»Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Wenn Sie eine Rückrufbitte per SMS senden möchten, dann …«
Adam drückte die Neun, zum dritten Mal in zehn Minuten. Nicht auszuhalten.
»Sie hat das Handy ausgeschaltet.«
»Komisch, was ist denn da los?«
»Vielleicht arbeitet sie. Kannst du mal rauskriegen, was die Frau macht? Sie heißt Doreen Matysek. Geboren am 4. April 1992 in Schwedt.«
»Mach ich, Chef.« Thilo Kupferschmidt ging raus zu dem Zivilwagen, in dem sie seit einem halben Jahr so einen winzigen Computer hatten, der Zugang zur Datenbank der Berliner Polizei und der Bürgerämter hatte. Die Digitalisierung war endlich auch in Berlin angekommen. In Bayern benutzte die Polizei solche Computer seit 2011.
Adam trommelte mit den Fingern auf das Fensterbrett, bis Sandra endlich auflegte und ihn ansah.
»Und?«, fragte er angespannt.
»Sie schicken mir den Namen.«
»Das heißt, es gibt jemanden?«
Sie blickte ihn mit betretener Miene an. »Ja, im Nachbarhaus. Demminer 9. Er ist …«
»Nun sag schon!«
»Er ist seit zwei Monaten raus. Ist aber eigentlich auf Jungs festgelegt.«
»Scheiße, ein Nachbar. Das könnte passen.«
»Los, wir fahren da hin.«
»Moment noch.«
Adam hielt sie zurück und ging noch einmal zurück in den großen Spielraum. Der Boden war mit Bausteinen übersät, daneben lag eine Armada von Kuscheltieren. Kleine Staubwolken tanzten durch die warme Luft. Die beiden Erzieherinnen saßen mit den Kindern auf dem Boden und ließen gerade ein Matchbox-Auto einen Überschlag machen, dass die Kleinen nur so kreischten. Der Kommissar hockte sich zu ihnen auf den Boden. Zehn Kinderaugen betrachteten ihn aufmerksam.
»Wer von euch hat denn gesehen, wie der Papa die Emily abgeholt hat?«
»Emily hat kein’ Papa!«, plapperte ein kleiner Junge los.
»Nicht? Ach Mann, dann hat mir das jemand falsch erzählt. Aber hast du denn den Mann gesehen, der sie abgeholt hat?«
»Da draußen an den Zaun.«
»Da hast du jemanden gesehen?«
Der Junge, auf dessen T-Shirt ein Hund in blauer Polizeiuniform prangte, nickte eifrig. »Er hat Emily gerufen.«
»Er hat ihren Namen gerufen, und sie ist dann zu ihm gegangen? Hat sie gelacht?«
Der Junge nickte, und die anderen Kinder um ihn herum nickten mit.
»Kanntet ihr den Mann?«
Fünfmal synchrones Kopfschütteln.
»Hey, danke, ihr wart mir eine große Hilfe. Ihr könnt jetzt weiterspielen. Eure Mamas und Papas holen euch nachher ab. Aber gleich gibt es ja eh erst mal Mittag, oder? Tschüss, macht’s gut!«
Adam stand auf und nickte den Erzieherinnen zu, dann verließ er den Raum. Draußen erkannte er den Wagen des psychologischen Dienstes. Der Seelsorger stieg gerade aus. Adam hob die Hand zu einem knappen Gruß. Dann trat er auf die Straße und lief schnellen Schrittes zu Sandra Pitoli, die ihren eigenen Dienstlaptop auf das Autodach gestellt hatte.
»Benjamin Grunow, einunddreißig Jahre.«
Er nickte nur.
»Kennst du den?«
»Nein.« Adam Schmidt waren zwar die größten Problemfälle in seinem Revier bekannt. Aber in einer Drei-Millionen-Stadt war es ein Ding der Unmöglichkeit, einen echten Überblick zu haben, erst recht, weil Straftäter nach der Haftentlassung gerne untertauchten, umzogen oder gleich auf Nimmerwiedersehen verschwanden. »Aber wir werden ihn gleich kennenlernen.«
Er trat zu den uniformierten Beamten, die im Schatten der Straßenbäume Schutz vor der mittlerweile unerbittlichen Sonne gesucht hatten. »Fahrt die Absperrung ein wenig zurück, aber bleibt hier. Ich will erst Presse am Zaun, wenn ich es sage. Wir suchen einen 176er.«
Der junge Polizist verzog das Gesicht. § 176, Strafgesetzbuch: Sexueller Missbrauch von Kindern. Der besondere Platz in der Hölle. »Brauchen Sie Unterstützung, Kommissar?«
»Danke, wir nehmen erst mal das kleine Besteck.«
Schweigend lief Sandra mit Adam die zweihundert Meter in Richtung Norden. Thilo wollte nachkommen, wenn er seine Recherchen beendet hatte. Auf der Gegenspur rauschte der Verkehr in Richtung Mitte, dort vorne ragte der Fernsehturm empor wie eine Landmarke. Es war nicht weit bis zur Demminer. Sandra ertrug diese Betonburgen schlecht, die sich rechts und links emporwuchteten, diese hässliche Architektur der Sechziger. Acht Etagen Satellitenschüsseln und Einsamkeit und unten eine Ansammlung von Sportwettbüros, Waschsalons und Spätis mit blinkenden Reklametafeln. Sie kam aus Zehlendorf oder war zumindest dort aufgewachsen, nachdem ihre Eltern sie mit zwölf aus Neapel hierher verfrachtet hatten, aus der Sonne Italiens in die Tristesse, die Kälte und die kulinarische Einöde Deutschlands. Wenigstens hatten sie sie nach Zehlendorf verschleppt. Da gab es Einfamilienhäuser für normale Leute und Villen für reiche. Sie hatten in einem Reihenhaus gewohnt. Das Einfamilienhaus für normale Leute, die nicht von hier waren.
Die Scheiße mit ihrer Traurigkeit hatte begonnen, als die Aufregung über den ersten Schnee ihres Lebens, über die eisigen Winter und die blauen Kältehimmel über dieser fremden Stadt nach drei Jahren verflogen war. Und seitdem war sie nie mehr ganz weggegangen, diese Traurigkeit.
Sie, Sandra, hätte weggehen müssen. Dessen war sie sich mittlerweile sicher. Es hätte jedes Problem gelöst. Sie wollte wieder in den Süden. In die Leichtigkeit. Zu den Leuten, die über alles bis aufs Messer diskutierten und dennoch nichts Böses im Sinn hatten, sondern nur mal alle Möglichkeiten besprechen wollten.