39

Die Dunkelheit im Lagerraum schlug ihn sekundenlang mit Blindheit. Erst langsam vermochte er einzelne Silhouetten voneinander zu unterscheiden. Doch keine davon schien irgendwie menschlich zu sein. Seine vor Anstrengung schlotternden Muskeln drohten nachzugeben, als er ein Geräusch hinter sich wahrnahm. Doch es war nur Hansen, der es ebenfalls hier heraufgeschafft hatte. Unwirsch bemerkte Anton, dass auch Dorothea soeben die Leiter hinaufkroch.

»Was will sie hier?«, zischte er.

»Helfen, vermute ich«, raunte Hansen. »Wer weiß, vielleicht schafft sie es ja, sich nützlich zu machen.«

Doch im Moment deutete nichts darauf hin, dass sich außer ihnen noch jemand anderes hier aufhielt.

»Hallo?«, rief Anton zögernd in den Raum hinein. Dann noch einmal, deutlich lauter: »Wir sind von der Polizei! Wir haben Ihren Notruf empfangen.«

Stille.

Anton spürte, wie sich die Gänsehaut über seinen gesamten Körper ausbreitete. Fast glaubte er, seine gespannten Nerven singen zu hören. Jetzt vernahm er hinter seinem Rücken ein Keuchen, gefolgt von einem leisen Fluch. Dorothea kroch durch die Tür und ließ sich erschöpft auf den Boden fallen.

»Ruhe!«, zischte Anton, ohne sich umzuwenden.

»Polizei!«, rief er noch einmal in Richtung der Treppe. »Wir kommen jetzt zu Ihnen rauf!«

Die einzige Antwort war ein dumpfes Echo, das von den stählernen Wänden widerhallte. Bislang war die ganze Sache purer Wahnsinn gewesen. Jetzt allerdings wurde es geradezu unheimlich.

»Hat jemand eine Taschenlampe?«, fragte Anton. Er schalt sich einen Idioten, nicht selbst daran gedacht zu haben.

Seine Kollegen schwiegen betreten.

»Na prima. Also dann: schön vorsichtig.« Er übernahm die Führung in den Schlafraum hinauf.

»Ist jemand verletzt?«, rief er mit leicht belegter Stimme, da sie auch hier niemanden vorfanden. Die Antwort blieb aus. »Hey, Leute, das ist nicht witzig!«

Per Handzeichen verständigte er sich mit Hansen darauf, die Kojen zu kontrollieren. Offenbar waren einige davon vor Kurzem benutzt worden, doch niemand versteckte sich dort. Wortlos stiegen sie die nächste Treppe zur Küche hinauf.

Auch hier sah fast alles genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Abgesehen von der Tatsache, dass inmitten des Raums, im gelben Schein einer Petroleumlampe, ein Kind stand. Der Junge, etwa zehn Jahre alt, leicht pummelig, wild zerzaustes, blondes Haar, wirkte starr vor Schrecken. Tiefblaue Ränder unter den dicken Brillengläsern zeugten von unaussprechlichen Erlebnissen. Vergeblich öffneten und schlossen sich seine vollen Lippen, als er die Polizisten erkannte. Unter anderen Umständen hätte es wohl ziemlich komisch gewirkt.

»Hey«, sagte Dorothea. Sie drängte sich an den Männern vorbei und ging vorsichtig auf den Jungen zu. »Du bist Leon, richtig? Du hast den Notruf gesendet.«

Der Junge nickte langsam. Seine zerfurchte Stirn zuckte unkontrolliert.

»Ich bin Dorothea, das sind Christian und Anton.«

Der Junge schien nach einer Antwort zu ringen, brachte jedoch keinen Ton hervor.

»Was ist hier passiert?« Sie stand jetzt direkt vor ihm, ging ein wenig in die Hocke, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können. »Wir sind hier, um dir zu helfen, du kannst uns vertrauen. Ehrenwort.«

»Es tut mir leid«, brachte Leon endlich hervor. Dabei kämpfte er gegen dicke Tränen, die unter seinen blassen Lidern hervorquollen. »Ich habe … Es war … nur ein Versehen. Ich dachte, das Funkgerät wäre kaputt. Es ist alt und …«

Dorothea schaute über die Schulter zu Anton. In ihrem Gesicht spiegelte sich zum ersten Mal ernsthafte Sorge.

»Wo sind deine Eltern?«

»Bitte verraten Sie mich nicht. Können Sie nicht einfach wieder wegfahren?«, hauchte Leon, als wollte er verhindern, dass ihn jemand in den oberen Stockwerken hörte.

»Die Sache ist die«, sagte Dorothea mit fester Stimme. »Wir können es nicht. Unser Schiff ist gegen die Dalben gekracht. Gut möglich, dass es dabei leckgeschlagen ist. Wir müssen warten, bis unsere Jungs das überprüft haben. Das kann ein paar Stunden dauern.« Sie plapperte einfach weiter, während Anton seine Pistole aus dem Holster zog.

Geräuschlos bewegte er sich langsam auf den Durchgang zum Treppenhaus zu.

Im Moment gab es nur wenige Dinge, die hundertprozentig feststanden. Zunächst einmal hielt sich das Kind unmöglich allein hier auf. Ganz sicher kaufte Leon niemand ab, dass er sich vor den Folgen eines Dummejungenstreiches fürchtete, der die Polizei auf den Plan gerufen hatte. Blieb also die Frage, wo die anderen steckten. Wo war Lisa? Warum um alles in der Welt versteckte sie sich vor ihm?

»Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, redete Dorothea weiter auf den Jungen ein. »Wir müssen nur ganz sicher sein, dass es allen hier gut geht. Das ist unser Job. Also, wo sind deine Eltern? Sie haben doch längst mitbekommen, dass wir hier sind.«

Anton wagte sich zentimeterweise vor. Resignierend stellte er fest, dass es unmöglich war, den gewundenen Aufgang einzusehen. Da ihm nichts anderes übrig blieb, schoss er jegliche Vernunft in den Wind. Entschlossener denn je stieg er die ausgetretenen Holzstufen hinauf. Lediglich ein Luftzug in seinem Nacken signalisierte ihm, dass Hansen ihm in kurzem Abstand folgte.

»Nein, das dürfen Sie nicht!«, rief Leon ihnen nach. »Der Schwarze Mann hat Tante Lisa geschnappt! Er sagt, Sie sollen einfach verschwinden, dann passiert ihr nichts!«

Anton sog hörbar die Luft ein. Mit einem letzten Schritt betrat er den Dienstraum, die Waffe im Anschlag. Dabei übersah er im Halbdunkel das seltsame Bündel, das unmittelbar neben seinen Füßen lag. Er bemerkte es erst, als etwas nach seinem Hosensaum schnappte. Eiskalte Finger erwischten seinen Knöchel und krallten sich in die fleischlose Haut über den empfindlichen Sehnen.

»Scheiße!«, zischte er viel lauter als beabsichtigt.

Eine Million grauenerfüllter Gedankenfetzen schossen ihm durch den Kopf, bevor er es wagte, an seinem Bein hinabzuschauen. Dort auf dem Fußboden, auf einem Lager aus zerknüllten Decken, kauerte eine Gestalt, die Anton erst nach genauerer Betrachtung als Frau identifizierte. Sie sah aus, als wäre ein voll beladener Lkw mit hundert Stundenkilometern über sie hinweggerollt.

»Oh mein Gott, ist das die Mutter?« Hansen ließ jede Vorsicht fahren und sank neben ihr zu Boden. »Was ist mit Ihnen passiert?« Unschlüssig rang er die Hände.

Anton hingegen verspürte nur den unbändigen Drang, der widerwärtigen Berührung dieses … Wesens zu entkommen. Für den Bruchteil einer Sekunde rührte sich in ihm der Reflex, einfach den Lauf seiner Waffe nach unten zu richten und abzudrücken. Noch bevor er sich zu weniger drastischen Maßnahmen durchringen konnte, lockerte sich der Griff von allein. Energisch trat er einen halben Schritt beiseite.

»Wer hat Ihnen das angetan?«, drängte Hansen die Verletzte weiter. »Wo ist er?« Tatsächlich schien es undenkbar, eine Frau könnte sie derart zugerichtet haben. »Ist er allein?«

»Still!«, unterbrach Anton ihn.

»Was?«

»Sie versucht, uns etwas zu sagen.« Gegen seinen Willen ging er ebenfalls in die Hocke, überwand seinen Ekel und brachte ein Ohr an ihre Lippen.

»Es ist wahr«, wisperte sie. Jedenfalls klang es so. Oder so ähnlich. »Es ist alles wahr.«

»Was meinen Sie damit?«, herrschte Anton sie an. Viel zu unsanft packte er sie an den Schultern. »Lisa. Wo ist sie?« Unbeherrscht schüttelte er sie. »Wo ist sie?«

»Verdammt, könntest du dich vielleicht eine Sekunde zusammennehmen?« Hansen packte ihn am Oberarm.

Mit einem wütenden Ruck riss Anton sich von ihm los. Leicht erschrocken realisierte er, dass er dabei seine Faust ballte, bereit, sich notfalls mit Gewalt zu wehren.

Ihre Stimme erstarb. Doch sie schaffte es, ihren Arm einen Zentimeter vom Boden zu heben. Mit blutigem Zeigefinger wies sie in eine eher unbestimmte Richtung.

So zäh wie in einem Alptraum folgte Antons Blick der gespenstischen Geste. Und dann, endlich, sah er sie.

Unter Schmerzen, wie es schien, trat sie aus dem Dunkel des Erkers. Doch schon nach einem Schritt verharrte sie wie auf ein Kommando. Ihre Strickjacke war an mehreren Stellen zerrissen, erbärmlich schlotterten die Fetzen um ihren schmalen Leib. Das feuerrote Haar klebte in wirren Strähnen an Stirn und Wangen. Allem Anschein nach hielt sie sich nur mit Mühe auf den Beinen. Ihre Lippen waren stark geschwollen, das Gesicht von üblen Schürfwunden übersät. Sprachlos schickte Anton sich an, ihr entgegenzustürmen, doch Hansen packte ihn hart im Nacken. Anton verstand, wenn auch etwas zeitversetzt. Keiner von ihnen konnte wissen, wer womöglich hinter ihr lauerte.

Sein Puls pochte in seinen Venen, dass es schmerzte. Wie oft hatte er sich ausgemalt, sie wiederzusehen. Auf einer überfüllten Straße in der Hamburger City, im Zuschauerraum eines Konzertsaals, beim Bäcker um die Ecke oder im Strandcafé, direkt hinter dem Deich. Doch nicht einmal in seinen verrücktesten Träumen hatte er sie hier, auf diesem Leuchtturm, erwartet. Alles hier mutete auf groteske Weise surreal an.

»Lisa«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Was in Gottes Namen tust du hier?«

»Ich habe auf dich gewartet«, hauchte sie.

»Was?«

Im selben Moment blitzte die Messerklinge direkt neben ihrer Halsschlagader auf. Erst jetzt gewahrte Anton die Silhouette, die sich nachtschwarz hinter Lisa abzeichnete. Ein Mann, etwa eins achtzig, schlank, dunkles Haar. Ein ungepflegter Bart überzog fast die gesamte untere Hälfte seines Gesichts, wie Anton langsam erkannte. Trotzdem wusste er sofort, dass er ihm schon einmal begegnet war.

»So sieht man sich also wieder«, sagte der Typ, als hätte er Antons Gedanken gelesen. Dabei ging er langsam vorwärts, lautlos, mit der Geschmeidigkeit eines Panthers, die vor Schock starre Frau vor sich herschiebend. Das Zwielicht gab sein Gesicht noch immer nicht preis. Doch irgendetwas an seinen Bewegungen löste in Antons Kopf einen Impuls aus, dem eine Kettenreaktion von Erinnerungsfetzen folgte.

Der Containerhafen, der irre Köter, der aus dem Dunkel hervorgeschossen kam, um Hansen die Kehle zu zerfleischen. Die Pistole, der Schuss. Die Gestalt, die über mich hinwegsprang, als ich am Boden lag, den toten Schäferhund auf der Brust …

»Du hast uns damals wie Vollidioten dastehen lassen«, sagte Anton mit einer Souveränität, die ihn selbst verblüffte. Gleichzeitig betete er, niemand möge den Trommelschlag seines Herzens hören, der drohte, seinen gesamten Brustkorb zu zersprengen. »Was soll ich sagen: Die Überraschung ist dir ein zweites Mal gelungen. Glückwunsch!«

»Nicht doch. Leider muss ich gestehen, dass ich weder euch noch irgendjemand anderes auf dem Schirm hatte, als ich hierherkam. Also warum verschwindet ihr nicht einfach wieder und vergesst, dass ihr mich je gesehen habt?«

»Lass mich kurz nachdenken: Du bedrohst eine Unschuldige vor den Augen der Polizei mit einem Messer. Davon abgesehen haben wir eine ungefähre Vorstellung davon, was dich hierher verschlagen hat. Super Idee übrigens, das Kokain von der ›Beluga‹ auf diesem Leuchtturm zu deponieren. Das heißt, du wusstest, was wir vorhaben. Also was hat Benno Frey getan, um aufzufliegen? Hast du ihm das Messer persönlich zwischen die Rippen gerammt?«

Die Klinge an Lisas Hals zitterte leicht, kratzte an der zarten Haut. Kleine Blutstropfen quollen aus der oberflächlichen Schnittwunde.

»Wie ich sehe, hast du deine Hausaufgaben ordentlich gemacht«, sagte das Arschloch zu Anton. »Allerdings ist diese kleine Schlampe hier«, er schubste Lisa ruckartig ein Stück nach vorn, »alles andere als unschuldig.« Dabei wies er mit einem Kopfnicken auf die Schwerverletzte am Boden.

Anton hatte sie zwischenzeitlich fast vergessen.

»Sei nicht albern«, entgegnete er.

»Du glaubst mir nicht?«, folgerte der Schwarze Mann.

Anton hatte seinen Namen niemals in Erfahrung bringen können. Aber genau so hatte Leon ihn genannt, der Schwarze Mann. Keine andere Bezeichnung hätte zutreffender sein können.

»Okay, das ist der Deal«, fuhr er im Plauderton fort. »Wir zwei Hübschen nehmen jetzt euer Schiff und verschwinden. Das Kokain liegt in einem Hohlraum, direkt unter dem Laternenhaus. Macht damit, was ihr wollt. Die Verrückte hier lasse ich laufen, sobald ich an Land bin. Ihr könnt sie dann allein wieder einfangen. Vielleicht gebe ich euch sogar einen Tipp. Anschließend leben wir alle glücklich bis an unser gesegnetes Ende. Na, wie klingt das?«

»Halt die Klappe.« Anton richtete den Pistolenlauf direkt auf das bärtige Gesicht des Mistkerls, der Lisa um Haupteslänge überragte.

»Ich finde, wir sollten ihn ausreden lassen«, sagte Hansen unversehens. Seine Stimme klang, als käme sie aus einer anderen Dimension.

Mit einem Seitenblick erkannte Anton, dass die Hand seines Freundes über dem Holster schwebte. Er war sicher, dass Hansen nicht vorhatte, die Waffe auf den Schwarzen Mann zu richten. Also was zum Teufel hatte er nicht mitbekommen?

»Du weißt genau, was deine Lisa getan hat, wozu sie fähig ist. Und sie hat dich genau hierher gelockt.«

»Wie bitte?«

»Ich gebe zu, dass ich mir absolut keinen Reim darauf machen kann, was hier läuft oder welche Rolle du in diesem ganzen Theater spielst. Deshalb schlage ich vor, wir hören uns einfach die Version eines Augenzeugen an.« Hansen deutete auf Lisa und ihren Peiniger.

Dies war der Moment, in dem Anton überschnappte. Mit einer fließenden Bewegung richtete er seine Pistole direkt auf die Stirn des Mannes, den er einmal für seinen Freund gehalten hatte.

»Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst«, zischte er. Dann spürte er ein verblüfftes Lachen in seiner Kehle aufsteigen. »Dorothea, richtig?« Für einen winzigen Moment amüsierte ihn die Situation tatsächlich. »Ich wusste gar nicht, dass du in einer Rockband spielst«, sagte er.

»Wow, jetzt drehst du völlig durch, oder?« Hansen spreizte die Hände vom Körper, jedoch nicht weit genug, um Anton in Sicherheit zu wiegen.

Ein heiseres Kichern lenkte ihn ab. Der Schwarze Mann fühlte sich offenbar bestens unterhalten. Bei jedem Glucksen schrammte das Messer an Lisas Kehle auf und ab. Das Blut lief in einem dunklen Rinnsal an ihrem Hals hinunter.

Von einem kristallklaren Instinkt geleitet, entsicherte Anton seine Waffe und schwenkte sie zurück auf das Gesicht des Dreckskerls. Sein Finger lag sicher am Abzug. Wenn er jetzt abdrückte, würde die Kugel schneller treffen, als Blacky hinter seiner Geisel in Deckung gehen könnte.

»Vergiss es«, sagte Dorothea plötzlich.

Lautlos wie eine Katze hatte sie sich an die Szenerie herangeschlichen. Anton war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie sich um den Jungen kümmerte. Doch ihre Fürsorge war offenbar nur von kurzer Halbwertzeit gewesen. Jetzt stand sie ein wenig breitbeinig hinter ihm, ihre Waffe beidhändig sicher im Griff. Die Mündung zielte aus knapp zehn Zentimetern Entfernung auf Antons Schädel.

»Scheiße.« In seinem Kopf versuchten chaotische Gedanken, Form anzunehmen. »Vielleicht sollten wir jetzt alle wieder runterkommen, okay?« Sehr langsam legte er seine Waffe auf den Boden.

Viel zu spät begriff er, dass er damit etwas vollkommen Idiotisches tat. Als er sich wieder aufrichtete, blickte er in die Mündung von Dorotheas Waffe, die nun direkt zwischen seine Augen zielte.

»Hi, Thea«, sagte der Schwarze Mann. In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Erleichterung und Skepsis mit.

»Hab ich dir schon mal gesagt, was für ein bescheuerter Nichtsnutz du bist?«, gab sie mit Eiseskälte zurück.

»Ernsthaft?« Ein Laut, der wie ein ersticktes Auflachen klang, drang aus seiner Kehle. »Du hast versprochen, mir den Rücken freizuhalten. Stattdessen rückst du hier mit der Kavallerie an! Sieht für mich nicht gerade danach aus, als hättest du die Lage im Griff.«

»Du hast keine Ahnung, was ich alles getan habe. Für dich. Wie immer. Aber du Vollpfosten bist ja nicht einmal in der Lage, ein Kind am Spielen zu hindern. Was sollte die Nummer mit dem beschissenen Funknotruf?«

»Du erwartest doch nicht wirklich von mir, dass ich einem Kind etwas antue? Ich habe mich die ganze Zeit versteckt gehalten, so gut es auf diesem Scheißleuchtturm eben geht. Aber ab und zu musste ich einfach frische Luft schnappen, mir die Beine vertreten, etwas essen. Ach ja, und ich habe dich angerufen, mehrmals, dir gesagt, dass hier etwas aus dem Ruder läuft. Aber ich habe ihnen ihre Handys sogar zurückgegeben.« Er hielt kurz inne, um Atem zu schöpfen. »Dieser Deal sollte so still und heimlich laufen wie ein Mäusefurz. Niemand hat mir gesagt, dass diese Verrückten hier auftauchen!«

»Stimmt, das alles war von Anfang an eine Scheißidee. Ich hätte wissen müssen, dass dein Plan nicht funktioniert.«

»Mein Plan? Soll das ein Witz sein? Ohne dich wüsste ich ja nicht einmal, dass dieser Turm existiert!«

»Verflucht, Thore, jetzt halt endlich die Klappe!« Zum ersten Mal drohte sie die Beherrschung zu verlieren.

Und bestätigte damit, was längst offensichtlich war.

»Das glaube ich jetzt nicht«, stöhnte Hansen auf.

Anton selbst war zu perplex, um nur einen einzigen Ton von sich zu geben. Dieser Man in Black war also … Dorotheas Bruder?

Endlich glitt das letzte Puzzleteilchen an die richtige Stelle des Bildes und rastete ein.

Du verstehst das nicht. Thore ist es einfach gewohnt, dass ich ihm beistehe, es ist für ihn so eine Art Naturgesetz.

Außer mir hat er doch niemanden. Ich war schon immer die Einzige, die ihn in Schutz genommen hat.

Bei allem, was sie getan hatte, war es ihre bloße Absicht gewesen, ihre Kollegen in Schach zu halten, damit dieser Versager in Ruhe seinen Deal durchziehen konnte.

»Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie wahre Geschwisterliebe aussieht«, brachte Anton endlich hervor. Es gelang ihm sogar, grenzenlose Verachtung in seine Stimme zu legen. »Herrgott noch mal, du glaubst doch nicht wirklich, dass du mit deiner Dummheit irgendjemandem hilfst? Dein Bruder wird sein Leben niemals auf die Kette bekommen! Schon gar nicht, solange er nur mit dem Finger schnippen muss, damit du dich seinetwegen um Kopf und Kragen bringst!«

Dorothea schwieg beharrlich. Nur ein leichtes Zucken ihrer Schläfe verriet, dass sie sich der Misere durchaus bewusst war. Oder dass sie an einem Plan arbeitete, den Anton sich nicht einmal ansatzweise auszumalen vermochte.

»Dir ist schon klar, dass niemand von hier wegkommt?«, sprach er weiter. »Nicht bei diesem Unwetter.«

Möglich, dass seine Worte Dorothea endlich ins Zweifeln brachten. Vielleicht ließ auch einfach ihre Konzentration nach. Noch war das Zittern der Waffe in ihrer Hand unbedeutend. Aber Hansen bemerkte es ebenfalls, dessen war sich Anton gewiss.

»Wie wäre es, wenn du einfach mal eine Sekunde lang nachdenkst?«, sagte sie in einem alarmierend ruhigen Tonfall. »Wir alle hier wissen, dass deine Lisa nicht ganz richtig tickt. Außerdem hat Leon mir erzählt, was hier abgelaufen ist. Deine Lisa hat seinen Vater von der Außenleiter gestoßen. Anschließend hat sie versucht, seine Mutter umzubringen. Mit einem Hammer. Thore konnte sie nur mit Mühe bändigen. Genau in dem Moment, als wir hier ankamen. Mein Bruder hat Leons Mutter das Leben gerettet! Wahrscheinlich hat er sogar verhindert, dass diese Irre auch noch das Kind umbringt.« Ihr Blick wanderte zu Lisa, die wie unbeteiligt ins Leere starrte. »Leon hat es mir erzählt. Alles!«, schrie Dorothea ihr ins Gesicht.

»Vielleicht stimmt es ja«, sagte Hansen. »Wenn ich mir die arme Frau dort anschaue«, er wies auf die verkrümmte Gestalt zu seinen Füßen, »fällt mir kein Grund ein, warum der Typ sie so zugerichtet haben sollte.«

»Dieses Arschloch hätte dich damals im Containerhafen fast umgebracht!«, schrie Anton verzweifelt.

»Nein. Das war ein durchgeknallter Köter. Der Typ hat ihn erschossen«, korrigierte Hansen.

»Er hat … was getan?« Inzwischen schwirrten die Erinnerungen in Antons Schädel wie ein Schwarm aufgebrachter Hornissen durcheinander. Unfähig, auch nur einen brauchbaren Gedanken zu fassen, starrte er Lisa an.

Bislang hatte sie vollkommen regungslos dagestanden. Doch nun trafen sich ihre Blicke. In ihren Augen lag ein Flehen, das es ihm unmöglich machte, sie als Mörderin zu sehen. Doch da war noch etwas anderes.

»Also gut, Thore«, sagte er so gefasst, wie es ihm möglich war, »da du offenbar einer der Guten bist, könntest du endlich das Messer wegstecken? Bitte!«

»Erst, wenn die Schlampe hier gesteht, was sie dem Jungen und seiner Mutter angetan hat. Und natürlich brauche ich euer Wort, dass ich nicht in den Knast wandere.«

»In Ordnung«, sagte Anton so ruhig, dass es ihn selbst überraschte. Denn im selben Atemzug duckte er sich unter der Pistolenmündung hinweg, packte Dorothea am Handgelenk und schlug ihr die Waffe aus der Hand.

»Sie lügt!«, rief plötzlich eine schrille Jungenstimme.

Alle Augen richteten sich auf Leon, der wie ein Geist vor dem Treppenhaus erschienen war. In seinen Brillengläsern spiegelte sich diffuses Licht, das durch eines der Fenster drang. Offenbar war das Gewitter weiter landeinwärts gezogen und ließ hier draußen auf See den letzten Schimmer der untergehenden Sonne durch die Wolken blitzen.

»Die Frau hat mir versprochen, Tante Lisa zu beschützen!« Er zeigte auf Dorothea, die instinktiv nach ihrer Waffe schielte. »Aber ich wusste, dass sie lügt! Warum müssen Erwachsene immerzu lügen?« Tränen der Wut quollen unter dem Rand seiner Brille hervor.

Dann stürmte er, schreiend vor Zorn, vorwärts, direkt auf Lisa und den Schwarzen Mann zu.

Mit einem Hechtsprung stürzte sich Anton auf den Jungen, um ihn an seiner heldenhaften Attacke zu hindern.

In diesem Augenblick übernahm Lisa das Zepter.

Ihr Aufschrei ließ allen Umstehenden das Blut in den Adern gefrieren. Dabei warf sie ihren Kopf in den Nacken. Anton hörte das Knacken von Knochen, als sie den Kiefer ihres Peinigers mit voller Wucht erwischte.

Thore gab ein halb ersticktes Keuchen von sich, besann sich jedoch erschreckend rasch. Schon versuchte er, Lisa erneut in die Zange zu nehmen. Doch sie war schneller, tauchte unter seiner Bewegung hinweg, ließ sich zu Boden fallen und kroch auf den Knien außer Reichweite. Viel zu spät realisierte Anton, dass sie ein ganz bestimmtes Ziel hatte: seine Pistole, die nur wenige Zentimeter neben seinen Füßen lag. Bevor er die Waffe beiseitekicken konnte, hielt Lisa sie in den Händen und zielte auf Thore. Und schoss.

Dorothea allein hatte rechtzeitig begriffen, was geschehen musste.

»Nein!« Mit einem irren Sprint versuchte sie, Lisa an ihrem Vorhaben zu hindern. Offenbar kümmerte es Dorothea nicht, dass sie sich dabei mitten in die Schussbahn warf.

Die Kugel erwischte sie, bevor sie ihren Bruder erreichen konnte. Dorothea stieß ein überraschtes Keuchen aus. Und fiel der Länge nach zu Boden.

Ihren Fall ignorierend, stürzte sich Hansen auf Thore, der wie gelähmt dastand.

Sämtliche Eindrücke erreichten Antons Gehirn erst viel später. Für den Augenblick gab es für ihn nur eine einzige Person, die zählte. Er entließ Leon aus seiner Umklammerung und fiel neben Lisa auf die Knie, umschloss sie fest mit den Armen, entwendete ihr die Pistole. Sie ließ es teilnahmslos über sich ergehen.

»Du bist in Sicherheit«, sagte er sanft. »Du bist bei mir. Alles wird gut.« Vorsichtig drückte er sie an seine Brust. Es fühlte sich an, als wiege er eine knochenlose Puppe. Mit jedem Atemzug wuchs seine Angst, sie könnte viel schwerer verletzt sein, als es den Anschein hatte. Bis er leise Worte aus ihrem Mund hörte, zunächst unverständlich, dann immer deutlicher.

»Ich bin nicht verrückt«, flüsterte sie, »er war die ganze Zeit hier auf dem Leuchtturm. Ich bin nicht verrückt. Ich bin nicht verrückt!«