»Ist das unser Thilo?«, fragte Adam, als sie leise den Gruppenraum betraten, in dem eine Gruppe von kleinen Mädchen und Jungen gebannt dabei zusah, wie Thilo Kupferschmidt, nur mit T-Shirt und kurzer Hose bekleidet, einen Holzturm baute.
»So, nur noch den obendrauf, und dann kannst du …«
Ein kleines Mädchen zeigte mit dem Finger auf sich selbst, und Thilo nickte.
»Ja, du.«
Die Kleine stand auf, ging vorfreudig glucksend ein paar Schritte und schlug dann mit der flachen Hand unten gegen das Fundament des Turms. Alle Steine fielen mit einem Krachen zu Boden, und die Kinder klatschten und lachten lauthals.
»Ja, die unbekannte Seite des Thilo K.«
»Vielleicht sollten wir Holzbausteine fürs Revier kaufen.«
Die Kinder waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie die beiden Polizisten gar nicht bemerkten. Adam blickte Thilo an, der ihm ein Zeichen gab, dass er sich weiter um die Kleinen kümmerte. Etwas abseits im Raum saß eine ältere Frau. Sie wirkte erschöpft. Adam ging auf sie zu. »Sind Sie die Chefin hier?«
»Gitta Braun. Ich bin die stellvertretende Leiterin. Die Chefin hat Urlaub. Ich hab ihr schon auf die Mailbox gesprochen, aber sie ist in Österreich. Haben Sie sie? Haben Sie die Kleine gefunden?« Der Blick der Frau war irgendwo zwischen Schmerz und Hoffnung.
»Leider noch nicht. Ich bin Kriminalhauptkommissar Schmidt, ich leite die Ermittlungen. Meine Kollegin kennen Sie ja schon.«
Sandra mischte sich ein. »Frau Braun war in einem Elterngespräch, als Emily verschwand. Ihre Kollegin Stefanie …« Sie sah in ihren Block. »… Stefanie Holzapfel war die ganze Zeit draußen bei den Kindern, mit Ausnahme der paar Minuten, in denen sie den kleinen Jerôme gewickelt hat. Sie ist in der Küche, sie steht unter Schock.«
»Okay, mit ihr reden wir gleich. Aber sagen Sie, Frau Braun, wieso haben Sie uns erst so spät benachrichtigt?«
Es gab in dieser Situation zwei Sorten von Menschen. Die einen senkten den Kopf, und dann kam alles zugleich: die Tränen, die Einsicht, die Reue. Die anderen wiederum gingen zum Gegenangriff über – Gitta Braun gehörte zur zweiten Gattung. Sie straffte sich und sagte: »Wir mussten uns sicher sein. Ich habe erst versucht, die Mutter zu erreichen. Aber sie ging nicht ran, ich habe sie ein paarmal angerufen. Ich dachte, sie habe Emily vielleicht abgeholt und sei mit ihr zum Arzt gegangen – da ist das Telefon dann ja oft aus. Anschließend hab ich erst mal unsere Verwaltung angerufen. In so einem Fall muss man doch auf Nummer sicher gehen … Ich rufe doch nicht gleich die Polizei und mache hier einen Riesenaufstand.«
»Aber der Junge hat doch gesagt, ein Mann …«
»Ach, Cornelius, der hat so eine blühende Fantasie«, fuhr sie ihm dazwischen.
Adam Schmidt funkelte sie wütend an. »Frau Braun, Kinder in diesem Alter lügen nicht, und dass Sie jetzt mit so einer Erzieherlegende kommen … Wenn er sagt, es war ein Mann, dann war es ein Mann. Wegen Ihnen haben wir wertvolle Zeit vergeudet. Damit ist jetzt Schluss. Wir gehen in Ihr Büro. Ich brauche dringend die Telefonnummer der Mutter.«
»Natürlich«, sagte die Erzieherin schnell und ging voraus, Adam wandte sich an Sandra: »Besorg einen Seelsorger, der sich mit der Betreuung von Kitas auskennt. Das gefällt mir gar nicht.«
»Mach ich, Chef!«
»Und sag Thilo, er soll bei den Kindern bleiben.«
Seit einigen Monaten ging sie wieder mit einem so guten Gefühl zur Arbeit. Die Kinder waren alle lieb, sie hatten großen Erfolg bei dem Jungen mit der Behinderung, und auch in ihrem Privatleben war alles in Ordnung. Mit ihrem Mann lief es einigermaßen, und in gerade einmal sieben Monaten würde sie in die vorzeitige Verrentung gehen – pünktlich zum Frühjahr. Dann konnte sie den völlig vernachlässigten Garten ihrer Datsche in Pankow endlich auf Vordermann bringen und den Sommer unter freiem Himmel genießen.
Gitta Braun hatte sich so darauf gefreut: Ein Renteneintritt mit sechzig Jahren, nach vierzig Jahren im Beruf. Damit war sie noch jung genug, um etwas vom Alter zu haben.
Und nun, so kurz vor dem Ziel, geschah das Schlimmste, was eine Kitaerzieherin sich vorstellen konnte: Ein Kind verschwand.
Natürlich hatte sie vorher schon Schreckliches erlebt. Einen Herzstillstand bei einem Baby vor ein paar Jahren, aber sie persönlich hatte es reanimiert. In der DDR hatte mal ein kleines Mädchen aus ihrer Gruppe eine Hirnhautentzündung gehabt und das Ganze nicht überlebt. All das ging ihr jetzt wieder durch den Kopf. Die Gesichter des Mädchens und des Babys.
Und Emilys Gesicht. Sie sah ihr kleines blondes Puppengesicht mit den großen Augen und dem gerade geschnittenen Pony vor sich.
Wer klaute denn ein Kind? Und ausgerechnet dieses Kind? Das aufgeweckteste, liebste, beste Kind, egal, aus welcher Familie es kam. Emily, die den kleinen Carlo immer tröstete, wenn er mal wieder hinfiel, weil er so ein Tollpatsch war. Emily, die immer alle Spielzeuge teilte. Emily, die ohne Kleckern und Rumnölen aß.
Sie hatte während ihres ganzen Berufslebens aufgepasst, weil sie sich immer vor so einem Moment gefürchtet hatte. Doch nun, weil alles so gut lief, weil das Ende in Sicht war, da hatte sie es schleifen lassen. Sie war sich zu sicher gewesen. Es mussten immer zwei Erzieherinnen bei den Kindern sein. Wie hatte sie diese Regel nur brechen können?
Sie zuckte zusammen, obwohl sie gewusst hatte, dass der große Polizist ihr gefolgt war bis in ihr kleines, verkramtes Büro. Er war hochgewachsen und schlank und hatte diese stechenden blauen Augen. Sein Haar war von wenigen grauen Strähnen durchzogen, sein Hemd gebügelt, genau wie seine Hose, seine Schuhe sahen teuer aus – mit einem Wort: Er wirkte absolut souverän. Und doch lag da eine so tiefe Trauer in seinem Gesicht, dass sie am liebsten mit ihm zusammen geweint hätte – um Emily oder worum auch immer er trauerte.
»Frau Braun.« Adam war jetzt ganz ruhig, das war sein Modus Operandi. Wenn er endlich anfangen konnte, zu ermitteln, mit Zeugen zu reden, dann fühlte er sich sicher, dann war er selbstbewusst. »Ich brauche sehr dringend die Kontaktdaten der Eltern. Wenn Sie gleich nachsehen könnten …«
Er sah zu, wie die Frau hektisch mit der Maus rumfuchtelte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie erkannte, dass sie den Monitor noch anschalten musste.
»Ich weiß das eigentlich auch alles aus dem Kopf«, sagte sie und konnte doch den Blick nicht vom Bildschirm lösen. Er verstand sie, wusste, dass ihr all das jetzt irgendeinen Halt gab, während sie glaubte, zu fallen, immer weiter zu fallen. »Hier: Emily Matysek, ihre Eltern, nein, ihre Mutter Doreen. Die Kleine ist gerade zwei geworden. Wir haben hier sogar gebacken.« Ihre Unterlippe zitterte.
»Bitte, ich brauche die Nummer.« Adam zwang sich, nicht zu schreien.
Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn herüber.
»Was ist mit dem Vater?«
»Hier war nie ein Mann. Ich weiß nichts von einem Vater.«
»Bei der Anmeldung gab es keinen Eintrag des Vaters im Formular?«
»Sind Sie nicht aus Berlin, oder was? Sie wissen doch, wie das ist. Wenn ich bei jeder Alleinerziehenden nach dem Vater frage, dann kann ich auch gleich eine Seelsorge aufmachen.« Jetzt war sie wütend auf ihn. Wut war gut. Sie lenkte sie ab.
»Okay, danke. Ich versuche sie möglichst bald zu erreichen. Sind Sie Emilys Bezugserzieherin?«
»Nein, das ist Steffi. Aber wir haben so was hier nicht, eigentlich. Wir machen alle alles.«
»Gehen wir zu Ihrer Kollegin, einverstanden? Ich muss rausfinden, was genau passiert ist. Wir haben nur ein schmales Zeitfenster.«
»Sonst finden Sie sie nicht, oder? Das heißt es doch.« Gitta Brauns Stimme war nun weicher, sie wollte ihn nicht mehr angreifen, um sich zu schützen. Sie wollte nur, dass er Emily fand. Sie merkte, wie die traurigen Augen des Kommissars auf ihr ruhten.
»Wenn sie tatsächlich entführt wurde, dann haben wir nur wenige Stunden, das stimmt. Aber es ist ja noch nicht gesagt, dass …«
»Erzählen Sie das bitte nicht meiner Kollegin, okay, Herr Kommissar? Sie ist … es würde sie fertigmachen.«
Sie gingen den Flur entlang, an der Wand hingen Zeichnungen. Adam kannte das von früher, aus der Zeit, als seine Tochter ein Kita-Kind gewesen war, und doch überraschte es ihn, dass sich nichts geändert hatte: Die Mädchen malten aufwendige Bilder mit Schlössern und Prinzessinnen und pinken Pferden, die Jungs malten schwarzes Krickelkrakel. Unter einem Bild, das ein Zebra mit einem Kutschenanhänger zeigte, stand Emily.
Die junge Frau stand in der Küche an der Terrassentür und sah nach draußen, sie hatte ein zerknülltes Taschentuch in der Hand. Als sie die Schritte hörte, wirbelte sie herum. »Und?«
»Wir suchen sie. Wir fangen gleich richtig an. Aber dafür brauche ich Ihre Aussage. Ich bin Kriminalhauptkommissar Adam Schmidt.« Er bat sie nicht, sich zu setzen. Sie würde es eh keine zehn Sekunden auf einem Stuhl aushalten.
»Sie waren draußen, und die Kinder haben dort gespielt? Ist das so korrekt, Frau …«
»Holzapfel, Stefanie Holzapfel. Ja, so machen wir es immer am Morgen. Wir sind dann beide draußen, eine von uns spielt mit den Kindern, die schon da sind, und die andere empfängt die Neuankömmlinge.«
Die Erzieherin war bereit, alle Fragen zu beantworten, die der Kommissar ihr stellte. Endlich konnte sie etwas tun! »Normalerweise sind wir ja mindestens zu dritt«, fügte sie betreten hinzu, »aber … es ist Urlaubszeit. Da sind weniger Kinder da und eben auch weniger Kolleginnen.«
»Und Sie sind dann weggegangen?«
»Ja. Gitta war drinnen beim Elterngespräch, und ich war draußen, aber es kamen gerade keine Eltern, um ihre Kinder abzugeben, deshalb bin ich mit Jerôme reingegangen, um ihm fix die Windel zu wechseln. Sie müssen mir glauben, ich kann das richtig schnell. Ich war höchstens zwei Minuten drinnen.«
Zwei Minuten, dachte Adam. Lass es drei gewesen sein. Oder vier. Dennoch wahnsinnig wenig Zeit, um ein fremdes Kind zu entführen.
»Und als Sie rauskamen, ist Ihnen da sofort aufgefallen, dass Emily verschwunden ist?«
Die junge Frau mit dem roten Haar überlegte kurz, dann nickte sie. »Ja, vielleicht nach einer halben Minute. Wir zählen immer durch, fast schon automatisch, und ich habe einfach kein blondes Mädchen gesehen. Wissen Sie, Emily ist so hübsch und lieb, die fällt einem sonst immer gleich ins Auge.«
»Sie sind sich also sicher, dass sie vor dem Windelnwechseln noch da war?«
Wieder das Stirnrunzeln der Erzieherin. »Ich glaube, ja. Aber … ich bin mir nicht sicher. Ich kann es nicht genau sagen. Es ist, als hätte man mir den Stecker gezogen, ich kann mich nicht erinnern …« Die Frau schluchzte auf.
»Wissen Sie, hier ist morgens echt viel los«, kam ihr Gitta Braun zu Hilfe. »Egal, ob Sommer oder Winter. Sie nehmen Kinder an, Sie windeln, Sie schneiden Äpfel und Bananen klein, verteilen Getränke, und dann müssen Sie noch ein Knie verarzten, weil mal wieder jemand hingefallen ist. Dann ist es neun Uhr, wir sind schon völlig fertig, und der Tag hat noch gar nicht richtig begonnen.«
»Aus was für Verhältnissen stammt Emily?«
Wieder Gitta: »Ihre Mutter ist immer nett, aber viel mehr kann ich nicht sagen. Wissen Sie, um neun, da kommen die Eltern, die immer reden wollen, die haben nämlich sehr viel Tagesfreizeit. Aber um sechs, halb sieben, da kommen die Eltern, die es gerade so aus dem Bett geschafft haben und sofort zur Arbeit müssen. Da wird das Kind übergeben und fertig. Da lernen Sie keinen kennen.«
»Und Emily wurde immer schon ganz früh gebracht? War die Mutter denn nicht bei den Elternversammlungen?«
»Welche Mutter mit Geldsorgen hat denn wochentags um vier Zeit für eine Elternversammlung?«
»Also hatte Emilys Familie Geldsorgen?«
»Emily wohnt in der Demminer, ihre Mutter ist alleinerziehend. Also: Ja.«
»Gab es irgendwelche Auffälligkeiten? Blaue Flecken, Wunden, so etwas?«
»Na hören Sie mal, Herr Kommissar, das hätten wir doch sofort gemeldet.«
»Natürlich.« Er hatte zu viel gesehen, kannte zu viele Geschichten und verschwiegene Vorkommnisse, um zu glauben, was sie sagte. Eine Traumatherapeutin hatte ihm einmal erzählt, wie viel Gewalt Kinder erlebten, daheim und in der Kita, und dass sie selbst die teuersten und modernsten Einrichtungen mit sehr viel Skepsis betrachtete.
»Gut. Wir machen uns auf die Suche. Was Sie tun können: Lassen Sie so viele Kinder wie möglich abholen, aber ohne dass Sie die ganze Geschichte erzählen. Sagen Sie den Eltern etwas von einer besonderen Situation, aber nennen Sie keine Details. Die restlichen Kinder betreuen Sie ganz normal weiter. Kein Wort zu irgendwem über das Verschwinden! Das übernehmen wir. Wir lassen Ihnen einen Beamten in Zivil hier. Sollte sich Emilys Mutter bei Ihnen melden, dann übergeben Sie das Gespräch an die Kollegen.«
Die beiden Erzieherinnen nickten.
»Ich hoffe wirklich, dass Sie Emily finden«, sagte Gitta Braun.
»O ja, dafür bete ich«, kam es leise von Stefanie Holzapfel.
»Ey, wie gerne würde ich es machen wie in der englischen Serie, wenn Detective John Luther sagt: ›Los, besorgt die Aufnahmen der Überwachungskameras!‹ Und dann verfolgen sie den Täter mit den Kameras, die alle fünf Meter stehen. Und wir? Haben nichts! Verdammter Datenschutz.« Polizeiobermeister Kupferschmidt stöhnte.
»Trotzdem: Geh zum Späti da vorne, Thilo, vielleicht hat der illegal ’ne Dashcam an der Tür montiert. Und dann mach ’ne Abfrage bei der Bahnpolizei, S-Bahnhof Gesundbrunnen, U-Bahnhof Voltastraße und U-Bahnhof Bernauer. Die sollen uns alle Bilder von Männern schicken, die in Begleitung eines Kindes sind.«
»Geht klar, Chef.«
»Sandra?«
»Ja?«
»Eine Anfrage …«
»… Pädos? Hab ich vorhin schon gemacht, als ich auf dich gewartet habe. Bericht müsste gleich da sein.«
»Hoffen wir, dass der negativ ist.«
Sie sah ihn an und nickte. Es gab Gedanken, die wollte man sich so lange vom Leib halten wie möglich, und doch sickerten sie längst durch alle Poren ins Gehirn.