»’ne Dreiviertelstunde noch!«
»Zweiundvierzig Minuten«, erwiderte Linh und musste trotz der Anspannung grinsen.
»Pedantin«, murmelte Brombowski mit einem Blick auf die verlassene Hauptstraße. Er hatte mittlerweile das Auto gewendet und es mit eingeschaltetem Blaulicht quer über die Straße gestellt, damit sich kein anderer Wagen näherte, aber das war ungefähr so notwendig gewesen wie ein Baum mehr im Wald von Flecken. Niemand war an diesem Vormittag unterwegs, zumindest nicht hier. Die Vorgärten lagen ausgestorben in der Sonne, die Dorfbewohner suchten – wenn sie nicht bei der Arbeit waren – in ihren Häusern ein wenig Abkühlung, nur ab und zu bewegte sich mal eine Gardine.
Auch in der Sparkasse tat sich nichts, zumindest wirkte es hier draußen so, auch wenn der Polizeihauptmeister ahnte, dass die Lage dort drinnen ganz furchtbar war.
Er hatte zur Wendezeit, als die Polen und die Jungs vom Balkan Ostdeutschland für sich entdeckt hatten, genug Banküberfälle miterlebt, um zu wissen, wie sich das anfühlen musste. Damals war es immer nur ein schnelles Rein-Raus gewesen, die Gangster hatten kurz mit den Waffen gedroht und die Kohle eingepackt, bevor sie wieder verschwunden waren. Dies hier war seine erste echte Geiselnahme.
Linh dagegen wirkte wie immer: als hätte sie das alles schon tausendmal gemacht, als könnte sie nichts erschüttern. Sie saß im Schneidersitz im Schutz des Polizeiautos und prüfte gerade ihre Dienstwaffe, die neue SFP 9 von Heckler & Koch. Vorhin hatte sie ihre schwarze Lederjacke ausgezogen, und nun saß sie in einem weißen Tanktop da. Die langen schwarzen Haare fielen ihr über die Schultern. Brombowski konnte an ihrem Gesicht erkennen, dass sie über etwas nachdachte.
»Ich rufe noch mal an«, sagte sie schließlich.
»Aber die will doch erst das Geld sehen.«
»Ich hoffe, er ist nicht zu spät.«
»Wer?«
»Mein Kurierfahrer. Er muss vor dem SEK hier sein.«
»Was ist eigentlich zwischen dir und Rabenstein passiert, dass du ihn so hasst?«
»Wie gesagt: Ich hab keinen Bock auf ein Blutbad.«
»Linh.« Brombowski sah sie herausfordernd an. »Echt, ick kenne dich nun schon ’ne janze Weile. Ick seh doch, dass das nicht alles ist.«
Linh blickte ihn durchdringend an, als hätte er sie ertappt. »Nein, das ist nicht alles. Es gibt da ’ne alte Geschichte, als Rabenstein Adam … ich meine, meinem … meinem Mann übel mitspielen wollte. Aber bevor du jetzt weiter nachfragst: Ich spreche nicht darüber. Okay?«
»Okay.« Ihr Mann. Adam Schmidt. Kriminalhauptkommissar. Der Zeugenflüsterer. So nannten sie ihn. Weil er mit einem scheinbar Unbeteiligten in den Verhörraum ging und mit einem weinenden geständigen Täter wieder herauskam. Es gab oft Schlagzeilen über ihn in der BZ oder im Kurier, auch wenn es so schien, als wollte er jegliche Öffentlichkeit vermeiden. Brombowski hatte ihn zwei- oder dreimal kurz getroffen, als er Linh in Rheinsberg abgeholt hatte. Jedes Mal war Adam Schmidt außerordentlich freundlich gewesen, wenn auch wortkarg. Brombowski hatte nichts gegen wortkarge Leute.
Linh nahm das Telefon aus ihrer Hosentasche, dann stand sie auf und stellte sich neben den Wagen.
»Hey, komm wieder runter!«
»Nein, ich will, dass sie mich sieht.«
Sie drückte die Wahlwiederholungstaste. Diesmal nahm die Frau sofort ab.
»Ja?«
»Hallo, hier Schmidt noch mal. Hören Sie, das SEK wird gleich hier sein. Überlegen Sie es sich: Lassen Sie mich rein, dann gebe ich Ihnen das Geld. Versprochen. Sehen Sie, ich stehe hier draußen und komme ohne Waffe, schauen Sie aus dem Fenster.«
Linh beobachtete das Schaufenster der Sparkasse, bereit, sich blitzschnell zu Boden zu werfen, falls sich der Lauf einer Waffe zeigte. Doch nach einigen Sekunden wurde nur das Rollo vorsichtig ein kleines Stück zur Seite gezogen.
»Gut, sehen Sie? Ich lege meine Waffe jetzt auf die Motorhaube des Wagens. Mein Kollege Brombowski macht es genauso.« Mit einer ungeduldigen Geste bedeutete sie ihm aufzustehen.
Klaus erhob sich langsam, holte seine Dienstwaffe aus dem Gürtel der Uniform und legte sie auf die Motorhaube. Linh konnte sehen, dass er es nur widerwillig tat.
»Das Geld ist in ein paar Minuten hier. Schicken Sie die alte Frau und den verletzten Mann raus, und dann lassen Sie mich rein. Einverstanden?«
Stille in der Leitung. Linh befürchtete schon, die Geiselnehmerin würde auflegen, doch dann hörte sie ihre Stimme, in der ein leichtes Zögern mitschwang.
»Na gut, so machen wir es. Kommen Sie zur Tür, wenn Sie das Geld haben. Und keine Spielchen! Kommen Sie nur in T-Shirt und Hose, keine Schuhe, keine Waffe. Verstanden? Klopfen Sie zweimal. Ein Kinkerlitzchen, und hier stirbt jemand!« Dann piepte es in der Leitung, die Frau hatte aufgelegt.
»Krass«, sagte Linh. »Sie hat Ja gesagt.«
»Was? Willst du etwa echt da rein? Bist du bescheuert?«
»Ich will, dass der Mann von einem Arzt versorgt werden kann. Und dass die alte Frau da rauskommt.«
»Du bist …«
»Komm, ruf einen RTW , mach schon. Die sollen sich beeilen.«
In diesem Moment hörte sie einen schweren Motor auf der Dorfstraße. Sie erkannte die Marke und die PS -Zahl, bevor sie das schwarze Ungetüm sah. Als Duc sie das erste Mal mit seiner Karre abgeholt hatte, hatte sie ihn ausgelacht. »Du hast doch gar nicht so einen kleinen Penis«, war ihr Kommentar gewesen. »Meine Geschäftspartner nehmen mich nicht ernst ohne so einen Wagen«, hatte er geantwortet. »Und die Deutschen, die sind auch gleich viel netter. Meinst du, ich krieg sonst ’nen eigenen Bearbeiter bei der Bank? Als Viet?«
Duc näherte sich schnell, und sie zeigte ihm an, dass er ein Stück entfernt anhalten solle. Er blinkte und fuhr rechts ran. Linh ging auf ihn zu, ließ dabei den Blick aber nicht von den Fenstern der Sparkasse.
»Hey, Bruder!«
»Linhi.« Er nahm sie in die Arme. »Das ist ja echt das letzte Kaff.«
»Mein Block, mein Revier.«
»Alles okay bei dir?«
»Ja, alles gut. Aber tu mir einen Gefallen. Gib mir die Tasche, und dann fahr wieder weg. Ich will nicht, dass du hier bist, wenn die Sache losgeht. Das ist mir zu heiß.«
Vor allem wollte sie nicht, dass Rabenstein Duc hier sah – Nachforschungen über ihre Familie wollte sie nicht riskieren, besonders nicht von diesem Wichser.
»Was machst du mit der Kohle?«
»Wenn ich sagen würde: Ich gehe jetzt in die Sparkasse da rein und kaufe damit Geiseln frei, dann würdest du mich zurückhalten. Deshalb sage ich nichts.«
»Weißt du noch, als wir uns damals ein Zimmer geteilt haben? Du hast dich immer um meine Sicherheit gesorgt. Aber du erlaubst mir nicht dasselbe für dich.«
»Weil ich auf der richtigen Seite stehe – und du jetzt ja glücklicherweise auch.«
»Ich hoffe, du weißt, was du tust. Aber gut, du warst schon immer mutiger als ich.«
»Danke, Duc.«
»Hey, Schwesterherz. Viel Glück.«
Er gab ihr die Tasche, dann stieg er wieder in den Wagen, wendete und fuhr davon.
Sie sah ihm noch kurz nach, dann ging sie zurück zu Brombowskis Wagen. Sie wunderte sich, wie leicht sich hunderttausend anfühlten. Aber sie öffnete die Tasche nicht. Wenn Duc ihr das Geld eingepackt hatte, dann waren es hunderttausend, auf den Cent genau.
Sie nickte Klaus zu und begann sich die Nike-Sneaker, die sie immer trug, auszuziehen. »Ich geh jetzt rein«, sagte sie nur.
Ihr Handy klingelte. Das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, mit einer Hand an den Schnürsenkeln, nahm sie den Anruf an. »Schmidt?«
»Rabenstein. Wir brauchen noch zwanzig Minuten, fahren gerade von der 24 ab. Wie ist die Lage?«
»Keine Vorkommnisse in der Sparkasse. Alles beim Alten.«
Der Mann am anderen Ende schien genau auf ihre Worte zu lauschen.
»Sie warten doch auf uns, richtig?«
»Na klar, was denken Sie denn?«
»Wie viele Verdächtige?«
»Es sieht weiterhin nach einer Geiselnehmerin aus. Und ich schätze, es sind vier bis sechs Geiseln im Raum.«
»Wir werden uns ein Bild machen, und dann gehen wir rein. Sie …«
Es vibrierte. Linh nahm das Telefon vom Ohr und sah aufs Display.
»… sich zurückhalten, wenn wir da sind, das SEK übernimmt dann die Leitu…«
»Sorry, ich bekomme gerade einen wirklich wichtigen Anruf. Tschüss, bis gleich.«
Sie drückte Rabenstein weg und fragte dann leise in den Hörer: »Hey, Adam, alles okay?«