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Wer ihn nicht kannte – was in Berlin wegen seiner Omnipräsenz auf den Titelseiten der Boulevardblätter unmöglich war –, hätte Said Abou-Qadig für einen respektablen Geschäftsmann halten können, vielleicht einen griechischen Reeder, einen Geschäftsführer einer Handelsfirma, einen weltgewandten Mann, der auf den Märkten im Nahen Osten seine Geschäfte betrieb und zwischendurch mit alten Emirs Tee trank. So wirkte er zumindest, dachte Adam bei sich, während sich der Clanboss in einem Sessel niederließ. Mit provozierender Langsamkeit, wie Adam fand. Ihnen lief die Zeit davon.

Der gebürtige Libanese war mittlerweile vierundsechzig Jahre alt, er trug das graue Haar nach hinten gekämmt. Sein taubengrauer Anzug war von erlesener Qualität, bestimmt maßgeschneidert in Paris oder Mailand. Sein Einstecktuch hatte dieselbe Farbe wie das Hemd, ein dunkles Blau mit leichtem Glanz. Die Schuhe waren aus schwarzem Leder und konnten durchaus handgenäht sein. In seinen tiefbraunen Augen lag eine Wärme, die Adam aber nicht täuschen konnte. Durch die Eskalation an der Tür hatte er Abou-Qadig überrascht – und Überraschungen waren etwas, was der Clanboss nicht mochte und um jeden Preis vermeiden wollte. Deshalb saßen sie sich jetzt auch so friedlich gegenüber. Dieser Mann hatte schon Hunderte eiskalte Entscheidungen getroffen, Entscheidungen über Leben und Tod, über die Schicksale von Menschen. Sein Vorstrafenregister war ellenlang, es hatte Dutzende Prozesse gegen ihn gegeben, seitdem er als junger Mann aus Beirut nach Deutschland gekommen war. Erst als er es bis nach ganz oben geschafft hatte, war es seine Bestrebung geworden, selbst nur noch saubere Geschäfte zu machen und die Drecksarbeit von seinen zahlreichen Handlangern erledigen zu lassen – die dann in den Knast wanderten, während er eine weiße Weste behielt.

Beim Reinkommen hatte Abou-Qadig Thilo und ihn durch den Wettladen geführt. Dahinter lagen die Büros, die durch eine mit Leder bespannte, schalldichte Tür von den privaten Gemächern des Clanbosses abgetrennt waren. Als sie diese durchschritten hatten, war es, als wären sie in einer anderen Welt.

Der Raum war eine orientalische Oase. Es gab Wandteppiche, einen plätschernden Zimmerspringbrunnen, und der Duft von Räucherstäbchen lag in der Luft. Weiche Polstersessel standen um einen flachen hölzernen Tisch herum, auf dem Teegläser und eine arabische Teekanne standen. Auf einem alten Schreibtisch vor dem vergitterten Fenster stand modernste Technik. Kein Zweifel, hier war Abou-Qadigs Kommandozentrale.

»Sie suchen Mike.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sein Deutsch war äußerst wohlklingend, da war nur ein ganz leichter Akzent, wie ein wunderbarer Singsang, der die gutturale arabische Sprache mit der harten deutschen vermischte. Adam spürte, wie er sich durch die Düfte in dem Raum entspannte, doch er durfte sich dem nicht hingeben, gerade jetzt nicht. Er war, wo er hinwollte, nun kam es darauf an. Doch ausgerechnet jetzt übernahm der Tranquilizer in seinem Körper die Oberhand. Er verspürte den Drang, sich ebenfalls in einen der großen Sessel zu setzen, aber diesem Verlangen durfte er auf keinen Fall nachgeben. Er warf einen schnellen Blick zu Thilo, der ihn aufmerksam musterte. Adam riss sich zusammen, räusperte sich.

»Wir suchen ihn nicht nur, wir fahnden nach ihm. Und zwar sehr dringend.«

Said Abou-Qadig stand auf und murmelte: »Ach, Entschuldigung, ich habe ja ganz vergessen, Ihnen Tee anzubieten.« Dann nahm er die Teekanne vom Stövchen, goss zwei kleine Gläser duftenden Pfefferminztee ein und stellte sie vor die Beamten.

Adam ballte die Hände zu Fäusten. Er wusste, dass Abou-Qadig ein Spiel mit ihnen spielte, sie hinhielt und er nichts dagegen tun konnte.

»Sie suchen ihn also sehr dringend«, wiederholte der Clanboss, als er wieder Platz genommen hatte. »Mein Sicherheitschef ist also wieder in Ihre Mühlen geraten, wenn Sie gleich nach ihm fahnden. Das kann ich mir ja gar nicht erklären. Wissen Sie, er ist ein respektabler Mann geworden, der sich in den letzten Jahren nach dem Gesetz Ihres Landes nichts mehr hat zuschulden kommen lassen. Wir haben alle unsere Vorgeschichte. Aber das muss ich Ihnen ja nicht erzählen, Herr Kommissar, Sie haben ja offenbar auch Probleme, Ihre Aggressionen zu kontrollieren.«

Adam meinte, ein leises Schnauben aus Thilos Richtung zu hören, aber er wandte sich nicht zu ihm um.

»Herr Abou-Qadig, ich glaube, Sie wollen Zeit schinden. Für Herrn Holler. Und ich frage mich, warum. Denn ich glaube, Sie wissen gar nicht, was hier vor sich geht – oder wissen Sie es doch?«

Adams Stimme war schneidend, doch der Clanboss ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Herr Kommissar, ich bitte Sie! Sie sind doch hier in meinen Privaträumen, Sie sind meine Gäste, da wollen wir uns doch nicht mit Feindseligkeiten aufhalten. Also, warum suchen Sie Mike? Klären Sie mich auf, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen.«

»Wissen Sie, wo er aktuell ist? Diese Information wäre uns schon genug.«

Said Abou-Qadig nahm die Hände aus dem Schoß, presste die Fingerspitzen fest aufeinander, dann ließ er sie schnell auseinandergleiten, als explodierte etwas.

»Sie haben ihn knapp verpasst. Er ist vor einer halben Stunde plötzlich von hier weggefahren, nachdem er den ganzen Tag bei mir war. Allerdings ist mir sein Ziel nicht bekannt.«

»Wenn Sie sagen, den ganzen Tag, ab wann genau war er bei Ihnen?«

»Nun, Mike ist ja hier nicht interniert. Er wohnt in seiner eigenen Wohnung, aber das wissen Sie sicher aus seiner Akte. Um neun Uhr haben wir uns zu unserer ersten Besprechung getroffen, es ging um den Ausbau unserer wirtschaftlichen Aktivitäten.«

»Darum ging es sicherlich«, entgegnete Adam. »Und passiert es oft, dass Herr Holler sich dann mit unbekanntem Ziel verabschiedet?«

»Nun, ehrlich gesagt, erschien mir sein Aufbruch auch sehr überstürzt«, sagte Abou-Qadig, die Hände wieder im Schoß gefaltet, den Kopf schief gelegt. »Deshalb frage ich Sie ja, was geschehen ist. Ich bin natürlich auch in Sorge um meinen geschätzten Mitarbeiter.«

Adam fühlte, dass es an der Zeit war.

»Wir gehen davon aus, dass Herr Holler seine Tochter, Emily Matysek, entführt hat. Das Kind wurde am Morgen gekidnappt.«

Er war sich sicher, dass Abou-Qadig ein herausragender Schauspieler war, das musste er sein in seinem Metier, sonst wäre er in diesem Alter nicht mehr am Leben. Aber das unwillkürliche Zusammenzucken, die weit aufgerissenen Augen, die Spannung in der Brustregion, die seine Krawatte anhob, die Unruhe, die den Mann überkam – all das machte den Anschein, als wäre Abou-Qadig tatsächlich zutiefst überrascht. Er beugte sich ein Stück nach vorn und sah Adam prüfend an.

»Sie sagen mir doch die Wahrheit, oder, Herr Kommissar? Sie würden doch kein Schindluder treiben mit einem Kind, richtig? Schindluder, das sagt man doch so?«

»Ich garantiere Ihnen, dass ich kein Schindluder mit einem Kind treiben würde, Herr Abou-Qadig. Also, was wissen Sie darüber?«

»Bei Ihrem Gott und bei meinem, bei Allah, ich weiß nichts darüber! Es ist eine furchtbare Nachricht, die mich sehr bestürzt. Ich bin ehrlich zu Ihnen: Ich habe das Mädchen nie persönlich getroffen und kenne sie nur aus Erzählungen von Mike und von den vielen Fotos, die er mir gezeigt hat. Wissen Sie, er ist ein sehr stolzer Vater. Auch wenn die Verbindung zur Mutter, nun ja … mehr als unglücklich verlaufen ist. Deshalb kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass er der Kleinen ein Haar krümmt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er ist …«

»Wissen Sie, wohin er aufgebrochen ist? Wir müssen ihn selbst befragen.«

»Wie gesagt, ich habe keine Ahnung. So trinken Sie doch Ihren Tee, bitte.« Die beiden rührten sich nicht. »Wissen Sie, wir waren in der zweiten Besprechung, wir saßen hier an meinem Schreibtisch. Mike sah auf sein Handy, dann stand er auf und sagte, er müsse weg. Ich habe nicht nachgefragt, aber er wirkte etwas beunruhigt, deshalb dachte ich mir, dass es wichtig sein muss.«

»Ihr Mitarbeiter steht auf und geht, und Sie fragen ihn nicht, wohin?« Aus Thilos Stimme klang Unverständnis, als er sich zu Wort meldete.

Doch der Libanese würdigte ihn keines Blickes, als er fortfuhr: »Wann wurde das Mädchen denn entführt?«

»Heute Morgen, weit vor neun Uhr. Sie verstehen, dass das nicht gut aussieht für Ihren Mitarbeiter.«

»Ich kann Ihnen nur anbieten, dass ich Mike gleich anrufe und mit ihm rede.«

Er holte sein Handy aus der Tasche, doch Adam schüttelte den Kopf. »Stecken Sie es weg, Herr Abou-Qadig, ich bitte Sie. Ich möchte nicht ungemütlich werden müssen, nicht hier, in Ihrem Haus.«

Der Libanese ließ das iPhone wieder in seiner Hosentasche verschwinden.

»Was ist das denn für eine schwierige Beziehung zwischen Mike Holler und der Mutter der Kleinen, von der Sie sprachen?«

»Ach, aber bitte, ich mische mich doch nicht in das Privatleben meiner Leute ein. Sagen wir es so: Es war schon immer schwierig, und Mike hat sich aus der Vaterrolle, wie wir Sie kennen, Herr Kommissar, sehr früh herausgezogen. Aber offenbar hing er sehr an der Frau – und an seiner Tochter. Er wollte sich wieder annähern, aber in den letzten Monaten … nun ja, die Frau schien nicht mehr interessiert, wenn ich Mikes Worte richtig deute.«

»Und das fand Herr Holler nicht so gut, und wenn Herr Holler etwas nicht gut findet, dann ist die Kacke am Dampfen, ist es nicht so?« Wieder Thilo.

»Aber das würde er doch nicht mit seiner Tochter austragen.«

»Hatte Herr Holler Geldsorgen?«

»Warum fragen Sie das?«

»War es so?«

»Nicht, dass ich wüsste. Er hätte mich fragen können.«

»Hätten Sie ihm Geld gegeben?«

Abou-Qadig zuckte die Achseln. »Ich bin ja nicht die Bank.«

Etwas an der Art, wie der Clanboss das sagte, ließ Adam aufhorchen. »Haben Sie Geldsorgen, Herr Abou-Qadig?«

Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht des Libanesen.

»Ich bitte Sie, Herr Kommissar. Sagen Sie, was Sie damit andeuten wollen.«

»In dem Moment, in dem Mike Holler seine Tochter entführt, überfällt die Mutter von Emily eine Sparkasse. Klingelt da was bei Ihnen?«

Unter der sonnengebräunten Haut des Libanesen zeigte sich eine leichte Blässe, seine Finger krallten sich in die Sessellehnen, und er lehnte sich ruckartig vor.

»Ist das Ihr Ernst?«

Adam nickte.

»Ach du Scheiße!« Abou-Qadig hustete und winkte ab. »Verzeihen Sie meine Wortwahl.«

»Wäre es nicht durchaus denkbar, dass Herr Holler seine Tochter entführt hat, um seine Ex-Freundin zu diesem Überfall zu zwingen?«

»Ich bin … ich bin wirklich sprachlos …«

»Und das passiert Ihnen nicht oft, ich weiß. Also, ein letztes Mal: Wo ist Mike Holler?«

»Verdammt, Herr Kommissar, ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass er auf der Müllerstraße Richtung Norden abgebogen ist.«

»Und das haben Sie gesehen?«

Abou-Qadig nickte. Adam schwieg einen Moment.

»Wie konnten Sie das denn sehen? Das Fenster ihres Arbeitszimmers geht zum Hof.«

»Dann …« Der Libanese wand sich. »… dann hat mir das einer meiner Jungs erzählt, der ihn gesehen hat. Ich habe das gerade durcheinandergebracht.«

»Haben Sie das Auto nun um die Ecke biegen sehen?«

»Nein, ich war ja …«

»Said«, sagte Adam mit betont ruhiger Stimme, obwohl es ihm schwerfiel. Er hatte das Gefühl, gleich zu explodieren. »Sie wollen doch nicht mit jemandem zusammenarbeiten, der seine Tochter entführt, aus welchem Grund auch immer. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Sie ein skrupelloser Scheißkerl sind, aber Sie haben einen, wie auch immer gearteten, Ehrbegriff. So jemand, der sein Kind in Gefahr bringt, hat doch bei Ihnen nichts verloren. Also, reden Sie! Sie standen draußen und haben ihn wegfahren sehen. Wo ist er hingefahren? Nach Hause?«

Abou-Qadig stand ruckartig aus dem Sessel auf und ging an das Fenster zum Hof, sein Gesicht von den Polizisten abgewandt. Für einen Augenblick waren da nur das Plätschern des Springbrunnens und sein lautes Atmen, ansonsten war es ganz still im Raum.

»Er hat eine Datsche. Was für ein merkwürdiges Wort das ist. Na ja, er hat jedenfalls eine Datsche. Oben in Waidmannslust. Die Anlage heißt Frohsinn II. Wittenauer Straße. Dort ist er hin. Sein Bungalow liegt abgelegen am Wald.«

»Frohsinn. Wie passend.«

»Aber halten Sie mich da raus, ja? Ich rede nicht mit der Polizei.«

»Das wissen wir, Herr Abou-Qadig.« Sofort kam Bewegung in die beiden Beamten. »Was für ein Auto fährt Mike Holler?«, fragte Adam im Gehen.

»Einen Jeep Cherokee. Das Kennzeichen sind seine Initialen und sein Geburtsjahr.«

»Shukran«, sagte Adam, dann gingen sie hinaus. Im Wettladen standen die Gorillas unschlüssig herum. Als die Polizisten an ihnen vorbeiliefen, stellten sie sich ihnen in den Weg.

»Lasst uns durch, wir haben es eilig«, sagte Thilo laut, der es auf keine neue Eskalation ankommen lassen wollte.

»Wir wollen mit dir reden, Scheißbulle«, sagte der Hüne, der sich inzwischen wieder auf den Beinen halten konnte. Wahrscheinlich hatte er sich eine ordentliche Ladung Schmerzmittel eingeworfen. Ein Taschentuch steckte in der gebrochenen Nase, sein Gesicht sah aus, als wäre er in einen Pitbull-Zwinger gelaufen.

»Willst du reden oder noch eine auf die Zehn?«, fragte Adam.

Er spürte Thilo neben sich, die Hand an der Waffe.

»Ich finde dich«, sagte der Hüne leise, »und dann fick ich dich, bis du keinen Mucks mehr von dir gibst, du Bullenschwein.« Die Worte hallten noch in seinen Ohren nach, als er mit Thilo aus der Tür trat und sie zu ihrem Wagen hasteten.