Der Schuss blieb aus. Stattdessen riss sich die Geiselnehmerin mit einem Ruck die Maske vom Kopf, und dann stand sie da, strich sich die Haare zurück, ihr Gesicht verschwitzt und gerötet, fleckig vor Aufregung. Doreen Matysek, eine schlanke, schöne Frau, die helle Haut und Sommersprossen hatte. Kleine Lachfalten umrahmten die Augen, aber in diesem Moment fiel Linh vor allem ihr sehr trauriger, wenngleich auch kämpferischer Blick auf.
»Sie müssen mir helfen, damit ich hier rauskann und trotzdem das Geld bekomme. Ich will nicht ins Gefängnis. Ich will meine Tochter zurück!«
»Sie?« Bevor Linh etwas erwidern konnte, war Janine Kukrowski aufgestanden. Es war, als wäre mit der Maske der Geiselnehmerin auch alle Zurückhaltung abgefallen, alle Vorsicht. »Sie haben uns doch früher die Pakete gebracht. Herr Jatznik, Sie kennen sie doch auch, oder?«
Benny, der noch immer am Boden saß, nickte, starrte die Frau an. Der Mund stand ihm offen.
»Sie beide haben sich doch so gut verstanden«, sagte die Bürgermeisterin laut, »und ich hab Ihnen einmal sogar Trinkgeld gegeben – und dann, dann nehmen Sie uns alle als Geiseln?«
»Sie haben mir zwei Euro gegeben«, schnauzte Doreen Matysek die Frau an, »und jetzt soll ich Ihnen danken, als hätten Sie mir den Arsch vergoldet?«
»Ich …«
»Gut, können wir das auf später verschieben?«, unterbrach Linh die Frauen. Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand über der Tür. »Frau Matysek, ich denke, es gibt keine andere Möglichkeit für Sie, als sich zu stellen. Ich werde dann sehen, was ich für Sie tun kann. Ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen. Der Staatsanwalt von Neuruppin ist eigentlich recht umgänglich, und da Ihre Vorstrafen schon eine Weile zurückliegen und Sie als Mutter eines entführten Kindes unter erheblichem Druck standen …«
»Aber Emily … hören Sie, wenn Mike das Geld nicht bekommt, dann kann er es dem Boss nicht zurückzahlen. Und dann bleiben wir in deren Visier. Und wer weiß, was mit Mike geschieht … ich will nicht, dass er stirbt.«
Linh streckte ihr langsam und vorsichtig ihre Hand entgegen. »Ich bitte Sie: Vertrauen Sie mir. Ich habe auch eine Tochter. Geben Sie mir die Pistole, und dann gehen wir hier raus. Ich werde alles tun, damit Sie noch heute Nachmittag ihre Kleine in die Arme schließen können, denn das ist doch jetzt das Wichtigste.«
Doreens Augen waren feucht, als sie leise mit gesenktem Blick fragte: »Versprechen Sie es?«
Linh nickte. »Ich verspreche es.«
Die nächsten Sekunden fühlten sich wie Minuten an, aber dann hob Doreen Matysek den Kopf und hielt Linh die Waffe mit abgewandtem Lauf hin.
Linh griff zu, bevor die Frau es sich noch einmal anders überlegte, entlud die Pistole, steckte sie in den Hosenbund und das Magazin in die Hosentasche.
»Gut. Dann passen Sie auf, wir beide, wir gehen jetzt raus, ganz langsam. Wir öffnen die Tür und laufen mit erhobenen Händen aus der Bank, genau nebeneinander, ohne zu rennen, ohne uns voneinander zu entfernen. Sie, Frau Kukrowski, Frau Kaminske und Sie, Herr Jatznik, bleiben noch hier und warten, bis die Beamten kommen, um Sie hinauszubegleiten. Verstanden?«
Die Angesprochenen bejahten, ihre Stimmen klangen jetzt fest und hoffnungsvoll.
»Dann kommen Sie, Frau Matysek.«
Linh nahm die Geiselnehmerin an ihre Seite, und gemeinsam gingen sie durch den Raum. Drei Augenpaare folgten der entwaffneten Frau, es waren vorwurfsvolle, wütende, aber auch erleichterte Blicke.
»Bereit?«
Doreen Matysek nickte.
Gerade als Linh die Tür öffnen wollte, gab es einen Schlag, etwas splitterte hinter ihnen, und es folgte ein Blitz, bevor die Rauchgranate explodierte und sie alle in dichten Qualm hüllte. Linh hörte Schreie um sich herum und wusste nicht, was sie zuerst tun sollte.