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»Hier ist Rabenstein, Einsatzleiter SEK . Spreche ich mit Frau Schmidt?«

»Polizeihauptkommissarin Schmidt, ja.«

Er grunzte in der Leitung.

»PHK Schmidt, ist die Geiselnahme bestätigt?«

»Positiv.«

»Wir sind auf dem Weg.«

»Das heißt? Zehn Minuten mit dem Heli?«

»Heli war keiner zu kriegen. Der, den wir haben, ist in der Werkstatt. Berlin leiht uns seinen nicht mehr. Gab wohl ’n doofes Missverständnis vor ’n paar Monaten.«

»Und nun schicken Sie uns ’ne Brieftaube?«

»Wir rücken jetzt hier in Potsdam ab, mit drei Pkw. In einer Stunde sind wir bei Ihnen. Wer hat die Leitung?«

»Die habe ich.«

»Kein LKA vor Ort?«

»Wie gesagt: Ich leite den Einsatz.«

Der Mann am anderen Ende schwieg kurz.

»Wir übernehmen. Verhandeln Sie nicht, bis wir da sind. Der Innenminister will bei derartigen Vorkommnissen immer ein hartes Vorgehen, das wissen Sie. Also: Stürmung in anderthalb Stunden. Bis gleich!«

Es piepte in der Leitung. »Wichser!«, schnaubte Linh-Thi.

»Hm?«

»Dieser Rabenstein vom SEK

»Ach herrje, der Waffennarr.«

»Narr reicht schon. Aber uns bleibt noch etwas Zeit.«

»Was hast du vor?«

»Wir müssen mit ihr sprechen. Wir müssen verstehen, was sie will. Und ich habe keinen Bock, dass der Irre und seine harten Jungs ihr den Kopf wegballern und die Kriegerwitwe von Flecken gleich mit ins Jenseits schicken.«

»Was soll sie schon wollen? Sie will Geld.«

»Ja, aber aus welchem Grund? Welche Frau überfällt denn alleine eine Bank? Das ist doch Wahnsinn.«

»In jedem Fall werden wir ihr nicht geben können, was sie will«, sagte Brombowski.

»Das werden wir ja sehen.« Linh-Thi lächelte ihn an. »Ich muss mal kurz telefonieren.«

 

Duc Tung Nguyen drückte auf den Autoschlüssel, und die schwarze S-Klasse blinkte überall dort, wo sie blinken konnte, vorne, hinten, an den LED -Leuchten, an den Seitenspiegeln und unter den Türgriffen. Zufrieden betrachtete er den Koloss, den er mittig auf dem mittleren Parkplatz vor Halle 1 geparkt hatte. Das Schild am Kopf der Stellfläche wies den Parkenden als Geschäftsführer aus.

Er ging den kurzen Weg über den Asphalt und betrat dann seine liebste Halle, Halle 3, weil er die jungen Frauen im Supermarkt am Eingang am liebsten mochte und weil das Gemüse deutlich frischer war als in Halle 2 und Halle 4. Und hier gab es auch den besten Bun Chay, den Reisnudelsalat.

Sein Blick fiel in den vollen Gang. Kein typischer Montag, ziemlich viel los. Ungewöhnlich, aber ihn störte es sicher nicht. Er nickte zufrieden. Er ging ein paar Schritte, vorbei am Supermarkt. Sein Hemd war noch schweißnass von der Hitze draußen, deshalb traf ihn die Kälte der neuen Klimaanlage, die aus dem Supermarkteingang strömte, wie ein Schlag. Das Ding von Daikin war echt sein Geld wert. Die konnten was, die Japaner.

Links saßen die Kunden schon bei Tom Kha Kung und Asiapfanne im Bistro, dahinter kamen die ersten Läden rechts und links in den Verschlägen, die er für gutes Geld vermietete. Je näher ein Verschlag am Eingang lag, desto höher waren die Mieten.

Weiter hinten in der Halle, wohin sich nur noch wenige Kunden verirrten, kostete ein Laden gerade mal die Hälfte. Zweihundert Läden gab es hier in Halle 3, noch mal jeweils zweihundert in den Hallen eins bis fünf.

»So viel los!«, sagte er auf Vietnamesisch zu den drei Männern, die mitten auf dem Gang vor einem Nagelstudio an einem Tisch Xoc Dia spielten, ein Brettspiel. Natürlich ging es um Geld. Sie wussten, dass sie hier draußen nie um richtig viel zocken durften, dafür gab es Extraräumlichkeiten, in den nicht nummerierten Hallen, aus denen die deutschen Kunden, wenn sie sich denn dorthin verirrten, zuerst freundlich und dann sehr nachdrücklich herausgebeten wurden.

»Ja, vielleicht decken sich vor dem Urlaub alle noch mal mit Klamotten ein«, sagte ein junger Mann, und sein älterer Freund fügte hinzu: »Oder Thao hat wieder Sonderangebot.« Alle lachten, auch Duc. Thao war die beliebteste Friseurin in Halle 3, und die Liste ihrer Stammkunden war so lang wie die Legenden, die sich um ihre verschiedenen Dienstleistungen rankten. Nach Ducs Meinung schnitt sie nur Haare – vor allem aber zahlte sie pünktlich ihre Miete, und das war alles, was ihn interessierte.

Sein Telefon spielte Tiến quân ca, den Gesang der vorrückenden Truppen, Vietnams Hymne. Er ließ sie immer ein paar Sekunden erklingen, bevor er entschied, ob er den Anruf entgegennahm. Diesmal las er den Namen und nahm sofort ab.

»Linh!«

»Bruder. Wie geht’s?«

»Alles bestens, langweilig wie immer. Bei dir?«

Er mochte es, ihre Stimme zu hören, und doch war er sogleich in Habachtstellung. Weil sein ganzes Leben darauf ausgerichtet war, für sie da zu sein. Nur für sie. Er musste ihr beweisen, dass er gut war. Ein guter Mensch. Er stand tief in ihrer Schuld. Und er musste seine Schuld begleichen. Für alles, was geschehen war.

 

Sie vernahm seine Stimme, die es gewohnt war, Befehle und Kommandos zu geben. Mit ihr aber sprach er ganz sanft. Sie hörte auch andere Stimmen im Hintergrund, es wurde Vietnamesisch gesprochen, und sie sehnte sich nach dem Chaos in den langen Gängen und dem wilden Farbenkitsch, der Musik und den blinkenden Neonspielzeugen in den Hallen. Vietnamesen liebten Kitsch – und sie liebte Kitsch, obwohl sie in Deutschland aufgewachsen war.

»Na ja, hier ist es gerade alles andere als langweilig«, antwortete sie und ließ eine Pause folgen. Er sprang sofort an.

»Ist alles okay?«

»Wir haben hier einen etwas verzwickten Fall. Sag mal, hast du was da?«

»Was? Du weißt doch, da ist nichts, wir sind seit dem Brand total sauber.«

»Nein, ich meine …«

 

Duc verstand, ohne dass seine Schwester es aussprechen musste. Er entfernte sich ein Stück von den Kartenspielern, nun waren da nur noch deutsche Kunden um ihn herum. Er wechselte ins Vietnamesische.

»Geld?«, fragte er.

»Nur zur Sicherheit. Ich weiß noch nicht, ob ich es brauche.«

»Klar. Also, kommt drauf an, wie viel du brauchst. Montag ist ein schlechter Tag, Freitag Abend bringen wir alles zur Bank. Aber am Wochenende wird schon was gelaufen sein.«

»Kannst du mir hundert geben?«

»Hunderttausend? Das ist kein Problem. Wann brauchst du es?«

Er hörte sie tief durchatmen. Sie konnte sicher immer noch nicht glauben, dass er diese Summen legal verdiente.

»Wie gesagt: Vielleicht brauche ich es gar nicht. Aber es wäre gut, wenn ich es hätte, falls es schnell gehen muss.«

»Sag mir einfach, wann und wo. Ich bring es dir.«

»In einer Stunde? Ich schick dir meinen Standort. Und, Bruder?«

»Ja?«

»Cảm ơn.«

»Linh? Du musst mir nicht danken. Niemals. Ich bin froh, wenn ich dir helfen kann.«