»Los, wir gehen gleich zum Volleyball …«
»Ich muss noch in die Kaufhalle, ich brauch was zu trinken.«
»Aber dann schnell, ich will nicht zu spät kommen.«
»O Linhi, magst du nicht doch mit?«
Linh betrachtete ihre drei besten Freundinnen und schüttelte traurig den Kopf.
»Mann, du bist so gut im Volleyball, du musst echt deine Mama fragen, ob du nicht auch in den Verein kannst.«
»Mittwoch geht bei mir echt nicht. Aber ich wünsch euch viel Spaß, wir sehen uns morgen.«
»Okay, tschüss!«
Sie umarmten sich, dann zogen die drei Mädchen mit ihren Sporttaschen über den Armen ab in Richtung Sporthalle. Linh blickte ihnen kurz nach, dann wandte sie sich um und strebte der Rhinstraße entgegen, wo sie ab drei Uhr bei Mama im Laden stehen musste.
Eva, ihre beste Freundin, hatte recht: Sie war richtig gut im Volleyball, und sie hatte wahnsinnig viel Spaß dabei. Im Verein zu spielen wäre ein Traum – auch, weil es hieß, dass sie dann mit ihren Freundinnen den Nachmittag verbringen konnte. Denn nach dem Sport trafen sich alle immer noch bei jemandem zu Hause, es gab Pizza und einen Film, oder man sprach über andere Mädels – und zunehmend auch über Jungs.
Doch für sie blieb es ein Traum, denn sie war fest gebunden an die Nachmittage im Klamotten-Bungalow oder im Imbiss. Sie fand es nicht schlimm, zu arbeiten und zu helfen. Sie verstand auch ihre Eltern, die ihre Hilfe brauchten und einforderten. Schlimm fand sie nur, dass sie ihre Freundinnen so wenig sah. Was aber toll war: Die nahmen es ihr nicht krumm und ließen sie nicht außen vor. Wenigstens in der Schule hatten sie eine tolle Zeit zusammen – und ab und zu auch am Wochenende.
Sie bog aus der Massower Straße in Richtung Norden ab, denn sie mochte es nicht, auf der lauten Rhinstraße zu laufen. Deshalb hielt sie sich immer unter den Bäumen in den kleineren Wohnstraßen, die parallel verliefen. Sie hatten eine Stunde vor den anderen Schluss gehabt, deshalb waren nur wenige Schüler unterwegs. Zweimal drehte sie sich um, weil sie das Gefühl hatte, dass jemand ihr folgte. Doch da war niemand.
Kurz vor dem Supermarkt hörte sie etwas.
»Linh.«
Sie drehte sich nicht um, sondern beschleunigte ihren Schritt. »Sie spürte, wie er ebenfalls schneller lief und die Distanz zwischen ihnen sich verringerte.«
»Linh, bleib doch stehen.«
Sie wollte schon losrennen und wandte nur kurz den Kopf, da sah sie ihm direkt in die hellblauen Augen. Dem jungen Mann mit den blonden Haaren. Sie erkannte ihn sofort wieder.
»Bitte, bleib stehen«, rief er ihr nach. »Ich tu dir nichts, echt, ich bin doch ’n Bulle.«
Da stoppte sie und drehte sich um, stand ihm jetzt frontal gegenüber.
»Mein Bruder hat mir Vovinam beigebracht. Wenn du mir zu nahe kommst …« Die Kampftechnik war eine vietnamesische Spezialität, und Duc hatte ihr im Kinderzimmer viele Griffe gezeigt. Damals, als er noch viel zu Hause gewesen war.
»Verstanden«, sagte der Polizist und nahm lächelnd die Hände hoch, als wollte er sich ergeben.
»Was willst du von mir? Warum hast du keine Uniform an? Was soll das?«
Sie dachte nicht einmal darüber nach, warum sie ihn duzte. Sie tat es einfach.
»Ich will nur mit dir reden. Wirklich.« Er trat einen Schritt näher. »Ich heiße Adam. Ich bin Streifenbulle hier im Kiez, aber ich werde bald bei der Kripo arbeiten. Ich versuche rauszufinden, warum der Junge sterben musste. Und ich denke, dass du weißt, wer er ist.«
Linh schüttelte energisch den Kopf. »Ich weiß nichts. Und ich will auf keinen Fall mit dir gesehen werden.«
Er trat noch einen Schritt näher und griff nach ihrem Arm, sie zuckte zusammen, doch dann reagierte sie blitzschnell, entwand sich geschickt seinem Griff und sprang einige Schritte zurück. »Was soll denn das?«
»Hey, sorry, aber du musst mir erzählen, was du weißt, Linh.«
»Ich weiß wirklich nichts. Und ich will nicht, dass du mich anfasst, Mann! Woher weißt du überhaupt, wie ich heiße?«
»War nicht so schwer zu ermitteln. Dein Vater hat den Imbiss, da gibt es ein Gewerbeamt und ein Einwohnermeldeamt – und ich bin Bulle. Hey, du musst mir helfen. Sonst muss ich bei deinen Eltern nachfragen, was du darüber weißt.«
Sie konnte es nicht glauben. Der Typ drohte ihr. »Du siehst gar nicht wie ein Arschloch aus, aber anscheinend bist du eines. Aber okay, ich rede mit dir, im Supermarkt. Gib mir eine Minute Vorsprung.«
»Und wenn du abhaust?«
Sie grinste ihn an. »Dann kannst du immer noch bei meinen Eltern klingeln.«
Sie war nicht abgehauen, sie stand zu ihrem Wort. Adam hatte es gewusst. Er fand sie bei den Haushaltswaren. Vor dem Waschmittel und den Spülmaschinentabs. Wer war dieses Mädchen, und warum war sie so selbstbewusst und schien noch dazu instinktiv alles richtig zu machen? Hier war um diese Uhrzeit kein Mensch, anders als bei den Lebensmitteln. Erst recht, weil hier alle Reinigungsartikel doppelt so viel kosteten wie in der Drogerie, die gleich neben dem Supermarkt war.
Sie hatte ihren Rucksack auf dem Rücken, einen dunkelgrünen Eastpak, dazu trug sie eine grüne Sportjacke und eine hellblaue Jeans, ihre Füße steckten in Turnschuhen von Victory. Eben öffnete sie ihre dunklen Haare und strich sich einmal über den Kopf, als hätte ihr der Pferdeschwanz Schmerzen bereitet, dann nahm sie das Zopfgummi, um es in ihrer Hand zu drehen.
Er lächelte ihr zu, aber sie erwiderte es nicht, ihre Miene war ernst.
Mit einem Blick den Gang hinunter sagte sie leise: »Wir haben nicht viel Zeit. Also, ich habe keine Ahnung, wie der Typ heißt, der erschossen wurde. Aber er muss hier irgendwo in der Gegend gewohnt haben. Ich habe ihn schon mal gesehen. Er hat meinen Bruder einmal im Auto mitgenommen.«
»Deinen Bruder Duc?«
»Woher kennst du Duc?« Als sie begriff, hellte sich ihr Gesicht auf, wurde aber sofort wieder ernst. »Ach ja, das Einwohnermeldeamt.«
»Stimmt«, sagte Adam nickend und dachte: Aber nicht nur von dort. Es gibt auch eine Akte über deinen Bruder, und die ist ziemlich dick.
»Warum wurde der Mann erschossen?«, fragte Linh.
»Ich weiß es nicht. Aber ich muss es herausfinden. Ich glaube, es hat was mit Drogen zu tun.«
»Aber es ist doch eigentlich alles ruhig jetzt.«
»So wirkt es«, antwortete Adam. »Aber all die Geschäfte gehen ja weiter.«
»Meine Familie hat damit nichts zu tun.«
»Das glaube ich dir. Und doch will ich wissen, in welcher Verbindung dein Bruder mit diesem Jungen stand.«
»Ich weiß es nicht. Aber Duc hat mir deutlich gemacht, dass ich mich da nicht einmischen soll. Glaubst du …« Sie zögerte, dabei suchten ihre Augen eine Reaktion in seinen. »… dass er in Gefahr ist?«
Adam zuckte mit den Schultern. »Ich kann es dir nicht sagen. Wirklich nicht. Dazu weiß ich zu wenig über die ganze Sache. Deshalb würde es mir wirklich helfen, wenn du mir verrätst, wo Duc und der andere sich getroffen haben. Und was sie dort gemacht haben.«
»Wenn ich es wüsste, dann würde ich es dir vielleicht sagen. Aber ich weiß es wirklich nicht.«
Plötzlich trat eine vietnamesische Frau in den Gang und sah die beiden eine Sekunde zu lange an, wie sie dort so nah beieinanderstanden. Instinktiv wich Linh einen Schritt zurück. »Ich muss jetzt los. Sprich mich nicht mehr an, okay? Das hier ist eine zu kleine Welt, und ich will nicht, dass meiner Familie was passiert.«
Dann wandte sie sich um und rannte aus dem Laden. Adam sah ihr lange nach.