Die Abendsonne tauchte den Alten Fischereihafen in orangerotes Licht. Die bunte Reihe der Krabbenkutter lag verschlafen an der Kaimauer, Möwen und Kormorane schaukelten auf den seichten Bewegungen des Wassers. Für einen Moment gelang es Anton, sich der Idylle hinzugeben und seine Gedanken in seliger Trägheit von dannen driften zu lassen.
»Ihr habt es also geschafft«, sagte Fritz. Die Tageszeitung lag ausgebreitet neben den letzten Krümeln des ausgedehnten Seemannsfrühstücks.
»Ja. Zumindest wenn man es aus Sicht der Polizeibehörden und der Presse betrachtet.« Die Worte kamen Anton reichlich zäh über die Lippen.
Die »Beluga« lag sicher im Bremerhavener Containerterminal, wo die Durchsuchung des Schiffes noch einige Tage andauern würde. Die gesamte Besatzung befand sich in Untersuchungshaft, gegen den Kapitän lautete die Anklage auf Mord an dem Journalisten Benno Frey. In den Büroräumen der Maaßen-Reederei wimmelte es von Beamten, die kistenweise Aktenordner sicherstellten. Was Thore Raubach anbelangte, so lagen genügend Beweise vor, um ihn auf Jahre aus dem Verkehr zu ziehen. Zudem hatte er nach anfänglichem Gezeter seine Mitstreiter von der »Oland« preisgegeben. Der Name Hardy Dierks war nicht darunter, was insbesondere Lisa mit Erleichterung zur Kenntnis genommen hatte.
Natürlich würde dieser Streich die Drogenbarone nicht davon abhalten, das Kokain weiterhin über den Seeweg nach Europa zu schmuggeln. Dennoch hatte die Wasserschutzpolizei dieses Mal einen Warnschuss abgefeuert, den die Mafia nicht überhören konnte. Das war weitaus mehr, als Anton und seine Kollegen für gewöhnlich zu hoffen wagten. Es bestand also Grund genug, den Einsatz der letzten Tage als vollen Erfolg zu werten. Trotzdem wollte bei Anton keine Hochstimmung aufkommen.
»Du könntest dich wenigstens ein bisschen freuen«, sagte Fritz. Er hatte die leeren Teller abgeräumt und kehrte soeben mit einer Flasche Doppelkorn der Hausmarke Fischer zurück an den Tisch.
»Der Preis ist einfach zu hoch«, entgegnete Anton. Die Idylle vor seinen Augen zerbarst. Die schrecklichen Bilder der Toten und Verletzten drängten sich erbarmungslos in den Vordergrund. »Du selbst hast die Leiche von Leons Vater vom Meeresboden aufgefischt. Macht dir das denn gar nicht zu schaffen?« Er trank das randvolle Schnapsglas mit einem Schluck leer.
»Doch, natürlich tut es das«, entgegnete Fritz, während er großzügig nachschenkte. »Aber keiner von uns beiden hätte seinen Tod verhindern können. Wenn seine Frau ihn nicht auf diese Weise umgebracht hätte, hätte sie eine andere Gelegenheit dazu gefunden.«
Anton öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch ihm fiel kein Argument ein, das Fritz’ These hinlänglich entkräftete. Somit kippte er auch den zweiten Schnaps hinunter. Fritz prostete ihm zu und tat es ihm gleich.
»Du glaubst dem Jungen doch, oder?«, fragte Fritz.
»Ja, das tue ich.« Dieses Mal antwortete Anton aus vollem Herzen. Er selbst war dabei gewesen, als Leon einem ganzen Geschwader von Kinderpsychologen und Kriminalbeamten die grauenhaften Vorfälle schilderte, die sich auf dem Roten Sand zugetragen hatten. So bildhaft seine Erzählungen auch anmuteten, sie ließen weder Lücken noch Widersprüche zu Lisas Aussage erkennen. Davon abgesehen war die Geschichte viel zu absurd, als dass ein Neunjähriger sie sich ausgedacht haben könnte.
»Was geschieht jetzt mit dem Jungen?«, fragte Fritz weiter. »Denkst du, er verkraftet den Tod seiner Eltern?«
»Ja, da bin ich mir sicher. Leon ist ein verdammt tapferes Kerlchen. Außerdem hat er seiner Tante schon immer nähergestanden als seiner leiblichen Mutter. Lisa wird alles Erdenkliche dafür tun, damit es ihm gut geht. Sie liebt ihn abgöttisch.«
»Was ist mit dir? Liebst du sie noch immer? Nach allem, was geschehen ist?« Der alte Fischer forschte in Antons Augen nach einer Antwort. Dann nickte er bedächtig. »Ja, sieht ganz so aus.« Ein sanftes Lächeln zeichnete sich unter dem dichten grauen Bart ab.
»Lisa und Leon wohnen vorerst bei mir«, sagte Anton bemüht sachlich. »Wenn sich die Wogen ein wenig geglättet haben, werden wir sehen, wie es mit uns dreien weitergeht.«
»Oh!« Fritz’ Grinsen wurde breiter. »Ich freue mich für dich, alter Knabe. Wirklich, das tue ich.« Er schenkte die nächste Runde Schnaps ein, ließ sein Glas jedoch unberührt stehen. »Aber da ist noch etwas, das dir zu schaffen macht, habe ich recht?«
Anton beobachtete eine Möwe, die soeben auf einem der Poller landete und skeptisch zu ihnen herüberblickte. Natürlich hatte Fritz ins Schwarze getroffen. Was vermutlich nicht besonders schwierig gewesen war.
»Dorothea. Sie hat mich nach Strich und Faden verarscht. Ich bin so ein Vollidiot!«
»Deine Kollegin mit dem bezaubernden Lächeln.« Auf der wettergegerbten Stirn des Fischers bildeten sich tiefe Falten. »Es ist erschreckend, dass man sich so in einem Menschen täuschen kann, nicht wahr? Wie geht es ihr?«
»Danke, gut«, schnappte Anton. »Sie liegt noch im Krankenhaus, aber das wird schon wieder.« Er atmete tief durch, wohl wissend, dass Fritz es nur gut mit ihm meinte. »Es wird noch eine ganze Reihe von Anhörungen geben. Wenn sie Glück hat, bleibt ihr ein Strafprozess erspart. Ihre Polizeikarriere kann sie allerdings in jedem Fall vergessen. Ich hoffe nur, ich muss sie niemals wiedersehen.«
»Das kann ich gut verstehen.« Fritz griff zu seinem Schnapsglas, drehte es jedoch nur unschlüssig zwischen den schwieligen Fingern. »Und das ist wirklich alles?«, hakte er nach.
»Ja«, entgegnete Anton unwirsch. »Nein«, gab er gleich darauf zu. »Es ist das, was Hansen über Thore gesagt hat. Dass dieser Schwachkopf den Schäferhund erschossen hat, der ihm die Kehle zerfleischen wollte. Damals bei der Operation Fishtown. Dabei weiß Hansen ganz genau, dass ich ihm das Leben gerettet habe. Der Scheißkerl hatte auf mich gezielt. Den Köter hat er nur aus Versehen getroffen. Warum behauptet Hansen solch einen Unsinn?« Tatsächlich bereitete ihm diese Frage mehr Übelkeit als alles andere.
Kurz entschlossen nahm er sein Glas und kippte den scharfen Schnaps mit einem Schluck hinunter. Resigniert griff er zur Flasche, um sich nachzuschenken. Doch Fritz umschloss Antons Hand mit der seinen. Sein eindringlicher Blick bohrte sich in Antons Augen.
»Könnte an Hansens Version denn etwas dran sein?«, fragte er ernst. »Vielleicht solltest du noch einmal mit ihm reden. Wie in alten Zeiten. Schätze, es würde dir guttun.«
»Wie bitte? Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«, blaffte Anton.
»Auf deiner, mein Freund«, entgegnete Fritz mit einem milden Lächeln unter dem buschigen Vollbart, »ganz allein auf deiner.« Er hob sein Glas und zwinkerte ihm zu.