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»Sie kennen ihren Namen?« Die Frau im Kostüm schreckte hoch und sah Linh mit einer Mischung aus Wut und Erstaunen an.

»Ich kenne auch Ihren Namen, Frau Kukrowski. Allerdings schon länger und wegen einer anderen Sache. Und jetzt wäre es schön, wenn Sie mal für einen Moment den Rand halten könnten.«

Gebannt verfolgte Doreen Matysek den Schlagabtausch und war selbst unfähig zu sprechen. Wer war diese junge Polizistin, die in dem ganzen Chaos so ruhig blieb?

Sie blickte auf die Pistole, die neben ihr auf dem Kassentresen lag, und dachte: Was zur Hölle mache ich hier? Wie bin ich hier nur reingeraten?

Sie sah Emily vor sich. Ihr liebes, zartes Gesicht. Ihr Schatz. O Gott, hoffentlich ging es ihr gut, ihrer Kleinen. Noch vor ein paar Stunden hatte sie ihr Frühstück gemacht, und jetzt wusste Doreen nicht, wo sie steckte. Emily hatte eine kleine Schale mit Chocos von LIDL gegessen, die fast so schmeckten wie die von Kellogg’s, was aber eigentlich auch egal war, weil Emily die von Kellogg’s noch nie gegessen hatte, bis auf das eine Mal in dem Hotel auf Mallorca. Sie hatte mit Emily die selbst gemalten Bilder angeguckt, die im Bastelbeutel der Kita gesteckt hatten. Die Bilder waren vom Vortag. Emily hatte auf ihr Krickelkrakel gezeigt und gesagt: Prinfessin. Sie konnte das Z noch nicht sprechen. Doreen hatte so lachen müssen. Alles schien perfekt.

Zwei Stunden später war alles aus den Fugen geraten. Und nun stand sie hier – und ihre Zukunft sah alles andere als rosig aus.

Wer war diese schwarzhaarige Frau in dem weißen Tanktop, deren braune Augen so freundlich waren? Sie war ein Bulle, ohne Frage, allein deshalb sollte sie ihr nicht vertrauen – obwohl: Wem konnte sie überhaupt vertrauen?

Die Polizistin hatte ihr den Blick wieder zugewandt und fragte ganz ruhig: »Meinen Sie nicht, wir sollten mal reden, Frau Matysek? Ich glaube, Sie stecken in einer ganz schönen Zwickmühle. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.«

Seit ihrer Jugend hatte sie gelernt: Lass dich nie, niemals mit der Polizei ein, niemals mit dem Staat. Es kam nie etwas Gutes dabei raus. Nicht in dem Viertel, in dem sie aufgewachsen war. Nicht in der Zeit, als sie selbst kleinere krumme Dinge gedreht hatte. Nicht in der Welt, in der Mike lebte und in die er sie ein Stück weit mitgenommen hatte, als sie jung und verliebt war. Damals war sie allzu blind gewesen vor Glück.

Der Polizei war nie zu trauen. Aber jetzt strebte alles in ihr zu dieser Frau, alles in ihr wollte unbedingt mit ihr sprechen, sich erleichtern, Emily wohlbehalten wiedersehen.

»Ich …« Sie blickte auf die Pistole neben sich, stockte.

»Hören Sie, ich weiß, Sie sind heute irgendwann falsch abgebogen, und jetzt stecken Sie hier in dieser Scheiße fest. Aber was ich unbedingt vermeiden will, ist, dass hier gleich ein paar bewaffnete Männer reinstürmen und Sie erschießen. Dann sehen Sie Emily nämlich auch nicht wieder. Und ich sage Ihnen, die werden hier reinstürmen. Wir haben nur einen kleinen Aufschub bekommen, aber viel Zeit bleibt uns nicht.«

Doreen konnte nicht mehr. Als sie den Namen ihrer Tochter aus dem Mund der Frau hörte, konnte sie den Aufruhr in ihrem Inneren nicht mehr in Schach halten. »Was wissen Sie über Emily?«, fragte sie flehend.

»Ich erzähle es Ihnen, ich schwöre es, ich erzähle Ihnen alles und werde Sie nicht verarschen. Aber, bitte, Sie müssen mir auch alles erzählen.«

Doreen nickte. »Kommen Sie hierher. Aber ich behalte die Pistole.«

»Okay«, sagte Linh und trat langsam und ohne sie aus dem Blick zu lassen, hinter den Kassentresen.

 

Es war merkwürdig, wie schnell sich ein Ort vertraut anfühlen konnte. Sie war erst eine halbe Stunde hier drinnen, in diesem Raum mit den weißen Deckenquadraten wie in der Polizeischule, mit dem Werbeplakat an der Wand, das mit dem Versprechen Das erste Auto für Marie? Wir haben den Kredit für jedermann! lockte. Das Bild wurde nur von den Scherben gestört, die auf dem Boden lagen, die Glaswand vom Büro des Filialleiters stand nur noch zur Hälfte. Es roch nach Papier und Druckertinte, es roch nach altem Kaffee, ja, da stand auch die Tasse neben dem Computer, sicher noch der erste Morgenkaffee von Tina Kaminske. Es war heiß, beinahe unerträglich, aber anders als die schwitzenden Geiseln konnte sie die Hitze ausblenden.

Schon nach dieser halben Stunde hatte sie ein Gefühl für diesen Raum entwickelt, das es ihr ermöglichte, die Umgebung klarer wahrzunehmen, sich nicht mehr fremd zu fühlen, die Menschen um sich herum zu beobachten, die kleinsten Regungen zu erkennen. Das hatte sie von Adam gelernt.

Unglaublich, dass sie der Zufall damals zusammengeführt hatte. Und heute schon wieder. So viel Zufall, dass es nur Schicksal sein konnte.

Sie hatte sich vorhin Doreen Matyseks Akte von Adam auf ihr Telefon schicken lassen und sie schnell überflogen. Es gab einige kleine Vorstrafen vor mehr als fünf Jahren, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, einen Diebstahl. Nichts, was im Wedding außergewöhnlich gewesen wäre. Sie musterte die Frau mit der Maske: ein Meter siebzig, sportlich, die langen Haare, die sie auf dem Foto in der Akte gesehen hatte, blieben unter der Maske verborgen.

»Wollen wir hier reden?«, fragte Linh sie. Doreen Matysek nickte.

»Haben Sie hier im Ort Pakete ausgeliefert? Ist das Ihre Route? Haben Sie sich deshalb für diese Sparkasse entschieden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, dass ich hierherkommen soll.«

»Wer? Mike Holler?«

Doreen nickte.

»Früher war das mal meine Route, nein, nicht früher, früher klingt so lange her. Bis vor ein paar Wochen war das meine Route. Ich hab den Ort hier sehr gemocht, es ist so … na ja, ein echtes Dorf eben, ganz anders als dort, wo ich wohne. Die Leute hier bestellen nicht jeden Quatsch bei Amazon. In Berlin hab ich immer Weinflaschen ausgeliefert, mich halb tot geschleppt … Wer bestellt denn kistenweise Wein im Internet, können Sie mir das sagen? Oder Steine – Steinplatten für den Balkon, na, denken denn die Leute nicht nach? Das gibt es hier jedenfalls nicht. Aber wir sind ja nur Leiharbeiter, wir machen, was die Zentrale sagt. Und die Zentrale hat mich vor sechs Wochen auf eine andere Route gesetzt, jetzt fahre ich in Oranienburg rum. Da hatte ich neulich auch Weinflaschen auf der Sackkarre.«

Dass Doreen Matysek so ins Reden geriet, überraschte Linh, aber insgeheim freute es sie auch. Die Frau entspannte sich, und das war wichtig. Es ging um Vertrauen, nur um Vertrauen. Irgendwann würde sie dann Fehler machen, und dann – dann konnte Linh ihr wirklich helfen.

»Und was ist heute passiert? Warum der Überfall?«

Es war, als bräche etwas in ihr, sie senkte den Kopf, und ihre Stimme wurde zittrig. Es war fast kurios, aber es war Linh schon oft passiert: Da steht jemand mit einer Waffe, einem tödlichen Werkzeug, und ist der Herr der Situation, und zugleich ist er nichts, ein Kiesel im Ozean.

»Er hat mich gezwungen, er hat … er hat sie wirklich geholt.«

Weinte sie? Linh konnte es nicht sehen, die Maske verbarg zu viel von ihrem Gesicht. Aber Linh war, als schluckte Doreen Matysek schwer. Gewundert hätte es sie nicht. »Er ist ein brutaler Kerl, er hat mit mir … Ich dachte immer, Emily wäre tabu. Er liebt sie, das glaube ich wirklich, aber heute war das nicht mehr wichtig, heute hat er diese letzte große Grenze überschritten. Er … er hat mich angerufen, ich war schon auf dem Weg zur ersten Tour und wollte gerade auf die Autobahn Richtung Oranienburg fahren, da klingelte mein Telefon.« Nun schluchzte sie, und Linh hätte ihr in diesem Moment ohne Probleme die Pistole entreißen und sie niederringen können, aber sie wollte es nun richtig zu Ende bringen, sie wollte dieser Frau wirklich helfen, und sie wollte keinen Querschläger, keine verletzte Geisel riskieren.

 

»Er will Geld«, sagte Doreen leise, als sie sich endlich beruhigt hatte. Es war gut, dass all die Tränen jetzt rauskamen, es waren die Tränen, mit denen sie Mike aus ihrem Leben verabschiedete und der Angst um ihre Tochter Luft machte. Sie hatte ihn wirklich geliebt, sehr sogar, aber die letzten Monate waren einfach zu schrecklich gewesen. Dass es nun so enden musste …

»Was genau hat er am Telefon gesagt?«, wollte die Polizistin wissen. Sie war beinahe unmerklich näher gekommen, und Doreen griff reflexartig zu der Pistole. Sie wusste, dass die Frau im Nahkampf ausgebildet war, aber hey, sie kam aus dem Wedding, sie hatte schon einige Kämpfe gesehen und würde sich wehren – und schließlich ging es um ihre Tochter. Sie würde nicht klein beigeben, nur weil es jetzt etwas gefühlig wurde.

»Er hat so fies gesprochen, ich krieg immer noch echt Gänsehaut. Ich hab Emily geholt, hat er gesagt, sie freut sich so, bei mir zu sein. Ich hab die Schnauze voll von Said und der ganzen Bagage, deshalb hau ich ab. Emily nehme ich mit.« Sie schluckte wieder. »Sie wissen bestimmt, wer Said ist. Dieser Clanboss? Mike arbeitet schon lange für ihn. Sie sind wie Brüder. Aber Said ist natürlich immer der Chef. Mike weiß das, und es war ihm nie genug. Und er hat große Schulden bei Said. Die wollte er zurückzahlen – dann wäre er frei. Und weil er es selbst nicht gebacken gekriegt hat, muss ich es jetzt ausbaden. Jedenfalls hat er gesagt, ich könne mir Emily abschminken. Er würde mit ihr abhauen, nach Spanien, da habe er ein kleines Haus in Aussicht. Aber er könne es sich ja noch mal überlegen, doch erst brauche er die Kohle.«

»Und Sie sollten diese Kohle besorgen.«

Sie nickte nachdrücklich, sodass einige blonde Strähnen unter der Maske hervorrutschten. »Ich hab keine Ahnung, woher er wusste, dass es ausgerechnet hier was zu holen gibt. Aber er hat gesagt: Überfall die Bank in Flecken, da ist heute viel Geld zu holen. Er weiß, dass ich immer ’ne Knarre im Auto habe.«

»Warum haben Sie eine Pistole im Wagen? Ist das wirklich Ihre?«

»In welcher Traumwelt leben Sie? Die Knarre ist für den Notfall, Mike hat sie mir besorgt. Wissen Sie, wie oft ich schon blöd angemacht wurde beim Ausliefern? Es gibt auch Leute, die wollen dich beklauen, die gucken, wie viele iPhones und LCD -Fernseher du geladen hast. Da ist es gut, wenn so ein Mädchen wie ich ein Argument hat, um die Typen rennen zu sehen.«

Linh nickte. »Aber ein Bankraub? Das ist doch Wahnsinn, haben Sie das nicht gedacht?«

»Die Bullen kommen da nie schnell genug hin, hat Mike gesagt. Das ist am Arsch der Welt, rein, raus, und du bist weg.«

»Tja, aber dann kamen wir.«

»Ich glaube«, sagte sie und sah zu den verbliebenen Geiseln, »das ist mein Glück. Was soll ich denn jetzt machen? Ich will Emily wiedersehen, aber ohne das Geld …« Sie fühlte sich auf einmal unendlich erschöpft.

»Hat er gedroht, Emily etwas anzutun?«

 

»Ich glaube, das könnte er nicht. Aber was ist, wenn ich Emily trotzdem nicht wiedersehe. Wenn er sie einfach mitnimmt …«, sagte sie mit erstickter Stimme, und Linh musste an Caro denken. Ihr vietnamesisches Frühstück, nur zwei Kilometer entfernt von dem Ort, an dem Doreen das Frühstück für Emily zubereitet hatte.

»Das wird er nicht«, sagte Linh mit fester Stimme. Sie durfte die Frau jetzt nicht verlieren. Verzweifelte Menschen waren zu allem fähig. »Hören Sie, Doreen, Sie müssen mir jetzt die Pistole geben. Dann dürfen die Geiseln raus, und wir beide gehen hinterher. Und dann wird sich alles aufklären, und Sie können Emily schon heute Abend wieder in die Arme schließen.«

»Nein, Sie kennen Mike nicht! Wenn der eine Idee hat, dann lässt der nicht davon ab. Ich weiß das, glauben Sie mir. Ich weiß, wie er tickt … o Gott!« Schluchzend presste sie die Hände auf das Gesicht und weinte, als könnte sie erst jetzt ermessen, was an diesem Tag alles geschehen war.

»Passen Sie auf, Doreen«, unterbrach Linh den Tränenstrom, ihre Stimme jetzt kühl, offiziell, keine Widerrede duldend. »Mein Mann ist Kommissar in Berlin. Er hat mich überhaupt erst auf Ihre Spur gebracht, weil er in dem Entführungsfall ermittelt. Sie müssen mir glauben, Adam – so heißt mein Mann –, Adam ist der Beste. Er ist gerade auf der Suche nach Mike und Emily – und er wird die beiden finden. Er wird sie finden, und dann bekommen Sie Ihre Tochter zurück. Und deshalb will ich nicht, dass hier gleich ein Unglück passiert und das SEK reinkommt und Emily sie im Gefängnis besuchen muss. Oder auf dem Friedhof. Sie müssen das beenden, Doreen. Jetzt!«

»Er weiß das schon alles, Ihr Mann? Das mit Mike? Aber was ist denn, wenn er ihn findet, und es kommt zu einer Schießerei, und Emily …«

Linh musste den neuerlichen Weinkrampf unterbrechen. »Das wird nicht passieren. Nicht, wenn ein Kind involviert ist«, sagte sie und hoffte zugleich, dass sie recht behielt.

»Was ist denn mit dem Geld in der Tasche?«, fragte Doreen und hob hoffnungsvoll den Kopf, als wäre ihr gerade eine Idee gekommen. »Ich muss nur irgendwie hier raus und Mike das Geld bringen, dann wird alles gut.«

Linh schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dafür ist es zu spät. Wie soll das gehen? Ich hatte alles vorbereitet, das Geld und meinen Wagen. Aber nun hat das SEK die Gegend abgeriegelt.« Sie überlegte. »Hat Mike Ihnen eine Summe genannt? Wie viel Geld will er?«

»Er hat keine Zahl genannt. Er hat nur gesagt: Hol das Geld!«

»Und wie sollte die Übergabe stattfinden?«

»Er hat gesagt, dass ich ihm schreiben soll, wenn alles glattgegangen ist. Aber jetzt … jetzt ist es schiefgegangen. Er wird mit Emily … und ich muss … aber ich gehe nicht ins Gefängnis, ich …« Sie machte eine schnelle Bewegung, und Linh hatte nur zwei Möglichkeiten: sich auf den Boden zu werfen und sich selbst zu schützen – oder sich auf die Geiselnehmerin zu stürzen.