»Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Es war nur ein Zischen, vielleicht nicht einmal das, vielleicht war es nur ein Gedanke, der in ihrem Kopf so übermächtig geworden war, dass sie ihn hören konnte. Verdammt, jetzt halluzinierte sie schon!
Sie tigerte in dem kleinen Raum auf und ab und spürte die Blicke auf sich. Sie hasste Blicke von anderen. Es machte etwas mit ihr, wenn sie irgendjemand so musterte. Hatte es immer getan. Sie fühlte sich dann unendlich klein.
Jetzt aber, mit der Waffe in ihrer Hand, konnte sie zurückstarren. Sie tat es, blickte wütend die blondierte Frau in dem Kostüm an, die so selbstherrlich vor dem Schalter gestanden hatte, als gehörte ihr die ganze Bank. »Verdammt, guck runter!«, fauchte sie. Die Frau senkte schnell den Blick, genau wie die Schwarzhaarige, die hier arbeitete, und die junge Frau mit dem Babybauch. Deren Blick wiederum wollte sie meiden, weil sie ihn nicht ertrug. Warum war ausgerechnet an diesem Morgen eine Schwangere hier?
Sie tigerte weiter, vom Schalter bis zur gläsernen Bürotür, unter deren Rahmen ein wenig Blut gerann. Sie hatte nicht weiter über den Typen nachgedacht, als sie gesehen hatte, dass es nur ein winziger Streifschuss war, eine kleine Wunde am Arm. Dafür würde bei ihr zu Hause nicht mal der Arzt gerufen. Der Typ jammerte jetzt in seiner Ecke, aber das tat er wahrscheinlich auch, wenn er eine Erkältung hatte.
»Au, verdammt«, flüsterte er, und es klang so gequält, dass die blondierte Frau im Kostüm wieder aufsah. »Sehen Sie das nicht? Der Mann braucht einen Arzt. Wir müssen ihn hier rauslassen. Wirklich!«
»Hab ich dich nach deiner Meinung gefragt?«
»Gucken Sie doch«, sagte die Frau, »ihm geht es gar nicht gut.«
Jetzt reichte es ihr. Diese Besserwisserei, dieser vorwurfsvolle Ton. Sie ging zu dem Weib und griff ihr in die Haare. Sie zog kräftig daran, spürte, wie der Kopf unter ihrer Bewegung nach hinten ruckte. Der Schrei der Frau gellte durch die Filiale. »Du sollst deine verdammte Fresse halten, klar? Sonst brauchst du gleich einen Arzt.« Sie genoss das klägliche Wimmern der Frau, es gab ihr ein Gefühl von Macht. Das war es, was sie jetzt gerade brauchte. Es machte sie ruhiger, weil die Angst sie sonst fast erstickt hätte.
»Ja«, jammerte die Frau und blieb auf dem Boden liegen, »ja, ich hab verstanden.«
Niemand blickte sie mehr an, sogar die Memme im Anzug hatte ihr Klagen eingestellt. Nein, es stimmte nicht. Eine Person hatte ihren Blick weiterhin fest auf sie gerichtet: die Alte, die sie vorhin rausgeschickt hatte, um das Handy zu holen. Unverwandt schaute sie sie an, aus ihren kühlen grauen Augen, die ein wenig matt waren.
Sie wollte sie auch anschreien, aber sie tat es nicht. Sie betrachtete nur kurz die dünnen grauen Locken der Frau und ihre Haut, die so faltig war und doch so braun gebrannt, als würde sie den ganzen Tag im Freien verbringen. Da war etwas an ihr …
Er hatte dieses Flimmern vor seinen Augen, wie kleine Sonnenperlen, die über seine Pupillen flirrten, so, als würde er hier gleich vor allen zusammenklappen.
Warum heute? Warum ausgerechnet er? Warum ausgerechnet in dieser Filiale? Das Blut lief durch den Riss in seinem Hemd, er spürte, wie es warm seinen Arm herunterrann. Dieses beschissene Kaff! Flecken-Zechlin. Irgendwie hatte er es gewusst, hatte es heute Morgen im Bett gespürt, dass er besser liegen bleiben sollte. Er war in seiner Dachgeschosswohnung in Neuruppin erwacht, allein, wie immer. Er war mit seiner Arbeit verheiratet, das sagte jedenfalls seine Mutter. Er konnte darüber nur lachen, denn Filialleiter bei der Sparkasse Ostprignitz-Ruppin zu sein, das war ja nun wirklich nicht das, wodurch man sich als Karrieremensch auszeichnete. Damit konnte er nicht mal auf einer WG -Party angeben. Egal, es hatte sich einfach nichts ergeben bisher, hier war es wie überall auf dem Land: Die wirklich hübschen Geschöpfe, die dazu auch noch clever waren, hatte es längst nach Berlin verschlagen oder gleich ganz woandershin, in den Westen, wo nicht nur Männer zurückgeblieben waren, die ihre Tage irgendwie rumkriegen mussten. So bestand sein Alltag aus frühem Aufstehen, den kurzen Arbeitstagen in den Filialen, weil sich die Öffnungszeiten dem Einkommen der Leute angepasst hatten – überschaubar, aber gut, dass überhaupt noch etwas da war. Dafür wollten dann aber die Sitzungen in der Direktion in Neuruppin nicht enden. Und abends saß er schließlich zappend auf dem Sofa. Er war wahrscheinlich einer der drei Menschen im Landkreis Ostprignitz-Ruppin, die wussten, dass ARTE ein eigener Sender war und nicht ein vernuscheltes RTL . Wenn es gut lief, traf er am Abend einen seiner Kollegen in einer Kneipe auf ein paar Bier. Kollegen, wohlgemerkt. Die wenigen Kolleginnen unter vierzig waren alle längst verheiratet und schon auf dem Weg ins Eigenheim.
Verrückt, worüber er so nachdachte, während die Irre mit der Strumpfmaske durch den Raum lief und mit ihrer Knarre herumwedelte. Nun gut, wenn es heute schlecht lief, dann war es das für ihn mit der Familienplanung gewesen. Björn Seelinger, erschossen in der Sparkassenfiliale Flecken-Zechlin. In Ausübung seines Dienstes. Es klang so komisch, wie es war. Ausgerechnet heute. Das konnte doch kein Zufall sein! Aber wer sollte denn davon wissen? Außer … Er stockte.
Und konnte sich zusammenreimen, was in der BILD -Zeitung stehen würde: Björn S., 31 Jahre, war ein Einzelgänger, ein Karrieremensch. Vielleicht würden sie ihn als Helden bezeichnen, weil er das einzige Opfer dieses Bankraubs war, weil er die Frauen geschützt hatte, auch die Schwangere dort vorne, die am Boden kauerte und sich den Bauch hielt. Geschützt. Beinahe hätte er aufgelacht. Er war so mutig wie ein Welpe. Er hätte niemals aufgemuckt bei einem solchen Überfall, das hatte er schon auf der Berufsschule für Bankwesen in Eschwege gewusst. Er war kein Held.
Er hatte den Alarmknopf wirklich nur gedrückt, weil der dort an der Wand war. Es war ein Reflex, wahrscheinlich hatte er sich einfach nur irgendwo festhalten wollen.
Die Wunde am Arm tat so weh. Er sah es schon vor sich: der ganze Schweiß, die Bakterien im Hemd, Blutvergiftung, Sepsis, das war’s.
Er konnte den Blick nicht von der Pistole lösen, die die Frau in der Hand hielt. Er hatte noch nie so ein Ding in echt gesehen. Er war aus Nordhessen, eine Jägergegend, ohne Frage, aber die Jagd war nie seine Sache gewesen. Deshalb war das die erste echte Pistole, die er in seinem Leben sah. Keine Ahnung, warum, aber er hatte auch vorhin nicht einen Moment daran gezweifelt, dass sie echt war.
Als er die Stimme der Frau gehört hatte, hatte er sich fast in die Hose gepinkelt. Da war so viel Wut, so viel Hass. Er wollte nicht sterben. Er wollte so schnell wie möglich hier raus und dann diese Filiale nie wieder betreten.
Aber eines musste er anerkennen: Die Frau hatte sich wirklich den richtigen Tag für ihren Überfall ausgesucht.
Das letzte Mal hatte sie 1945 auf dem Fußboden gesessen, da war sie noch ein Mädchen gewesen oder, na ja, eine junge Frau. Seitdem saß sie immer auf Stühlen und zuletzt fast ausschließlich in ihrem bequemen Sessel. Deshalb merkte sie erst jetzt, dass dieses Am-Boden-Sitzen ihrem offenen Bein wirklich nicht guttat. Es zog und juckte furchtbar.
Nach ihrem Sparkassenbesuch hatte sie eigentlich einen Termin bei Doktor Grabow gehabt, den könnte sie nun wohl vergessen. Aber gut, der hätte eh nur wieder das Bein angesehen und so etwas gemurmelt wie: Ach, Frau Müller, was soll ich da denn machen? Das Alter, das Alter … Aber immerhin hätte sie einen Schwatz halten können, und er hätte seine 23 Euro fürs Quartal abgerechnet.
Doch der verpasste Termin wurmte sie nicht wirklich. Nein, es war vielmehr so, dass sie das Adrenalin spürte, dieses Hormon, das sie in ihrem Körper längst verloren geglaubt hatte. Wie lange war ihr nichts Aufregendes mehr passiert? Klar, sie wollte hier nicht draufgehen, so hatte sie sich ihr Ableben bestimmt nicht vorgestellt.
Aber dieser Moment hier auf dem Boden der Bank, mit der armen Tina Kaminske, die weinend dort drüben saß, und diesem jungen Mann aus Neuruppin mit dieser winzigen Wunde am Arm – das war schon eine echte Geschichte!
Und dann war da die maskierte Frau, die auf und ab tigerte, in der Hand eine Pistole von Heckler & Koch. Henriette Müller hatte alle Krimis gelesen, die sie in die Hände bekam, bis das Lesen irgendwann ihre Augen zu sehr anstrengte. Nun schaute sie alle Krimis im Fernsehen, auch die brutalen, und da lernte man einiges über Waffen. Die Täter in den Krimis hielten ihre Waffen immer anders. Drohender. Diese Frau hier, die war jung, keine Frage, und sie hielt die Pistole vor sich, nicht so, als wollte sie bedrohlich wirken, sondern eher, als wollte sie sich selbst beschützen.
Wegen der Sturmhaube konnte sie das Gesicht der Frau nicht sehen, und ohne die Mimik war es schwer einzuschätzen. Aber Henriette Müller war sich trotzdem sicher: Was sie in deren Augen sah, war keine Gewalt, sondern Angst, Wahn, vielleicht sogar Panik. Und das bereitete ihr Kopfzerbrechen.
Sie hatte keine Zeit für diese ganze Kacke hier! Sie musste die Kohle holen, und dann musste sie hier weg. Schnell. Und jetzt standen da die Bullen vor der Tür. Sicher nicht nur zwei. Sie hatte zwar nur zwei gesehen, aber es mussten doch mehr sein, selbst hier, am Arsch der Welt. Banküberfall, das war doch jedem klar, dass das ein großes Ding war. Dass dieser Bastard im Anzug aber auch ausgerechnet den Alarm drücken musste.
Der Bastard. Ihre Ruhelosigkeit hatte endlich ein Ziel. Sie spürte den Schweiß unter ihrer Maske, ihr Kopf fühlte sich so heiß an, als hätte sie 40° Fieber. Es war alles ein Elend.
Sie marschierte los, direkt auf ihn zu, griff nach seinem Arm und zog ihn hoch. Er schrie sofort auf, sie sah das Blut auf seinem Ärmel, aber es war ihr egal. Der Schmerz würde ihn schon zum Reden bringen.
»Das dürfen Sie nicht!«
»Fresse!« Blitzschnell drehte sie sich zu der Frau in dem Kostüm um, die es schon wieder gewagt hatte, den Mund aufzumachen, und schrie sie wütend an. Schnell legte die die Hände über den Kopf, um sich zu schützen.
»Los, ich brauch den Schlüssel! Gib mir den Schlüssel zum Tresorraum!«, befahl sie dem Mann.
»Das ist …«, stammelte er.
»Was sagst du?« Ihr Griff um den Arm des Mannes wurde fester
»Das ist ’ne Zeitschaltuhr! Da, das Schild.«
Er wies auf das Schild an der Glastür. Darauf war eine Tür wie von einem Banktresor abgebildet. Darunter stand: Unser Tresor ist mit einer Zeitschaltuhr versehen und kann vom Personal nicht geöffnet werden.
»Mann, das schreibt ihr doch nur dran, aber das glaubt doch kein Mensch. Wie wollt ihr denn an euer Geld kommen? Los, gib mir jetzt den verdammten Schlüssel für den Tresor!«
»Ich …«
Sie hob die Hand und ließ sie voller Wut in sein Gesicht sausen. Der Schlag schleuderte seinen Kopf nach links, das Klatschen hallte im Raum nach. Alle schwiegen, aber es war nicht nur ein Schweigen, es war eine absolute Stille. Alle waren vor Schreck erstarrt, jeder fühlte diesen Schmerz, der weniger ein körperlicher Schmerz war, sondern eher die Scham, einer echten Ohrfeige für einen erwachsenen Mann beizuwohnen.
»Der Schlüssel!« Sie hielt ihn weiterhin fest, aber der Mann hatte sowieso schon jeglichen Widerstand aufgegeben.
»In meinem Büro.«
»Los, hol ihn … und mach keinen Quatsch! Wenn du die Tür zumachst, dann ballere ich dich da raus.«
Sie gab ihm einen Schubs, doch anstatt loszugehen, fiel er der Länge nach hin und rührte sich nicht mehr.
Verdammt!
Nein, nicht zu mir. Bitte, komm nicht zu mir. Das war es, was ihr seit einer Stunde unablässig durch den Kopf ging. Sie betete sogar, obwohl sie nur Jugendweihe gemacht hatte. Sie wiederholte stumm immer wieder die gleichen Sätze: Gott, bitte, lass uns das durchstehen. Uns drei.
Die kleine Marie in ihrem Bauch war ganz still. Sonst strampelte sie wie wild, nachts manchmal so doll, dass Sarah vor Schmerzen aufwachte. Aber in dem Moment, in dem die Frau in die Bank gerannt war, war Marie verstummt. Kein Zeichen mehr, als stellte sie sich tot.
Tot. Der Gedanke ließ sie zusammenzucken. Sie drehte sich unmerklich um. Er lag ganz nah neben ihr, in ihrem Schatten, er hielt sie im Arm, das Basecap hatte er tief ins Gesicht gezogen. Sie glaubte zu spüren, dass er zitterte, vielleicht war es aber auch nur ihr eigenes Herz. Er war so ein guter Typ. Und nun machte er sich so unsichtbar, wie Marie sich unsichtbar gemacht hatte. Und sie, Sarah, sich ebenfalls gerne unsichtbar machen würde.
Sie sah nicht auf, selbst dann nicht, als die zwei Füße in weißen New Balance- Schuhen vor ihr standen.
»Du.«
Nein. Nicht er. Bitte!
Sie dachte nicht: Nicht ich. Sie dachte: Nicht er. Sie liebte ihn so sehr wie das kleine Wesen in ihrem Bauch.
Nun hob sie doch den Blick. Die Strumpfmaske bewegte sich in dem Rhythmus, in dem der Mund die Worte sprach. Die Stimme der Frau war heiser, vielleicht rauchte sie viel. Sarah hatte auch viel geraucht. Früher. Vor Marie.
»Du. Steh auf!«
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er aufstand, den Kopf immer noch gesenkt.