Die Uhr an der Wand trug das rote S mit dem Punkt obenauf, und sie glaubte ihr Ticken zu hören. Unendlich laut schien es durch den Raum zu hallen. Es machte sie verrückt. Genau wie dieser Kalender mit dem hübschen Foto von Schloss Rheinsberg. Sparkasse Ostprignitz-Ruppin stand darunter. Ein Werbegeschenk, das Idylle pur versprach. Nur nicht für sie.
Sie sah wieder auf die Uhr. Kurz nach elf. Nun saß sie schon zwei Stunden hier fest. Und hatte noch immer keine Ahnung, was sie tun sollte.
Da fiel ihr der Bildschirm wieder ein. Die Anfrage von vorhin war abgelaufen. Sie nahm die Girocard und tippte die Kontonummer in das Suchfeld ein. Diesmal ruhiger. Klickte auf Enter.
Auf dem Bildschirm erschienen Zahlen. Sie las den Kontostand und erstarrte. So viel Geld. Ihr Blick fiel auf die alte Frau am Boden. Woher hatte die so viel Geld?
92 000 Euro. Auf einem Girokonto. Bei ihr selbst waren es meistens nicht mal 92 Euro Guthaben, immer stand ein Minus vor dem Saldo.
»Du. Komm her!«
»Wer? Ich?«
»Ja. Du.«
Tina Kaminske stand auf und bemühte sich, keine Angst zu zeigen, als sie auf den Schreibtisch zuging.
»Da«, sagte die unter der Strumpfmaske und deutete auf den Bildschirm.
Tina Kaminske stand jetzt ganz nah neben ihr. Sie sah den Kugelschreiber, der auf dem Schreibtisch lag. Sie könnte ihn packen und der Frau in die Brust rammen. Aber es war ein Kugelschreiber der Sparkasse, billigstes Plastik. Was sollte das schon bringen? Sie wollte sich keine Kugel einfangen, ganz sicher nicht.
»Ich will dieses Geld.«
Tina sah die Frau an, vielleicht eine Spur zu fassungslos. Hatte die denn wirklich gar keine Ahnung, wie das hier funktionierte?
»Hören Sie, das Geld ist doch nicht hier in der Bank. Nicht in diesen Räumen, nicht im Tresor. Es ist in der Zentrale oder nicht mal da, die Sparkasse verwaltet es ja nur digital, und es liegt in Wirklichkeit irgendwo bei der Bundesbank, verstehen Sie? Ich kann Ihnen das nicht auszahlen.«
»Dann musst du es mir eben überweisen. Geht das?«
Sie fragte sie ganz freundlich, als wäre sie keine Bankräuberin, sondern hätte einen Termin für eine Kontoberatung gemacht. In was für einem Film steckte sie hier eigentlich? Hätte die Frau nicht tatsächlich eine Pistole in der Hand gehalten, dann hätte Tina laut gelacht, wie über einen Witz.
»Ich kann so eine große Summe nicht einfach so überweisen. Dafür bräuchte ich eine Voranmeldung in Neuruppin oder …« Sie wollte ihn nicht erwähnen, weil sie ihn dort kauern sah mit seiner Wunde. Klar, Björn Seelinger konnte es – und sie konnte es natürlich auch, sie hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, wie man die Vier-Augen-Kontrolle umging. Aber das würde sie dieser Frau nicht auf die Nase binden. Frau Müller würde ihr Geld sonst nie wiedersehen.
»Ich will dieses Geld!«
»Wenn Sie es sich überweisen lassen wollen, dann müssten Sie mir ja Ihre Kontonummer und Ihren Namen geben, und dann …«
Die Frau schien nachzudenken.
»Nein, ich will es jemand anderem überweisen. Verstehst du? Es ist wirklich dringend. Es geht um …«
Sie brach ab. Tina Kaminske sah sie mit festem Blick an.
»Wirklich, ich kann es nicht, da muss jemand aus Neuruppin …«
Der Schlag traf sie so unerwartet, dass sie taumelte und hinfiel. Er war gar nicht doll gewesen, aber sie hatte einfach nicht damit gerechnet.
»So eine Scheiße!«, schrie die Frau über ihr und ging, die Pistole in der Hand, durch den Raum. »So eine Scheiße, was mach ich nur? Was mach ich nur?« Sie wimmerte jetzt, als wäre sie besessen. Sie klang wahnsinnig – und verzweifelt. Für einen Moment spürte Tina Kaminske einen Funken Mitleid, der aber gleich wieder von Angst abgelöst wurde, als die Frau zu ihr zurückkam und ihr die Pistole an die Schläfe drückte. Tina spürte den Lauf, kalt und hart auf ihrer Haut. Sie hielt den Kopf auf den Boden gesenkt, Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte … bitte nicht, ich habe Familie …«
»Du sagst mir jetzt sofort, wie ich an die Kohle komme, oder ich bring dich um. Ich bring euch alle um!«, schrie sie, und Tina zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Frau dazu fähig war.
»Aaaaah!« Es war ein Schrei, ein kehliges Stöhnen, das alle im Raum aufblicken ließ. Die kleine Marie in Sarahs Bauch hatte bis eben stillgehalten, nun aber war sie aufgewacht, vielleicht durch die Aufregung und das pochende Herz ihrer Mama, jedenfalls trat sie so heftig zu, dass Sarah Krämer dachte, die Wehen hätten eingesetzt. »Aaaah, verdammt!« Ihr Freund rückte näher an sie heran und beugte sich vor, er kam auf die Knie und hielt sie. Bloß nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen, dachte Sarah, aber es gelang ihr nicht, weil das Ziehen und Zerren in ihrem Unterleib nicht auszuhalten war. Sie blickte auf, das Gesicht schmerzverzerrt.
Die Geiselnehmerin hatte von Frau Kaminske abgelassen und stand jetzt über ihr. Durch den Schleier aus Tränen nahm Sarah die vor Schreck geweiteten Augen der Frau wahr. Aus den Löchern der Maske blickten sie ihr wie aus einem Totenschädel entgegen. Und da war noch etwas anderes in ihrem Blick, wie Sarah plötzlich bewusst wurde: Traurigkeit.
Benny war nun neben ihr und stützte sie. »Sie muss sich hinsetzen, sonst bekommt sie einen Blasensprung«, sagte er, und seine Stimme war ganz fest und zugleich freundlich. »Darf ich ihr helfen?«
Immer noch wirkte die Räuberin wie erstarrt, dann aber nickte sie. »Ja, los.«
Die Pistole hielt sie jetzt gesenkt.
»Bitte, sie darf uns nichts tun«, flüsterte Sarah, die nur noch Angst und Schmerz war. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken, auf dem sie auch gesessen hatte, als der Überfall begann. Das alles kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Wie lange waren sie schon in der Bank? Und wie lange sollten sie noch hier gefangen bleiben? So hatte sie sich diesen Tag nicht vorgestellt.
Benny hielt ihren Arm. »Es wird alles gut«, flüsterte er, »sie tut dir nichts. Alles wird gut.«
Die Räuberin baute sich vor ihr auf. »Geiseln, Köpfe wieder auf den Boden. Los! Du, welcher Monat?«
»Siebter.«
»Okay. Bleib hier sitzen. Ruhig atmen.« Ihre Stimme war auf einmal sanfter als zuvor. »Wo tut es denn weh?«, fragte sie und klang jetzt wie eine Ärztin.
»Hier.« Sarah zeigte auf ihren unteren Bauch.
»Das ist bestimmt nur die Aufregung. Alles gut. Dir und dem Baby wird nichts passieren, wenn hier alle mitspielen. Also, bleib ganz ruhig sitzen.«
Sie ließ die Schwangere in Ruhe, behielt sie aber im Blick. Die Schalterfrau kauerte hinter dem Tresen, den Blick gesenkt.
»So, nun wieder zu uns. Ich will mein Geld – und ich weiß, dass ich es kriege. Also los – sag mir, wie du es überweisen kannst.«
»Wie gesagt, ich …«
Sie drückte der Frau erneut die Pistole an die Schläfe, diesmal mit mehr Druck. »Wirklich, ich ballere dir das Hirn weg. Sag mir jetzt, wie ich an Geld komme. Dann wird dir nichts passieren, ich verschwinde, und ihr könnt mit eurem Leben weitermachen. Aber wenn ihr mich verarschen wollt, dann kommt niemand von euch mehr lebend hier raus, verstanden?«
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Der Typ im Hemd hatte die Augen wieder geöffnet und stöhnte leise vor sich hin. Erst verstand sie nicht, was er sagte, aber dann kam das Wort klarer über seine Lippen: »Schlüssel.«
Sie ging auf ihn zu und packte ihn am Hemd. »Was sagst du?«
»Der Schlüssel … in meinem Büro, rechts im Schreibtisch.«
»Aber …« Die Frau im Kostüm sah auf und funkelte wütend. Die schon wieder.
Doch es war nicht die Frau mit den blondierten Haaren, die sie beunruhigte, sondern der stechende Blick der Alten, die sie seit Minuten anstarrte und jede ihrer Bewegungen verfolgte.
»Bleibt alle sitzen!«
Sie ging durch die Glastür in das kleine Büro. Der Schreibtisch wirkte unbenutzt. Sie zog die rechten Schubladen auf, in der dritten lag ein großer Schlüssel wie von einem alten Tresor. Ihr Herz machte einen Sprung, sie fühlte, wie viel leichter gerade alles wurde. Mit einem Satz war sie wieder im Vorraum.
»So«, sie blickte sich triumphierend um, »ihr bleibt alle sitzen, und du da …«
Niemand rührte sich.
»Ja, du. Deiner Freundin passiert nichts, ihr geht es gut. Komm, schließ auf, die Tür ist schwer.«
Der junge Mann mit dem Basecap stand widerwillig vom Boden neben dem Stuhl auf und ging zu ihr. Sie machte eine Bewegung mit dem Kopf, die ihm bedeutete voranzugehen. Die schwere Tür mit dem Code und dem Schloss befand sich im hinteren Tresenbereich.
»Hier, nimm und schließ auf. Und du, sag den Code.«
Tina Kaminske wollte aufstehen.
»Bleib sitzen! Den Code.«
»4235.«
Sie drückte die weißen Tasten, ein grünes Licht leuchtete. »Sehr gut.«
Der junge Mann drehte den Schlüssel im Schloss, dann drückte er die Klinke und zog mit vollem Körpereinsatz die schwere Stahltür auf.
Sie hatte es geschafft. Sie hatte es tatsächlich geschafft! Nun würde dieser Albtraum bald vorbei sein.
»Geh rein und sieh nach, wie viel Geld da ist«, sagte sie, und der junge Mann tat, wie ihm geheißen. Sie selbst blieb im Türrahmen stehen, um die Geiseln im Blick zu behalten. Nur einmal sah sie rasch in den Tresorraum.