Sie sondierte die Lage: Direkt neben ihr saß eine Frau um die sechzig, sie trug ein elegantes Kostüm, und ihr Gesicht war tiefrot, sie wirkte überhitzt und einem Zusammenbruch nahe. Sie sah immer wieder zu Linh herüber, als wollte sie ihr etwas sagen. Linh nickte ihr beruhigend zu. Gleich, gleich, sollte das heißen.
Tina Kaminske erkannte sie, Klaus hatte ihr ein Foto der Sparkassenmitarbeiterin im Internet gezeigt.
Linhs weitere Überlegungen mussten jetzt aber vor allem der jungen Frau gelten, deren Schwangerschaft weit fortgeschritten war. Sie hielt die Hand schützend über ihren Bauch und schien wie in Trance zu sein. Ein Mann saß hinter ihr und hatte seine Hand beruhigend auf ihren Rücken gelegt. Linh ärgerte sich, dass sie die Schwangere nicht schon in der Tür bemerkt hatte.
»Hör zu, du musst die schwangere Frau auch noch gehen lassen. Es geht ihr nicht gut, und ich möchte nicht, dass sie das Baby hier drinnen bekommt.«
»Sitzen bleiben und nur sprechen, wenn ich es erlaube, verstanden?«, rief die Frau. »Dem Baby wird nichts passieren. Ich lasse euch schon raus, aber sicher nicht, wenn gerade das SEK anrückt.«
Linh fluchte innerlich: Die Schwangere war wirklich ein Problem – sie behinderte ihren Plan. Solange eine Gefahr für die werdende Mutter bestand, konnte Linh nicht offensiv vorgehen.
Sie nahm den Raum genauer ins Visier: Der Notausgang war hinten in der Kaffeeküche. Dorthin zu gelangen war nicht ausgeschlossen, aber doch ziemlich schwierig. Es waren sicher zehn Meter zu überwinden, und dann müsste sie noch ohne Schlüssel die Tür öffnen. Und sie hatte keine Waffe, die andere schon.
Das Fenster zur Straße bestand ohne Zweifel aus Sicherheitsglas, auch hier keine Möglichkeit zur Flucht. Die Eingangstür war nach Linhs Eintritt von der Geiselnehmerin verschlossen worden, die Fenster nach hinten raus vergittert.
Der Tresorraum hinter dem Kassenbereich stand offen, und Linh fragte sich, ob die Frau dort schon Geld gesichert hatte.
Wenn das SEK kam, würde sich Rabenstein ohne Zweifel über den Vordereingang Zutritt verschaffen. Vielleicht zur Ablenkung eine Rauchbombe durchs hintere Fenster werfen und dann zur Vordertür rein. So würde sie es auch machen, an seiner Stelle. Aber das durfte nicht geschehen.
Die Geiselnehmerin sah nicht so aus, als würde sie spaßen. Andererseits: Ihr ging es doch um etwas ganz anderes, oder? Linh hatte geglaubt, sie würde einer extrem angespannten Frau gegenüberstehen. Aber irgendwie war die Täterin unter der Maske viel ruhiger, als sie erwartet hatte. Dabei musste sie doch unter enormem Druck stehen. Warum spürte Linh davon nichts?
»Schön langsam!«, rief Klaus. »Kommen Sie zu mir, ganz langsam, so ist es gut.« Er ging ein Stück auf Frau Müller zu und hakte sie unter, während der Filialleiter an ihnen vorbeirannte und in der Deckung des Polizeiwagens zu Boden sank. »Sie sind in Sicherheit«, sagte Brombowski erleichtert, mehr zu sich selbst als zu den beiden befreiten Geiseln.
»Ich brauche einen Arzt, jemand muss sich das ansehen.«
»Der Rettungswagen ist jeden Moment da, Herr Seelinger. Aber nun erzählen Sie mal, was dort drinnen passiert ist, ja?«
»Eine Verrückte, eine verrückte Frau – die ist zu allem fähig, wirklich! Und … meine Angestellte ist noch da drin.«
»Frau Kaminske.«
»Ja, genau, und es ist merkwürdig … Wie konnte die davon wissen? Ausgerechnet heute? Da muss doch jemand geredet haben. Aber es hatte doch niemand die Information, dass …«
»Wovon sprechen Sie, Herr Seelinger?«
»Es gab heute eine große Geldlieferung. Der Transporter kam früh am Morgen. Es war der ganz normale Transport, der auch die Geldautomaten auffüllt, deshalb erschien es mir zunächst nicht ungewöhnlich. Aber dann war da noch das andere Bargeld …«
»Für wen war das Geld bestimmt?«
»Das darf ich nicht sagen, Herr Wachtmeister, das Bankgeheimnis.«
»Herr Seelinger, ich …«
In der Ferne waren Sirenen zu hören.
»Frau Müller, wie geht es Ihnen? Möchten Sie etwas trinken?«
Die alte Frau hatte sich auf ihren Rollator gesetzt und die Augen geschlossen, als genösse sie die wärmende Sonne.
»Nein, alles gut, danke, Klaus.«
»Kein Wasser?« Er hielt ihr die Flasche hin, aber sie schüttelte den Kopf.
»Nein, nein. Ich brauche nur das hier.« Sie griff in die Tasche ihrer dünnen Strickjacke und nahm eine Schachtel Cabinet heraus, aus der sie sich eine Zigarette anzündete. Der würzige Rauch erfüllte die warme Luft. Ihre Stimme war so tief und kratzig, dass Klaus sich wirklich wunderte, wie Henriette Müller so alt hatte werden können. Aber es gab die Legende, dass der Arzt von Flecken-Zechlin sie gebeten hatte weiterzurauchen – würde sie aufhören, würde sie wahrscheinlich prompt tot umfallen.
Nach dem zweiten tiefen Zug sagte sie: »Weißt du, was wirklich merkwürdig war, Klaus?« Sie nahm erst noch einen Zug, bevor sie fortfuhr. »Am Anfang, da war die junge Frau ganz plemplem, also wirklich, sie stand völlig neben sich. Es war, als würde ich bei einer dieser Gerichtsserien zugucken, Richterin Barbara Salesch oder so – da spielen doch die Schauspieler auch immer so schlecht.« Sie lachte das ihr eigene, tiefe Lachen. Klaus musste unwillkürlich daran denken, dass sie sich im Kirchenchor gut als Alt machen würde. »Sie schien richtig Angst zu haben – und dann, von einer Minute auf die andere, war die Angst wie weggeblasen. Von dem Moment an war sie ganz ruhig, sie war sich ihrer Sache total sicher und hat auf einmal kalkuliert gewirkt. Es war ganz und gar bemerkenswert, diese Veränderung, die in ihr vorgegangen ist.«
Der Filialleiter sah die alte Frau verwundert an, es war, als nähme er sie zum ersten Mal richtig wahr.
»Echt? Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Wundert mich nicht, Jungchen, du warst ja voll und ganz mit deinem Arm beschäftigt.«
Klaus lauschte gebannt. Wenn Henriette Müller so etwas beobachtet hatte, dann zweifelte er keine Sekunde daran, dass es wichtig war. »Und, erinnern Sie sich noch, was genau vor diesem Stimmungswechsel geschehen ist?«
»Danach krame ich seit zehn Minuten in meinem Gedächtnis, und es fällt mir nicht ein. Aber ich komm noch drauf, Klaus, ich komm noch drauf. Sag mal, hast du noch die kleine Pulle dabei? Ick könnt jetzt eenen gebrauchen.«
»Nein, du weißt doch, dass ich trocken bin.«
»Ach.« Sie wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Zumindest in meinem Alter brauch ick auch nicht mehr aufhören mitm Saufen. So hat der Deibel wenigstens Angst, dass ich ihn anhauche mit meiner Fahne.«
Klaus schmunzelte. Er konnte nicht anders, als die alte Frau zu mögen. Gerade als er etwas erwidern wollte, wurde seine Aufmerksamkeit von der Sirene am westlichen Ende der Dorfstraße in Beschlag genommen.
Der Krankenwagen aus Neuruppin bog um die Ecke und rumpelte über das Kopfsteinpflaster. Sein Martinshorn wurde nur noch von den verschiedenen Sirenen aus südlicher Richtung übertönt: Drei schwarze VW -Busse mit Blaulicht bogen mit halsbrecherischem Tempo in die Straße ein und hielten mit quietschenden Reifen genau vor der Sparkasse. Sein Polizeiwagen war gar nicht mehr zu sehen.
Die Schiebetüren öffneten sich, und mehrere maskierte Männer in voller Kampfmontur sprangen heraus. Zwei von ihnen trugen Scharfschützengewehre. Nun war Flecken-Zechlin kein Dorf mehr, sondern ein Tatort.
Ein Hüne mit Glatze kam auf ihn zu, zog seine Lederhandschuhe aus und gab ihm die Hand.
»Rabenstein, SEK . Wo ist Kommissarin Schmidt?«
»Die ist drinnen.«
»Wo, drinnen?«
»Na, da drinnen.« Er zeigte auf die Sparkasse.
Dem SEK -Mann entglitten die Gesichtszüge, eine Zornesfalte trat zwischen seine Augenbrauen. »Ist die denn von allen guten Geistern verlassen?«, donnerte er los. »Diese Schmidts, die gehen mir so was von auf die Nerven. Ich …«
Er schnaubte und wandte sich wutentbrannt an seine Männer. »Alle in Stellung. Polizistin im Gebäude. Dennoch, es bleibt dabei, Vorbereitung zur Stürmung in zehn.«
Klaus Brombowski sah, wie die SEK -Leute ihre Pistolen durchluden und hinter Mauern, Autos und Bäumen Stellung bezogen. Neben ihm murmelte Henriette Müller: »Na, wenn dat mal ein gutes Ende nimmt …«
»Das ist mein Geld.«
Es war nur geflüstert, dazu der Fingerzeig auf den Tresorraum. Die Frau in dem Kostüm schaute sie mit einem drängenden, fast flehenden Blick an und geriet beinahe außer sich, weil sie wohl glaubte, dass Linh sie nicht verstand. »Sie müssen etwas machen!«
Sie beobachteten beide, wie die Maskierte sich wieder in Richtung Tresorraum entfernte, als müsste sie etwas prüfen.
»Was meinen Sie?«, flüsterte Linh zurück.
»Ich bin die Bürgermeisterin«, zischte die Frau. »Die Bank hat heute mein Geld hier, ich will es abholen, aber nun … das darf nicht gestohlen werden …«
»Hey! Was quatscht ihr da?«
Linh und die Bürgermeisterin sahen in unterschiedliche Richtungen.
»Ruhe, habt ihr verstanden?«
»Lass die junge Frau gehen!«, versuchte Linh es noch einmal. Es war zu heiß in diesem Raum, der über keine Klimaanlage verfügte. Die Mittagshitze brannte erbarmungslos auf das kleine Haus im Ortszentrum.
»Ja, aber ich will jetzt die Tasche.«
»Warum tust du das?« Linh musste mit der Geiselnehmerin ins Gespräch kommen, mehr erfahren.
»Weil ich es tun muss.« Sogar durch die Maske konnte Linh ihre Augen funkeln sehen. »Das verstehst du nicht, ihr alle versteht es nicht.«
»Ich glaube, es bleibt nur wenig Zeit, um es mir zu erklä…«
Das Geheul der Sirenen drang von draußen in die Sparkasse, dann hörten sie die quietschenden Reifen, die Bremsen, die knallenden Türen.
»Hmm, zu spät für einen geordneten Rückzug«, sagte Linh leise und tonlos.
Die Frau ging zum Fenster und schob das Rollo ein winziges Stück beiseite.
»Mist!«
»Ja, das ist ein nicht sehr netter Kollege von mir.«
Die Frau schüttelte den Kopf und hielt Linh das Handy hin.
»Ruf ihn an. Sag ihm, wenn er hier reinkommt, dann gibt es Tote.«