»Wat grübelste denn schon wieder rum, Schmidtchen?«
Sie standen auf einem Parkplatz in der Siegfriedstraße. Er kurbelte das Fenster des VW Passat herunter, warf die Kippe hinaus, die in den letzten drei Minuten ohne einen Zug heruntergebrannt war, und wandte sich dann Melanie zu. Polizeiobermeisterin Melanie Zonke, so viel Zeit musste sein.
»Weiß nicht«, murmelte er. »Gefällt mir nicht, dass es so ruhig ist.«
»Wie bitte? Da haben wir mal einen Tag Ruhe, und dir wird es langweilig? Mann, Schmidtchen, du bist echt ’ne Marke.« Sie lachte ihr helles Lachen, dabei wippte ihr blonder Pferdeschwanz, den er gerne anschaute, so gerne, wie er die ganze Melanie Zonke anschaute. Sie war sieben Jahre älter als er, aber sie sah dreimal so gut in ihrer Uniform aus – sie füllte sie aus, hätte er gesagt, wenn er gefragt worden wäre, mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Charme und ihrer Zugewandtheit. Anders als er. Das hätte er nicht gesagt, wenn er gefragt worden wäre. Aber es fragte ja ohnehin keiner.
Er drehte sich vom Beifahrersitz nach hinten um und nahm die Zeitung vom Rücksitz, den Berliner Kurier. Er kaufte ihn immer morgens für die Fahrt mit der U-Bahn aufs Revier, es war wie ein Ritual, und er brauchte einfach irgendwas zum Festhalten, damit er die Leute nicht die ganze Zeit dabei beobachtete, wie sie ihn beobachteten, in seiner scheußlichen grünen Uniform.
Er blätterte durch die Seiten, irgendwo weiter hinten hatte es gestanden. Noch ’ne Seite und noch eine, kurz vor den Anzeigen für die leichten Mädchen. Rubrik Vermischtes – als ob diese Zeitung aus etwas anderem bestehen würde. »Hier«, sagte er und hielt ihr den Artikel hin. Dann beobachtete er, wie Melanie Zonkes Augen über das Papier flogen.
Vietnamese ermordet
Im Bezirk Marzahn ist am Morgen ein 29-Jähriger auf offener Straße erschossen worden. Nach Angaben der Kriminalpolizei wurde er an der Ecke Rhinstraße/Allee der Kosmonauten von zwei Kugeln in den Bauch getroffen. Der Mann erlag noch am Tatort seinen schweren Verletzungen. Das Opfer ist vietnamesischer Herkunft und soll vor einem Jahr wegen illegalen Zigarettenhandels zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt worden sein. Von dem oder den Tätern fehlt jede Spur. Aus Kreisen der Ermittlungsbehörden wird die Vermutung geäußert, dass die Festnahme-Erfolge der Berliner Polizei gegen die vietnamesische Mafia im letzten Jahr nicht nachhaltig genug waren. Zwar stehen die führenden Mafiabosse vor Gericht, doch scheint die zweite Reihe nun einen neuen Machtkampf um die Führung in der Hauptstadt begonnen zu haben.
Sie sah ihn mit fragendem Blick an. »Ja, schlimm. Und?«
»Siehst du? Es ist nur noch eine winzige Schlagzeile. Da wird einer auf offener Straße übern Haufen geschossen. Mitten in Berlin! Was meinst du, was los wäre, wenn die Kugel abgeprallt und irgend’nen Deutschen getroffen hätte? Aber ist ja nur ein Vietnamese. Weißt du nicht mehr, wie klein die Artikel waren in den letzten Jahren? Als die sich hier gegenseitig abgeschlachtet haben? Da mussten erst über dreißig Leute draufgehen, bevor es zum Krieg in der Hauptstadt erklärt wurde. Und nun geht der ganze Mist wieder von vorne los – und niemand tut was.«
»Mann, Schmidtchen«, sagte Melanie nach einer Weile, »so viel hast du ja noch nie geredet. Aber was willst du denn machen? Du musst Geduld haben. Bald bist du nicht mehr bei uns, sondern bei der Kripo und kannst da in der Scheiße wühlen. Aber jetzt machen wir hier erst mal Dienst am Bürger.«
»Ich will da hinfahren.«
»Wohin?«
»Mensch, Melli, das ist doch unser Kiez! Los, wir fahren jetzt mal in die Rhinstraße und gucken uns um und quatschen ’n bisschen.«
»Was?«
»Ich hab mir auf dem Revier die Akte angesehen. Ich hab ’n Foto von dem Toten. Lass uns mal rumfragen.«
»Du bist verrückt, Adam!«, sagte sie, und jetzt klang sie wirklich wütend. Sie nannte ihn sonst nie beim Vornamen. »Wir sind Streifenbullen. Wir sperren die Straße, wenn zwei Autos ineinanderrasen. Aber wir machen keine Mordermittlungen.«
»Dann fahr mich wenigstens hin.«
»Gib mir ’ne Kippe.«
»Als Bestechung?«
Sie grinste.
»Gib mir ’ne Kippe, dann fahr ich dich da hin. Aber wenn der Funk geht, dann machen wir unseren Einsatz und reden nie wieder drüber. Und dafür gibst du mir heute Abend ein Bier aus.«
»Einverstanden.«
»Gut, los geht’s.«
Sie ließ den Motor an und griff zum Funkgerät.
»Nordost 21 für Ost 200 – wir setzen um, Rhinstraße Richtung S-Springpfuhl.«
Es knackte im Gerät, dann das obligatorische Rauschen. »Ost 200, verstanden.«
Sie kickte das Gaspedal an, und der Streifenwagen rumpelte vom Bürgersteig auf die Landsberger Allee.
Adam verkniff sich ein Grinsen. Es war immer noch lustig zu sehen, wie alle Autofahrer auf der sonst als halbe Autobahn genutzten Schnellstraße vom Gas gingen, wenn sie die Bullen sahen. Auf einmal fuhren alle fünfzig, obwohl sogar sechzig erlaubt waren. Ja, er musste es zugeben. Die Kelle mit dem roten Licht und der Aufschrift Polizei neben seinem Sitz liegen zu haben fand er ziemlich cool. Auch wenn klar war, dass sein Aufenthalt bei den Schupos nur von kurzer Dauer sein würde. Teil der Ausbildung, und weiter ging’s.
Melanie beschleunigte auf über siebzig und nahm die ganz linke Spur, sie kümmerte sich weder privat noch dienstlich um Geschwindigkeitsbegrenzungen. Adam blickte in lauter verdutzte Gesichter in den Wagen, die sie überholten. Hinter der »Pyramide«, diesem furchtbar futuristischen Hochhausturm mit der vermaledeiten Spitze bog Melanie nach rechts ab, bretterte über die Rhinstraße und nahm die Linksabbiegerampel auf die Allee der Kosmonauten bei Kirschgrün, um gleich darauf wieder auf den Bürgersteig hinaufzurumpeln.
»So, na, dann mal los.« Sie wies zur Autotür. »Ich bleib hier und bewache den Funk, und du spielst Kripo.«
»Danke«, sagte er leise. Und meinte es ernst. Das hätte nicht jeder gemacht. Aber Melli war eben ’ne coole Socke.
Adam stieg aus, setzte sich wie vorgeschrieben die Polizeimütze auf und sah sich am Rand der viel befahrenen Straße erst mal um. Ein Blick hinauf zu den grauen Hochhäusern, ein Blick die Allee der Kosmonauten entlang.
Und dann entdeckte er auch schon die Stelle, keine fünfzig Meter von ihm entfernt. Auf dem Boden waren die Markierungen schon wieder abgewaschen, es hatte in der Nacht heftig geregnet. Dafür waren aber die rostroten Flecken noch deutlich zu sehen, bemerkte er, als er näher trat. Er kniete sich hin und betrachtete die Stelle, meinte, noch den Geruch von Eisen wahrzunehmen, aber das war natürlich Quatsch. Es musste Quatsch sein. Die wenigen Passanten, die vorübergingen, guckten absichtlich weg, so schien es ihm.
Die Flecken waren das Blut eines Mannes, eines sehr jungen Mannes. Als er wieder aufstand, fiel sein Blick zu dem Polizeiauto mit den beschlagenen Scheiben. Er hatte gedacht, Melli würde sich sofort in ein Buch vertiefen oder laut Musik hören, aber ihre Augen folgten ihm, betrachteten ihn unaufhörlich. Als er genauer hinsah, wandte sie schnell den Blick ab.
Was hatte er vor? Was sollte das alles? Seit wann interessierte er sich für einen toten Vietnamesen? Er. Polizeikommissaranwärter Schmidt. Sie sagte einfach Adam. Oder Schmidtchen, wenn sie ihn aufziehen wollte. Und durch diesen müden Witz vergessen wollte, dass er sie geküsst hatte, so wie kein anderer Mann seit langer, langer Zeit.
Sie fuhr schon Funkstreifenwagen, seit sie zweiundzwanzig war. Sie würde für immer bei der Schutzpolizei arbeiten, das wusste sie. Es war immer ihr Traum gewesen. Vor einem Jahr wurde ihr Adam auf den Wagen zugeteilt. Ein junger Mann von der Polizeifachschule in seiner Praxisstation.
Groß war er, hochgewachsen und schlank. Beinahe dünn. Und doch wirkte er zäh. Er war ruhig, so schien es, ruhig und klar. Er versuchte, freundlich zu sein, aber auf ihren nächtlichen Fahrten merkte sie, dass er viel lieber den Blick schweifen ließ und schwieg, als über irgendwelchen Schwachsinn zu plaudern, wie die anderen Kasper auf der Wache.
Irgendwann hatte sie ihn gefragt, was er tue, wenn er drei Stunden am Stück schwieg. »Nachdenken«, hatte er gesagt. Sie hatte nicht gefragt, worüber er nachdachte. Sie hatte ihn auch so verstanden.
Wenn es einen Einsatz gab, war er der eifrigste und zugleich bedachteste Kollege. Er schützte sie, ging immer voraus, beruhigte gewalttätige Männer und aufgeregte Verbrechensopfer, ließ aber auch sie machen, wenn er spürte, dass sie besser mit einer Situation umgehen konnte. Sie vertraute ihm blind. Das hatte sie schon nach der zweiten Dienstwoche getan. Weil ihr irgendwas in ihrem Inneren sagte, dass sie sich auf diesen Mann mit den raspelkurzen Haaren und den verdammten hellblauen Augen verlassen konnte, verlassen musste.
Als sie eines Nachts zu einer Massenschlägerei in diese schreckliche Großraumdisko Kontrast gerufen wurden, hatte sie nur einen kurzen Moment nicht aufgepasst. Der junge Skin kam von hinten, er verfehlte ihren Kopf mit der Bierflasche nur ganz knapp, traf sie damit an der Schulter, und sie ging mit einem Schmerzensschrei zu Boden. Sein hasserfülltes »Jetzt fick ich dich, du Bullenschlampe!« hallte noch in ihren Ohren nach, als Adam den riesigen Typen mit einem so gewaltigen Faustschlag zu Boden schickte, dass der blutüberströmt liegen blieb. Ein Schlag, das reichte. Die anderen Skins standen da, als hätte jemand geschossen. Adam zog seine Pistole und hielt sie alle in Schach, dann fesselte er den am Boden liegenden Skinhead, und sie warteten auf Verstärkung.
Melanie Zonke hatte die ärztliche Überprüfung im Krankenhaus abgelehnt. Eine Stunde später fuhren sie wieder durch die Nacht, bis zu einer Kaffeepause morgens um drei hinter der Tankstelle am Poelchauring. Da hatte sie seinen Kopf umfasst, ihn zu sich herangezogen und geküsst. Sie hatten sich förmlich ineinander verschlungen, er dauerte Minuten, dieser Kuss, und dann hatten sie in diesem zugemüllten und viel zu kleinen VW Passat auf dem Beifahrersitz miteinander geschlafen.
Zur nächsten Schicht waren sie beide wieder in den Wagen gestiegen, ohne die vergangene Nacht zu erwähnen. Sie hatten bis heute nicht darüber geredet.
Melanie hatte irgendwann entschieden: Wenn sie ihn eines Tages aus der größtvorstellbaren Katastrophe retten musste, dann würde sie das tun. Heute aber wollte er genau das Gegenteil, er wollte in eine Katastrophe hinein, nur leider wusste sie das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sonst hätte sie wahrscheinlich schnell über Funk um einen anderen Einsatz gebettelt.