon legte sämtliche Überzeugungskraft in seine Stimme.

Lisa schämte sich in Grund und Boden, als sie begriff, dass sich ihre Rollen gänzlich umgekehrt hatten. Die Entschlossenheit, die Leon an den Tag legte, tat ihr in der Seele weh. Allerdings war da etwas, das diese Sorge noch weit überschattete.

»Ich frage mich die ganze Zeit, warum der Strom so plötzlich weg war«, sprach sie ihre Gedanken aus.

»Das Gewitter«, erklärte Leon. »Bei uns zu Hause ist es auch schon mal passiert. Papa hat gesagt, dass der Blitz irgendeine Leitung erwischt hat.« Er hielt den Atem an, als ihm wieder bewusst wurde, was mit seinem Vater geschehen war.

Lisa strich ihm sachte über den Rücken, da sie keine Worte fand, die ihr auch nur annähernd angemessen erschienen wären. Gleichzeitig kämpfte sie gegen ihre Angst, dieses Mal könne sich der Junge irren. Zwar hatte sie sich nie für technische Dinge interessiert, doch gegen seine Theorie sprach schon die Tatsache, dass aus dem Treppenhaus ein fahler Schimmer drang. Was nichts anderes bedeutete, als dass die Notbeleuchtung nach wie vor funktionierte. Diese wurde ebenso aus der Solarvorrichtung versorgt wie die Ladestation. Also wie wahrscheinlich war es, dass ein Blitz die leidliche Stromversorgung auf dem Turm nur teilweise unterbrach? Was, wenn jemand dort oben einfach den Stecker des Verlängerungskabels gezogen hatte?

Oh nein! Nein, nein, nein! Leon steht neben mir, Karla liegt auf dem Boden, und außer uns dreien ist verdammt noch mal niemand sonst hier!

Fast hätte sie das Mantra laut herausgeschrien, um ihren Verstand beisammenzuhalten. Um nichts in der Welt durfte sie zurück in ihre Angstphantasien fallen. Sie durfte Leon nicht im Stich lassen. Nicht schon wieder.

»Hat das Funkgerät denn wieder Strom?«, fragte sie einigermaßen gefasst.

»Nein«, gab Leon zu. »Hab’s schon kapiert, wir können niemanden mehr zu Hilfe rufen.«

»Vielleicht ja doch.« Es war nichts weiter als ein äußerst vager Gedanke. Aber herumsitzen und gar nichts tun könnten sie immer noch, wenn auch die letzten Möglichkeiten ausgeschöpft wären. »Wenn es eine Rettungsinsel gegeben hat, dann liegen im Lagerraum vielleicht auch Leuchtraketen herum. Falls wir welche finden und sie abschießen, wird sich bestimmt jemand ausreichend wundern, meinst du nicht?«

Leon zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine gesehen, als ich das Kabel gesucht habe.«

»Hast du eine bessere Idee?« Eine Frage, die nicht einmal rhetorisch gemeint war. Tatsächlich hoffte Lisa, der Junge würde sie abermals überraschen.

Doch Leon antwortete nicht.

»Also dann: Gehen wir.« Schon beim ersten Schritt bereute sie ihre Dummheit.

Glühende Schmerzen schossen vom Fußballen bis zum Nackenwirbel durch ihre Nervenbahnen. Trotzdem ging sie weiter, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Bis eine eiskalte Hand plötzlich ihr Fesselgelenk umklammerte.

»Wo bringst du ihn hin?«

Mit stockendem Atem drehte sie sich zu Karla um, die in ihrer verkrümmten Lage seltsame Ähnlichkeit mit dem Reh aufwies, das Lisa damals überfahren hatte. Auf ihrer Stirn klaffte eine riesige Platzwunde, die heftig geblutet hatte. Das geronnene Blut überzog ihr Gesicht mit einer rotbraunen Kruste, aus der die weit offenen Augen unnatürlich hervorstachen.

»Wir versuchen nur, Hilfe zu rufen. Für dich. Du musst so schnell wie möglich in ein Krankenhaus«, sagte Lisa mit sämtlicher Fassung, die sie aufbringen konnte.

»Du lügst doch! Du willst mit meinem Sohn abhauen und mich hier verrecken lassen!«, fauchte Karla.

»Unsinn! Niemand verschwindet so einfach von hier. Das können wir gar nicht, und du weißt es. Also lass mich dir einfach helfen.« Mit einem Ruck versuchte Lisa, ihren Knöchel zu befreien. Doch Karla hielt ihn gnadenlos fest.

»Leon, Schatz, du darfst deiner Tante nicht vertrauen. Sie ist böse, hörst du? Sehr, sehr böse!«

»Nein, Mama«, sagte Leon mit verblüffend fester Stimme. »Du hast Fieber, und wir können dir hier nicht helfen. Lass sie los, damit wir nach den Leuchtraketen suchen können.«

Für einen winzigen Moment schienen seine Worte in Karlas Verstand vorzudringen. Jedenfalls öffnete sie ihre Finger, die Lisas Knöchel umklammerten. Nur ein bisschen, aber es reichte aus, um sich mit einer blitzschnellen Bewegung zu befreien. Angeekelt beobachtete Lisa, wie Karlas Hand erneut nach ihr schnappte wie die Zange eines riesigen Krebses.

»Beeilen wir uns lieber«, sagte sie zu Leon.

Der Junge nickte nur. Tapfer stieg er voran die Treppe hinunter.

In der Küche erwartete sie ein recht chaotischer Anblick. Der Vorratsschrank gähnte weit offen. Auf dem Esstisch lag ein benutztes Buttermesser, daneben stand ein achtlos geöffneter Tetra Pak Orangensaft. Brotscheiben waren aus der Plastiktüte gerissen, niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Käse- und die Margarineschachtel wieder zu schließen. Sie warf Leon einen skeptischen Blick zu, den er jedoch nicht einmal zu bemerken schien. Vom brennenden Durst überwältigt humpelte sie zum Tisch, griff nach dem Orangensaft und trank die Packung ohne abzusetzen leer. Dann beeilte sie sich, dem Jungen die letzten zwei Stockwerke hinunter zu folgen. Er war bereits dabei, im Lichtkegel seiner Taschenlampe nach etwas Brauchbarem zu suchen.

»Wie sehen solche Leuchtraketen denn aus?«, fragte er, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Lisa. »Bestimmt sind sie in einer Schachtel verpackt, auf der draufsteht, was drin ist.« Zumindest hoffte sie es.

Entschlossen knipste sie ihre eigene Stablampe an, um Leons Beispiel zu folgen. Doch der Junge kam ihr zuvor.

»Ich glaube, ich hab was gefunden!«, verkündete er euphorisch. »Das sind sie, oder?« Mit einem halben Grinsen hielt er einen unscheinbaren Pappkarton in die Höhe.

Mit zwei Schritten war Lisa bei ihm. Die Aufschrift war eindeutig. Begeistert drückte sie den Jungen an sich.

»Du bist der Größte!«

Mit zitternden Fingern versuchte sie, die Schachtel zu öffnen, stellte jedoch fest, dass sie mit Klebeband gesichert war.

»Wir brauchen ein Messer. Hast du eins –« Weiter kam sie nicht. »Aua, was soll das?«

Leon kniff ihr so fest in den Arm, dass sie ihr Kleinod um ein Haar fallen ließ.

»Still!«, zischte er. »Hast du das nicht gehört?«

»Nein, was meinst du?«

»Hier ist noch jemand.«

Lisas Herz überschlug sich einmal, bevor es einige Schläge aussetzte. Ein Reflex befahl ihr, dem Jungen zu widersprechen. Stattdessen hielt sie den Atem an und lauschte angestrengt.

Um sie herum herrschte absolute Stille. Nur von draußen drang die wütende Brandung der See zu ihnen herauf.

Plötzlich vernahm sie ein leises Klacken von der Treppe her. So, als setzte jemand vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

»Karla?«, flüsterte Lisa, noch bevor sie sich umdrehte.