Vernehmungsraum 1, Dachgeschoss von Abschnitt 15. Mittlerweile war es brütend heiß. Deutlich zu heiß für den schwitzenden Mann in dem Hard Rock Café- T-Shirt, dass ungefähr so gut zu ihm passte wie die Trainingshose von Union Berlin. Er sah aus wie eine Karikatur, aber hey, Kommissarin Sandra Pitoli arbeitete lange genug in dieser Stadt, um zu wissen: Das war das Leben hier. Widersprüche, wo sie nur hinschaute. Berlin war eine zerrissene Stadt, damals und heute. Damals durch die Teilung, die aus der Stadt auf der einen Seite die Hauptstadt eines untergehenden Reiches und auf der anderen Seite eine Exklave gemacht hatte. Und heute war die Stadt zerrissen zwischen Arm und Reich, so plump das auch klang: Es gab den Ku’damm, den Nikolassee, den Wannsee, wo sie ein bisschen Hamburg und ein bisschen München spielten, nur ohne Stil. Dann gab es den Prenzlauer Berg und den Kreuzberg, wo sie alle so taten, als wären sie alle längst postkapitalistisch, grün und nachhaltig, bis ihnen jemand sagte, dass sie ohne ihre Club-Mate, ihr Bio-Dry-Aged-Rindfleisch und ihre Veja-Sneaker auch nur ziemlich plumpe Hipster waren. Und es gab all die anderen Bezirke, wo es schlicht um den täglichen Kampf ging, genug Kohle zusammenzubekommen, um die Kinder durchzukriegen, die steigenden Mieten zu bezahlen und einmal im Jahr bei Aldi den neuen Laptop von Medion zu erstehen.
Der Mann vor ihr gehörte ohne Frage zur letzten Kategorie.
»Wollen Sie ein Wasser? Kaffee?« Ihre Stimme war immer tiefer, wenn sie Männer verhörte. Sie konnte nichts dagegen tun, es geschah ganz automatisch.
»Kann man hier rauchen?«
Sandra schüttelte den Kopf.
»Wir sind hier leider nicht in einem alten Maigret-Buch«, sagte sie. »Das Rauchverbot gilt hier schon vierzehn Jahre, damals hab ich auch aufgehört.«
»Na, dann nehm ich ein Wasser.«
Sie stand auf, ging kurz aus dem Raum und kam mit einem Glas Leitungswasser wieder. Mittlerweile war das T-Shirt des Mannes komplett nass geschwitzt. »Ein Höllenwetter ist das, oder? Okay, wir haben nicht viel Zeit. Sie haben also zwei Männer in der Wohnung von Doreen Matysek ein und aus gehen sehen.«
»Na, ein und aus gehen, das klingt ja, als würde ich auf der Lauer liegen. Ich bin ja nicht vonner Stasi.«
»Es ist mir, ehrlich gesagt, wurscht, ob sie Ihre Nachbarn beobachten oder nicht. Die Tochter von Frau Matysek ist verschwunden. Sollten sie das der BZ erzählen, wenn sie hier rausspazieren, dann nehme ich Sie fest, wegen Behinderung der Justiz. Denn es weiß bisher niemand, bis auf meine Kollegen, ich und nun Sie. Gut, der Entführer auch. Aber der sind Sie ja nicht, vermute ich. Oder doch?«
»Na, Sie fahren ja schwere Geschütze auf.«
»Hier, der hier, ist das einer davon? Nun sagen Sie schon, Mann.«
»Ja, na jut.« Er trank etwas Wasser, um die sichtbare Aufregung herunterzuschlucken, bevor er antwortete. »Der da, der war oft da. So een-, zweimal die Woche. Aber wenn der da war, dann hab ick nich’ rausjeguckt, dit war mir zu heiß. Der hatte immer so große Karren am Start. Wenn er da war, dann hamse dit aber sowieso jehört.« Er grinste. »Die haben sich jestritten wie die Kesselflicker. Er hat jeschrien, und sie hat zurückjeschrien, die kann ooch richtig ’n Biest sein, die Doreen, hab ick immer jedacht.«
»Gab es Gewalt?«
»Wat weeß ick, na hören Se mal. Hätt ick wat bemerkt, hätt ick natürlich sofort anjerufen. Aber die kam nie mitm blauen Auge raus. Da jibt et janz andere bei uns im Block.«
»Und dann kam er irgendwann nicht mehr?«
»Ach, nee nee, der kam schon immer wieder, aber letzte Woche hat er jeklingelt und jeklopft, aber sie hat nich’ uffjemacht. Obwohl se da war, gloob ick.«
»Dafür kam ein anderer Mann?«
»Ja, wie jesagt, so ’n hübscher. Den hat se rinjelassen.«
»Und gab es da auch Streit?«
»Nicht, dass ick wüsste. Jehört hab ick nüscht. Aber ick sach mal so, die Doreen, die wirkte uff eenmal janz glücklich, so ausjeglichen, als würde ihr der richtig juttun.«
»Na, das klingt doch gut. Wann war der Mann das erste Mal da?«
»Hm, mal überlegen. Die waren im Urlaub, Doreen und die Kleene, ick hab se jedenfalls mit Koffern zur Bahn loofen sehen. Dit war vor zwei Monaten oder so. Und danach, ja, danach hat dit anjefangen.«
»Gleich darauf?«
»Ick führe ja keen Buch darüber, aber ja, da bin ick mir sicher.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
»Na ja, versuchen kann ick es.«
»Ich bringe Sie zu unserem technischen Experten, der wird mit Ihnen ein Phantombild erstellen, in Ordnung?«
»Jibt dit dafür eine Aufwandsentschädigung?«
»Sie mögen doch Emily und ihre Mutter, oder?«
»Is ja schon jut, Frau Kommissarin.«
Sie gingen hinaus, und Sandra brachte den Mann in die erste Etage, wo sich einer der Polizeibeamten auf die modernen Programme spezialisiert hatte. Klassische Phantombildzeichner gab es schon lange nicht mehr in jedem Revier. Im LKA in Tempelhof hatten sie wohl noch einen rumsitzen, aber so viel Zeit blieb ihr jetzt nicht.