Linh wusste wahrlich nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Aus dem Jeep, der soeben an der Polizeiabsperrung gehalten hatte, stieg Adam und ging um das Auto herum zur rechten Hintertür. Neben Linh riss Doreen Matysek die Tür auf, wahrscheinlich reichte ihr die Ahnung, dass da hinten im Auto ihr Mädchen saß.
Adam hob ein blondes Kind aus dem Wagen, es schien fest zu schlafen, er bückte sich unter dem Flatterband durch und trug die Kleine dann zu ihnen herüber. Doreen sprang auf, stürmte auf Adam zu und schloss ihr Kind weinend in die Arme. Das war ein Moment, der Linh wieder daran erinnerte, weswegen sie Polizistin geworden war. All das hätte auch ganz anders enden können.
»Emily«, rief Doreen und hielt den Kopf der Kleinen ganz fest an ihre Brust gedrückt. »Emily, mein Schatz!« Sie küsste das Gesicht des Mädchens, das gerade aus seinem Schlaf erwachte. »Es tut mir so leid, aber jetzt hab ich dich ja wieder.«
»Mami, Mami«, murmelte das Mädchen.
Schließlich blickte sie zu Adam auf. »Danke, wirklich, ich danke Ihnen, dass Sie sie gefunden haben.«
Dann wurde ihr Gesicht ernster. »Wo ist Mike? Geht es ihm gut?«
»Er ist auf dem Weg zum Berliner Revier. Wir werden ihn dort vernehmen.«
»Und kommt er dann ins …?« Sie sah zu der Kleinen und sprach nicht weiter. »Wirklich, er macht das wieder. Bitte sorgen Sie dafür, dass er uns in Ruhe lässt.«
Linh war neben sie getreten. »Erst mal, Frau Matysek«, sagte sie, »müssen wir mit ihm sprechen.« Sie wies auf den Mann im schwarzen Anzug, der gerade aus einem dunklen Audi A 4 stieg.
Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu, ihr Strahlen ganz und gar auf den Staatsanwalt ausgerichtet.
»Ach, Herr Meyer, wie schön, wenn ein Tag so gut endet.«
»Ich habe schon gehört … Sie haben ja ganze Arbeit geleistet. Eine Geiselnehmerin zur Aufgabe zu überreden, Frau Schmidt, ich muss schon sagen … das ist keine einfache Sache.« Er konnte ihr einfach nicht widerstehen.
Linh spürte Adams Blick in ihrem Rücken.
»Hören Sie, Frau Matysek hat die Tat begangen, weil der Kindesvater sie dazu gezwungen hat. Das zeigen die ersten Ermittlungen. Er hat sie bedroht und erpresst, weil er selbst Schulden hat, bei einem bedeutenden Berliner Clanboss. Sie können die Akte lesen, mein Berliner Kollege schickt sie Ihnen. Worauf ich hinauswill …« Sie wies mit dem Kinn auf Doreen Matysek, die am Boden saß und Emily auf ihren Knien hielt. »… es besteht keine Fluchtgefahr bei der Verdächtigen. Sie hat eben erst ihre Tochter zurückbekommen. Ich würde an Ihrer Stelle keine Untersuchungshaft anordnen. Wäre das denkbar?«
»Es war ein Bankraub mit Geiselnahme«, sagte der Mann stirnrunzelnd. »Und es gab einen Verletzten.«
»Das war eine Wunde, wegen der würden Sie nicht mal einen Krankentag nehmen, Herr Meyer.«
Der Staatsanwalt streckte stolz seine Brust heraus.
»Hm, also, da bringen Sie mich aber in die Bredouille. Eigentlich würde ich sie in die Haftanstalt überstellen lassen. Das hier hat im Präsidium in Potsdam Aufsehen erregt. Aber gut – ich will mal nicht so sein. Dann will ich aber, dass die Frau unter Hausarrest steht, bis der Richter entschieden hat. Ich lese mir derweil die Akten durch, ja?«
»Sie sind ein Schatz, Herr Meyer.«
»Na, wer wird denn einer Heldin einen Wunsch abschlagen? Gut, ich empfehle mich.«
»Danke.«
Sie ging zwinkernd zurück zu Adam. Der schaute sie mit einem Blick an, den sie nicht ganz zu deuten wusste.
»Geschafft?«
»Geschafft.«
»Wenn ich mal zur internen Revision muss, werde ich dich mitnehmen. Du hast so viel Charme, da wird mir ja fast schwummrig. Warte kurz, ja? Da ist was, das ich nicht vergessen darf.« Er zückte sein Handy.
»Gut, ich rede derweil mit Frau Matysek.«
Adam wählte Thilos Nummer.
»Thilo?«
»Hm …«
»Wo bist du?«
»Büro.«
»Okay, ich habe gesagt, es tut mir leid. Lass uns in Ruhe darüber reden, ja? Morgen oder so.«
»Hm.«
»Hör zu, du musst eine Nummer für mich checken. Auf wen registriert, welcher Funkmast, das volle Programm.«
»Hm.«
Adam konnte kaum an sich halten, er war versucht, seinen Kollegen anzubrüllen, aber das konnte er sich jetzt nicht leisten. Deshalb zählte er langsam bis drei, dann nannte er aus dem Gedächtnis die zwölf Zahlen der unbekannten Handynummer, von der aus die SMS an Holler geschickt worden war.
»Okay, überprüfe ich.«
Schon hatte Thilo aufgelegt.
»Alles okay? Stress?«, fragte Linh, die seinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte.
»Stunk in der Truppe.«
»Wieso?«
Adam sah sie ernst an. »Später.«
Sie nickte und berührte ihn sanft an der Hand, einen kurzen Moment nur, doch sofort ging es ihm besser.
»Du?« Er flüsterte es nur.
»Ja?« Sofort sah sie ihn mit wachem Blick an, weil sie merkte, dass sein Ton sich verändert hatte.
»Wo liegt Caros Geburtsurkunde?«
»Was?«
»Sag mal, wo liegt die?«
Linh zuckte die Schultern, ihre Stirn in Falten.
»Keine Ahnung … ähm, vielleicht in dem Ordner mit den Versicherungen? Oder bei den Impfpässen? Nee, Moment, im Familienbuch …«
»Siehst du? Keine Ahnung. Okay, Caro ist schon groß, Emily ist noch klein, aber trotzdem …«
»Was meinst du?«
»Als ich vorhin Doreens Wohnung durchsucht habe, da gab es einen Ordner mit allen Dokumenten, Arbeitsamt, Rechnungen und das ganze Zeug, alles war fein säuberlich abgeheftet. Sie scheint eine wirklich ordentliche Frau zu sein. Aber die Geburtsurkunde, die war nicht in dem Ordner. Sie lag in der obersten Schublade der Anrichte, ganz obenauf, in einer Folie, sodass ich sie sofort gesehen habe.«
»Du meinst, sie lag da …«
»Wie zurechtgelegt. Genau.«
»Damit wir wissen, dass Mike Holler Emilys Vater ist?«
»Das hätten wir ja früher oder später ohnehin rausgekriegt. Es war eher, damit wir es schnell wissen.«
Linh schüttelte den Kopf. »Die klarsten Fälle sind immer die vertracktesten, hm?«
»Äh, Linh?«
Sie drehten sich um. Klaus Brombowski stand auf der kleinen Treppe der Sparkasse und winkte sie zu sich. »Kommst du mal? Ich glaube … es gibt da ein Problem.«
»Noch eines«, sagte Linh und stöhnte leicht. Gemeinsam mit Adam trat sie in den heißen Raum mit den Schaltern. Der Rauch hatte sich noch nicht ganz verzogen. Schon am Eingang hörten sie die leidende Stimme des jungen Filialleiters.
»Er könnte gut in einer dieser Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen mitwirken, so viel Drama, wie er macht«, sagte Klaus leise und rollte mit den Augen. »Kommt.«
Sie betraten den Tresorraum, in dessen Mitte Björn Seelinger stand und tatsächlich die ganze Zeit »Es ist weg, es ist weg« jammerte.
»Herr Seelinger«, sagte Linh und trat näher, »das ist Kommissar Schmidt von der Kripo in Berlin. Wir ermitteln gemeinsam. Was genau fehlt denn? Frau Kukrowski wollte ja heute eine größere Summe abholen, meinen Sie die?«
»Ja, genau«, sagte er, und sie betrachteten die in ein Regal geschichteten Kleingeldrollen. Daneben war der offene Schrank mit den Geldtaschen, die für Scheine benutzt wurden. Sie waren tatsächlich leer. Eine Tasche mit der Aufschrift Prosegur stand am Boden, auch sie war ausgeräumt. »Wir hatten heute einen Bestand von fast hundertvierzigtausend Euro hier, normalerweise ist es nicht mal ein Drittel davon. Hundertdreißigtausend Euro in Scheinen, und – es ist alles weg. Die ganzen Scheine, nur die Münzen sind noch da.«
»Die sind ja auch schwer, zu schwer, um sie alle auf einmal hier rauszutragen.«
»Sie müssen die Frau durchsuchen«, schrie Seelinger. »Sie hat das Geld gestohlen! Ich bin erledigt, ich krieg doch nie wieder eine eigene Filiale …«
»Meinen Sie nicht, Herr Seelinger«, sagte Linh, »dass ich die Verdächtige längst durchsucht habe? In ihren Taschen war nichts, kein Cent. Haben Sie eine andere Erklärung?«
»Das kann doch nicht sein!«, rief der Mann. »Warum tun sie denn nichts?«
»Wir finden Ihr Geld«, sagte Adam leise. »Wir finden Ihr Geld.«