»Zentrale für Kollwitz 7. Zentrale, bitte kommen.«
»Kollwitz 7, Zentrale hört.«
»Kindesentführung, Fall Emily. Wir konnten einen Verdächtigen ausmachen. Mike Holler, unterwegs in einem Jeep Cherokee, B Trennung MH 1979. Wir brauchen eine Ringfahndung um die Kleingartenanlage Frohsinn II in Waidmannslust. Umkreis zwanzig Kilometer. Er hat das Kind wahrscheinlich bei sich. Wir brauchen Straßensperren auf den Bundesstraßen und der Avus sowie einen Helikopter über der Anlage. Und zwei Teams am Hauptbahnhof und am Gesundbrunnen.«
»Holler ist wahrscheinlich bewaffnet. Checkt die Straßenkameras auf der B96, ich will wissen, ob er vor einer halben Stunde dort langgekommen ist.«
»Ring, zwanzig, in Waidmannslust, verstanden.«
»Die Kleingartenanlage machen wir selbst.«
»Verstanden. Freigabe vom Polizeipräsidenten?«
»Hol ich mir später.«
»Alles klar, Kollwitz 7, dann schick ich mal die Kavallerie. Viel Glück euch, holt die Kleine zurück.«
»Danke, Kollege.«
Adam holte sein Handy hervor und rief Sandra Pitoli an. Sie brachte ihn kurz auf den neuesten Stand: Die Befragung des Nachbarn von Doreen Matysek hatte nicht viel ergeben. Anscheinend war neben Mike Holler noch ein anderer Mann des Öfteren bei Doreen zu Besuch gewesen. Sie hatten ein Phantombild, aber noch keine Idee, wer der Fremde war. »Danke, Sandra! Komm zur Kleingartenkolonie Frohsinn II in Waidmannslust, wir treffen uns dort«, sagte Adam, bevor er auflegte.
Das Krähen der Sirene ließ die Autos vor ihnen ausweichen wie scheue Hasen, sie flogen die Müllerstraße entlang gen Norden. Am Kurt-Schumacher-Platz war der Himmel leer, früher war hier alle vier Minuten ein Flugzeug dicht über den Platz geflogen. Irgendwie vermisste Adam den Flughafen Tegel, aber so ging es vielen Berlinern, selbst einigen von denen, die hier oben wohnten.
»Weg da, fahr doch weg«, grummelte Thilo und fuchtelte wild mit dem Arm aus dem Fenster, als ein weißer Lieferwagen allzu langsam Platz machte. »Und jetzt auch noch die scheiß Ampel, ey, ich hasse Berlin!«
Er konnte es nicht abwarten, endlich da zu sein, endlich am Ziel, er spürte, dass die Lösung so nah war. Aber was ihm eigentlich Sorgen bereitete, war das Problem auf dem Beifahrersitz. Als sie an der alten Kaserne der französischen Alliierten vorbeirasten, hatte er sich die Worte endlich zurechtgelegt. Er hielt den Blick auf die Straße gerichtet und sagte sanft: »Ey, Chef.« Er hasste diese Form der Ansprache, er nannte ihn nicht gern so. Sandra machte das immer, und er fand es speichelleckerisch. Aber diesmal war es wichtig.
»Hm …« Adam sah aus dem Fenster.
»Wenn das Mädchen bei Mike Holler ist, dann … dann wäre es, glaube ich, gut, wenn wir uns alle am Riemen reißen. Verstehen Sie?«
»Hm …« Adam sah ihn immer noch nicht an, und Thilo wusste überhaupt nicht, in welcher Welt der Kommissar gerade war. Was für ein beschissen peinlicher Moment, für sie beide.
»Ich meine hauptsächlich Sie, Chef. Es wäre gut, wenn Sie nicht ausrasten würden wie vorhin. Ich …«
Adam wandte den Kopf und sah ihn scharf von der Seite an.
»Ich habe Sie verstanden, Kupferschmidt.«
»Kollwitz 7 für Abschnitt 15? Kommen.«
»Kollwitz 7 hört.«
»Adam, wir haben den stellvertretenden Vorsitzenden der Kleingartenanlage erreicht. Er hat im Plan nachgeguckt. Mike Holler hat die Laube Nummer 34.«
»Okay. Habt ihr ihn zu Stillschweigen verdonnert?«
»Ja. Er ist auf Arbeit – und er mag den Holler gar nicht, so klang es jedenfalls am Telefon.«
»Gut gemacht, danke.«
»Haut rein, Jungs.«
Sie bogen rechts in die Wittenauer Straße ein. »Blaulicht runter«, sagte Adam, und Thilo öffnete das Fenster, holte die Rundumleuchte in den Wagen und schaltete die Sirene aus.
In der Ferne hörte er den Hubschrauber. Die Kavallerie kam.
Adam hoffte, dass sie Mike nicht zu früh aufschreckten.
»Ich halte hier«, sagte Thilo, »da vorne ist schon der Eingang. Ganz hübsches Fleckchen.« Ein Schild mit einer Sonnenblume wies die Anlage als Kleingartenverein Frohsinn II e. V. aus.
»Können wir uns jetzt konzentrieren?«, fauchte Adam. Die Anspannung hatte ihn wieder erfasst, er spürte jeden Muskel, die Pistole zog schwer an seinem Gürtel, das Funkgerät, das er nachlässig in seinen Schoß gelegt hatte, plärrte die ganze Zeit, und Adam schwitzte.
Hinter ihnen kam der Wagen von Sandra Pitoli zum Stehen. Dann konnte es ja losgehen.
Sie gingen durch den Haupteingang, dort hing glücklicherweise ein Wegweiser mit den Bungalownummern. Das Grundstück mit der Nummer 34 war tatsächlich ganz hinten am Wald. Vor den Datschen standen die Wagen der Besitzer, wie das in Berlin so üblich war. Bierkästen und Holzkohle sollte man zur Wochenendlaube schon fahren können.
»Wir teilen uns auf. Sandra, du gehst links, nimmst den Weg um die Anlage herum. Thilo, du gehst durch die Gärten, ich will dich von Süden an der Datsche haben. Ich nehme den Weg.«
»Alles klar, Chef.«
»Keine Schussabgabe. Ich will das Mädchen, unverletzt!«
Er sah Emily vor sich, wie sie auf dem Gruppenfoto der Kita mit großen Augen in die Kamera blickte. Mehr noch musste er aber an das von ihr gemalte Bild denken, das Zebra, unter dem in krakeligen Buchstaben ihr Name gestanden hatte.
Er bewegte sich vorwärts, ganz normal, als wäre er ein Besucher oder ein Interessent, ja, er gab sich den Anschein, die Anlage mal anzuschauen, vielleicht wäre ja was frei. Natürlich war nichts frei, ein Kleingarten in Berlin war Gold wert, seitdem sich alle jungen Familien aus dem Prenzlauer Berg oder aus Pankow dazu entschieden hatten, selbst Gurken oder seltene Bohnensorten anzubauen. In der Hauptstadt wurden die alten Leute nicht nur aus den Wohnungen herausgedrängt, sondern nun auch noch aus ihren Datschen.
Rechts und links sah er gepflegte Gärten, der Rasen frisch gemäht, die Beete in hervorragendem Zustand. So stand es ja auch in den Satzungen dieser Anlagen: Es müssen immer Nutzgärten sein, Rasenlänge so und so viele Zentimeter, Hecke höchstens achtzig Zentimeter hoch. Deshalb war ein Kleingarten für Linh und ihn auch immer ein Graus gewesen. Wer will denn schon am freien Wochenende Gemüse züchten müssen – außerdem liebten sie wilde Gärten einfach zu sehr. Hier stand auf jedem der ordentlich umzäunten Grundstücke ein kleines Häuschen, manchmal saßen Leute davor, auf Stühlen oder in einem Strandkorb. Eine Frau winkte ihm freundlich zu, ein Mann sah ihm misstrauisch nach.
Die kleine Straße machte eine Kurve und war nicht bis zum Ende einsehbar. Er ging langsam weiter, blickte scheinbar arglos nach links und rechts, doch sein Blick scannte alles. Der Hubschrauber kam näher, das Flappen der Rotoren war schon deutlich zu hören. Gleich würde er über die Dächer der Datschen fliegen.
Sonst keine Sirenen zu hören. Die Kollegen hielten sich an die Einsatztaktik.
Die Datsche zu seiner Rechten trug die Nummer 26. Weit konnte es nicht mehr sein.
Als er um die letzte Ecke bog, sah er ihn. Den Jeep. Schwarz mit silbernem Kühlergrill, und er hatte tatsächlich einen riesigen Adler-Aufkleber auf der Motorhaube. Adam blieb stehen, als er sah, wie Mike Holler aus seiner Hütte kam und hektisch einstieg.
Der Mann blickte nach vorne und erstarrte. Egal, wie Adam sich gab, wie er aussah, er war ein Bulle, er sah aus wie ein Bulle, er würde immer wie ein Bulle aussehen. Und dieser Mike Holler, der konnte Bullen riechen.
Adam ging vorwärts, der Mann hielt den Blick auf ihn gerichtet, dann drehte er den Schlüssel im Schloss und zündete den Wagen.
Wo war das Mädchen, verdammt? Adam konnte sie nirgends entdecken.
Er drückte auf den Knopf am Funkgerät. »Verdächtiger steigt ins Auto, los, kommt her, direkter Weg.«
»Ja, verstanden, Chef!«, sagte Sandra, und er hörte ihren lauten Atem, sie hielt wohl den Knopf vor Anspannung immer noch fest.
Er ging schneller, geradewegs auf das Auto zu. Die Datsche stand tatsächlich ziemlich abgelegen. War das Mädchen da drin?
Der Motor des Jeeps bockte, einmal, zweimal, er sah die großen Augen von Mike Holler. Dann sprang der Wagen an, heulte gleichsam auf. Holler musste schon auf dem Gaspedal gestanden haben, er legte den Gang ein und raste los, gerade als Thilo aus dem Gebüsch sprang, nur eine Sekunde zu spät. Thilo zog seine Waffe, Adam schrie: »Nein!«, er winkte mit den Armen, doch zu spät, da fiel bereits der Schuss. Ohrenbetäubend war das, ein Knall, der die Vögel ringsum wild aufflattern ließ.
Die Kugel war in die Tür des Wagens eingeschlagen, hatte aber Mike Holler nicht getroffen, so schien es zumindest, denn der raste weiter Richtung Ausfahrt, aber hier stand Adam, und er entschied, stehen zu bleiben. Er zog seine Waffe nicht, sondern blieb einfach stehen, der Wagen näherte sich, hundert Meter, siebzig, fünfzig … Jetzt konnte er dem Mann direkt in die Augen blicken, er löste den Blick nicht, er wich nicht aus, er zitterte nicht mehr, während der Jeep erbarmungslos auf ihn zuraste. In seinem Kopf nur ein Gedanke: »Wo, verdammt, war die Kleine, wo war Emily?«