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»Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen, liebe Kinder, hier spricht Ihr Kapitän. Willkommen an Bord von Air Canada. Wir sind gleich zum Start bereit, wir verladen noch das letzte Gepäck, und dann schließen wir die Türen. Unsere Maschine wird den Flughafen BER von Startbahn 07R in Richtung Westen verlassen, dann werden wir Berlin südlich passieren. Unsere Reisezeit nach Toronto beträgt voraussichtlich acht Stunden und zwanzig Minuten. Meine Crew und ich, wir sind die ganze Zeit für Sie da. Also lehnen Sie sich zurück, und genießen Sie den Flug. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise.«

 

Er tat es. Endlich war es so weit. Es wurde auch mal Zeit. Er wurde gerade so müde. Das Adrenalin war verschwunden, das Adrenalin des ganzen Tages – dieses absolut verrückten Tages –, und jetzt spürte er all die schlaflosen Nächte der letzten Wochen. Sein Kopf sank zurück in den weichen Bezug der Kopflehne, Air Canada, das Ahornblatt, es wirkte alles so edel, so leicht. Er hatte die richtige Fluglinie ausgesucht.

Gleich würde die ältere Stewardess mit einer kleinen Kraftanstrengung die Tür schließen, und dann ging es los.

Er hatte den letzten Flug vor zwei Monaten gemacht, eine kürzere Strecke als diese. Palma de Mallorca nach Berlin. Aber das war der Flug gewesen, der den Anfang bedeutet hatte, den Anfang seines neuen Lebens, das jetzt endlich richtig beginnen würde.

Nun war er auf der Zielgeraden: Wenn dieser Flieger in Toronto landete, dann musste er nur noch die Strecke Toronto–Havanna hinter sich bringen, bis alles geschafft wäre. Sein neues Leben würde beginnen. Oder besser gesagt: ihr neues Leben – auch wenn es noch letzte Unwägbarkeiten gab, der Staatsanwalt, der Richter. Es konnte noch etwas passieren … aber dieser Tag, der wichtigste Tag, war so gut gelaufen, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hatte. Sein Plan war bis ins Kleinste aufgegangen. Gut, der Schuss auf Björn Seelinger hätte nicht sein müssen, aber, hey, der war ja auch plemplem gewesen, da den Knopf zu drücken, außerdem war ihm gar nichts passiert. Die Kugel ein paar Zentimeter weiter links – und schon hätte er sein neues Leben allein beginnen müssen. Dann wäre Doreen in den Knast gewandert, und zwar für sehr lange Zeit. Das hätte er nicht ausgehalten.

Doreen. Dori.

Er dachte zurück. Der Anfang. Dieser Tag am Strand, Sarah hatte sich nur übergeben, irgendwie vertrug sie die Hitze in der Schwangerschaft gar nicht. Sie war deshalb auf dem Zimmer geblieben.

Er hatte sie sofort erkannt. Sie war diejenige, die immer die Tour durch Flecken machte und der ollen Kukrowski ihre vielen Pakete brachte. All die Klamotten, den Schmuck, die Einrichtungsaccessoires und wer weiß was noch alles. Die Alte bestellte ja ohne Ende. Er hatte Doreen in Flecken jeden Tag gesehen und sich eingebildet, dass sie flirteten.

Nun aber, am Strand, als er vor ihr stand, sie mit gebräunter Haut und in diesem neongelben Bikini, schlank und schön und strahlend, da war es endgültig um ihn geschehen. Er hatte sich sofort verliebt.

Um sie von sich zu überzeugen, hatte er mit Emily gespielt, am Strand Sandburgen gebaut, Prinfessin hatte die Kleine immer gerufen, Mama guck! Prinfessin Soss. Schloss, Schloss hatte sie sagen wollen.

Er hatte diesen Plan schon lange. Weg, nur weg von hier, raus aus diesem Kaff. Seine Eltern waren mit ihm auf Kuba gewesen, damals, bevor Papa abgehauen und Mama ein Jahr später gestorben war. Dieses Land, die Leute waren so fröhlich und leidenschaftlich, so ganz anders als zu Hause. Und dann das Tüpfelchen auf dem i: Es gab kein Auslieferungsabkommen.

Er hatte das alles vorausgesehen: Irgendwann würde er den großen Wurf landen. Klar, Flecken-Zechlin war nur eine kleine Gemeinde, aber dennoch, auch da gab es Kohle, viel Kohle, für Straßen und Wege, für das Abwassernetz, für ein neues Feuerwehrauto. Er musste nur immer weiter in der Hierarchie aufsteigen, das Vertrauen der Leute gewinnen, insbesondere das der Bürgermeisterin. Irgendwann hätte er ’ne Kontovollmacht, dann hätte er freie Bahn. Nur mit dem ständigen Misstrauen der Kukrowski hatte er nicht gerechnet. Mittlerweile wusste er: Sie vertraute niemandem, weil sie sich selbst nicht vertraute. Das Sprichwort war richtig: Nur wer sich selbst das Schlimmste zutraut, traut auch anderen das Schlimmste zu.

Er nahm die Kopfhörer aus den Ohren, die Klaviermusik verstummte. Sein Blick ging durchs Flugzeug. Worauf warteten die denn? Das Gepäck war längst verladen, sein Nachbar am Gang schon eingeschlafen. Sollte er nervös werden? Er spürte, wie seine Hände die Lehnen quetschten. Ruhig Blut, alles war gut, sagte er sich. Niemand wusste von seinem Plan.

Die Kukrowski hatte ihn nicht an das Konto der Gemeinde gelassen, also hatte er auch nichts abzweigen können. Außerdem hatte er vor einem Jahr keine Freundin gehabt, und er wollte nicht allein von hier weg. Klar, er hätte sich eine kubanische Freundin suchen können. Aber er sprach kein Spanisch. Und er mochte es gern ordentlich und sauber. Das war schon immer so gewesen. Also wollte er eine deutsche Frau.

Sarah war toll. Als er hörte, was ihr nach der Party in Oranienburg passiert war und dass sie schwanger und alleine war, hatte er sich um sie gekümmert. Sie war zwar jung, aber er mochte sie sehr gerne. Als sie ihm dann aber sagte, dass sie nicht aus Flecken wegwollte, war er wie vor den Kopf gestoßen.

Zwei Tage später traf er Dori.

Sie war nur zwei Jahre älter als er. Sie verstand so viel vom Leben, von den Höhen und den Tiefen, vor allem von den Abgründen. Und vom Sex. Und sie verstand, was er von ihr wollte. Er gefiel ihr, das sah er sofort. Er ging ja nicht umsonst immer zum Sport, und zudem war er belesen und intelligent, alles, was die Jungs in ihrem Umfeld nicht waren.

Er war immer anders gewesen als die Jugendlichen in Flecken. Er ließ es nicht raushängen, um nicht als Außenseiter zu gelten.

Doreen und er schliefen zum ersten Mal miteinander, als Emily im Hotel an dem Kinderanimationsprogramm teilgenommen hatte. Das Hotel lag an der Platja de Palma, draußen glitzerte das Meer. Sie trieben es sogar auf dem Balkon, am helllichten Tag. Doreen war hemmungslos – und sie war mehr, als er je erhofft hatte. Als er sich sicher war, zwei Tage später, weihte er sie in seinen Plan ein.

Da er kein Geld von der Gemeinde abzweigen konnte, hatte er sich einen neuen Plan überlegt. Er wusste von der Kohle, auf die die Kukrowski wartete. Der Kohle für den Hausumbau. Sie verstand nichts von Computern, und so hatte er Zugang zu ihrem privaten Mail-Account. Es war nicht so viel, wie er vielleicht vom Konto der Gemeinde hätte nehmen können, aber es war genug. Für Kuba auf jeden Fall, auch wenn er damit nicht die nächsten fünfzig Jahre sorgenfrei leben konnte. Für zwanzig Jahre würde es reichen, und dann müssten sie eben noch ein wenig arbeiten, Doreen und er.

Doreen war begeistert von seinem Plan – und doch schwebte da noch ein großer dunkler Schatten über ihnen: Mike. Es gab ihm einen Stich, als sie den Namen sagte. Da war also jemand. Na klar, Emilys Vater.

Mike war ein Verbrecher, nicht so ein Verbrecher in Gedanken wie er, sondern ein echter Verbrecher, der Mitglied eines Clans war und schon richtig furchtbare Sachen getan hatte.

Aber schlimmer noch: Er war schrecklich zu Doreen. Als sie eines Abends auf dem Balkon zusammensaßen, Sarah schlief schon in ihrem Hotel, Emily lag im Doppelbett, hatte sie es ihm unter Tränen gestanden: Mike hatte sie geschlagen, zum Sex gezwungen und noch andere unaussprechliche Sachen mit ihr gemacht. Nur Emily hatte er nie etwas zuleide getan. Aber wer wusste schon, ob das so blieb?

Mike wollte seine Tochter wieder mehr sehen. Doreen hatte nicht glauben können, dass dafür ein neuer Prozess angesetzt war. Was passierte, wenn Mike mehr Zeit mit Emily zugesprochen bekam?

Benny hatte versprochen, dass er sich darum kümmern würde. Doreen hatte ihm nicht geglaubt – wie auch? Sie war immer von den Männern belogen und betrogen worden. Aber er, er würde sie nicht enttäuschen. Er würde dieses Problem für sie aus der Welt schaffen, ein für alle Mal. Zwei Nächte hatte er darüber gegrübelt – dann war ihm die Idee gekommen. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Das Geld bekommen und Mike ins Gefängnis bringen. Es war perfekt.

Als sie nach dem Urlaub zurück in Berlin war, hatte er Doreen jeden zweiten Abend zu Hause besucht. Sie waren ein richtiges Paar geworden. Emily hatte ihn nach einem Monat zum ersten Mal Papa genannt. Danach hatte er auf dem Weg zurück nach Flecken geweint. Fast hätte er sich schon in dieser Nacht von Sarah getrennt, aber dann wäre sein Plan nicht aufgegangen. Er brauchte sie, er brauchte Sarah. Als Tarnung.

Sein Plan war ein Ritt auf der Rasierklinge. Es hätte so viel schiefgehen können. Eine Geisel, die zu genau hinsah. Eine Verschiebung der Geldlieferung. Ein Stau auf der B 96 – und Doreen wäre zu spät an der Sparkasse gewesen. Sarah, der es nicht gut genug gegangen wäre, um in der Bank das Konto zu eröffnen und dann zusammen mit ihm zur Geisel zu werden.

Aber es hatte alles funktioniert. Niemandem war etwas zugestoßen. Doreen hatte kein Geld geraubt. Niemanden schwer verletzt. Sie war sogar in einer echten Notlage gewesen. Sie musste es tun, um ihre Tochter wiederzukriegen – und um einen echten Kriminellen ins Gefängnis zu schicken.

Er sah auf, weil die Stewardess zur Flugzeugtür ging. Jetzt würde sie die schwere Tür endlich zuziehen. Doch dann nickte sie, als begrüßte sie jemanden.

Ein Mann trat ein, blondes Haar, Sakko, dunkles Hemd, markantes Gesicht. Ihm folgte eine Frau, Asiatin, sehr hübsch, klein, drahtig. Er erkannte sie sofort. Schnell senkte er den Blick. Die Einsicht, dass das Unvermeidliche eingetreten war, wie ein Faustschlag in den Magen. Der Wunsch, die Zeit zurückzudrehen bis zu dem Moment, an dem er Emily über den Zaun gehoben hatte. Papa!, hatte sie gerufen und gelacht, Papa. Nur fünf Minuten davor, ach was, eine Minute davor, war nichts Strafbares geschehen. Aber jetzt …

Sie kamen langsam den Gang entlang, jeder im Flugzeug sah auf, denn der Aufruf Boarding completed war ja schon vor zwanzig Minuten ertönt.

Sie suchten ihn nicht, sie kannten seinen Platz. Als sie bei Reihe 19 stehen blieben, sahen sie direkt zu Sitz F, direkt zu ihm.

»Ben Jatznick?«

Es war vorbei.

Er sah auf und nickte, absolut bereit, alles mitzumachen, alles zu gestehen, alles zu tun, um den Kopf irgendwie aus der Schlinge zu bekommen.

»Kommen Sie bitte mit.«

Sein Nachbar sah erschrocken zu ihm herüber, als hätte er die Pest. Er stand umständlich, aber schnell auf und verdrückte sich mehrere Reihen nach hinten. Ben erhob sich, stieß sich dabei den Kopf an der niedrigen Decke und der Leiste mit den Knöpfen.

»Haben Sie Gepäck?«, fragte die Polizistin.

Ben zeigte nach oben. Sie öffnete das Fach und entnahm einen Rucksack und seine Jacke.

»Ist es hier drin?«

»Ja«, sagte er leise. »Ich wusste gar nicht, dass hunderttausend Euro nur so wenige Scheine sind.«

»Folgen Sie mir«, sagte der Mann und ging voraus, Ben trottete mit hängenden Schultern hinterher und drehte sich dabei immer wieder zu der Frau um, die seine Jacke und seinen Rucksack trug.

Der Gang durch das Flugzeug schien niemals enden zu wollen. Alle sahen ihm nach, neugierig, ablehnend, spöttisch. Er konnte es nicht ertragen. Andererseits: Wann hatte es jemals ein Junge aus einem Kaff in der Ostprignitz geschafft, so einen Auftritt hinzulegen? Er konnte sich jedenfalls an keinen vergleichbaren Fall erinnern.

 

»Vernehmung des Verdächtigen Ben Jatznick, geboren am 13. November 1994 in Neuruppin, wohnhaft in Flecken-Zechlin. Anwesend sind PHK Schmidt und KHK Schmidt.«

»Witzig. Wenn Sie heiraten, müssen Sie nicht Ihren Namen ändern«, sagte der junge Mann und lächelte.

»Wir sind verheiratet«, antwortete Adam ernst und fuhr fort: »Die Befragung findet aufgrund des Festnahmeortes im Revier der Bundespolizei auf dem Willy-Brandt-Flughafen BER statt. Es ist Montag, der 14. August um 22:20 Uhr.«

Linh legte die Jacke auf den Tisch, deren zahlreiche Taschen jetzt leer waren.

»Ich habe soeben im Beisein einer Beamtin der Bundespolizei Ihre Taschen durchsucht, genau wie den doppelten Boden, der im Rucksack vernäht war. Wir haben dabei die Summe von 129 000 Euro sichergestellt. Sie stehen im Verdacht, diese Summe bei einem Bankraub erbeutet zu haben, der von Ihrer Komplizin Doreen Matysek durchgeführt wurde. Nun fragen wir uns: Ist das mit oder ohne das Wissen von Frau Matysek geschehen?«

Linh hatte ein Gefühl – und sie hoffte, dass dieser junge Mann, von dem sie sicher glaubte, dass er schuldig war, jetzt die Verantwortung übernahm.

Er blickte sie sehr freundlich an, als er sagte: »Nein, sie wusste es nicht. Also erst mal nicht. Bis sie mich erkannt hat.«

»Sie hatte also keine Ahnung, was Sie vorhatten?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. Sein Blick war klar und freundlich, als wäre sein Leben ein Roman, den er nun vortragen würde.

»Sie hatte keine Ahnung. Sie wusste, dass ich einen Plan habe, um sie und Emily vor ihrem gewalttätigen Ex in Sicherheit zu bringen. Aber sie wusste nicht, wie es geschehen sollte.«

»Dann haben Sie Emily entführt?«

»Na ja, das klingt jetzt etwas dramatisch. Ich bin am Zaun der Kita entlanggelaufen, als die Erzieherinnen wie so oft mal wieder was Besseres zu tun hatten, als auf die Kinder zu achten. Emily hat mich gesehen und ist auf mich zugelaufen. Dann hab ich sie drübergehoben und bin los.«

»Sie haben sie in die Laube von Mike Holler gebracht und dort zurückgelassen. Allein und unbeaufsichtigt.«

»So war es nicht«, sagte Ben Jatznick. »Ich habe ihr erklärt, dass sie jetzt schlafen muss und dass sie danach ganz lange fernsehen darf. Die Eiskönigin, ihr Lieblingsfilm, sie hat sich sehr gefreut. Ihr Papa würde sie dann abholen. Dann habe ich ihr Saft gegeben, mit ein bisschen Dormicum drin, wie beim Zahnarzt. Sie ist noch auf der Fahrt im Auto eingeschlafen. Ich habe sie in die Laube getragen und dort auf die Couch gelegt. Als sie aufwachte, hatte sie Getränke und Essen, und der Fernseher lief in Dauerschleife. Ich habe an alles gedacht.«

»Sie haben das Mädchen betäubt?«

»Jetzt übertreiben Sie mal nicht. Ich wollte sie nicht so lange allein lassen, ich wusste ja nicht, wie gut der Bankraub läuft.«

»Denn Sie mussten schnell nach Flecken, damit Sie pünktlich in der Sparkasse sind – mit Ihrer offiziellen Freundin Sarah Krämer.«

Ben Jatznick nickte und hob entschuldigend die Hände. »Ich wusste, wann Doreen losfährt, und habe sie von unterwegs angerufen. Den Stimmverzerrer habe ich bei Amazon bestellt. Ich habe ihr gesagt, ich würde in Mikes Auftrag anrufen. Er habe Emily entführt, um an Geld zu kommen. Du musst die Sparkasse in Flecken-Zechlin überfallen, hab ich gesagt, heute noch. Mit der Waffe im Handschuhfach. Das Geld kriegt dann Mike. Der Plan war bombensicher – und dennoch tat sie mir leid, weil ich ihrer Stimme angehört habe, wie viel Angst sie hatte.«

»Währenddessen sind Sie von der Datsche in Waidmannslust aus nach Flecken gerast.«

»Ja, das war knapp, ich war total außer Atem, als ich Sarah vor der Sparkasse traf und wir rein sind, um das Konto zu eröffnen. Da war noch die alte Frau, Gott sei Dank, so konnten wir alles ein bisschen verzögern, damit Doreen rechtzeitig da war. Sie kam dann, mit Strumpfmaske und Knarre …«

»Und hat Sie nicht erkannt …«

»… denn Sie hatten das Basecap tief ins Gesicht gezogen, trugen die neue Jacke mit den vielen Taschen und waren an der Seite einer Frau, die Doreen nur flüchtig kannte – und nicht als Ihre Freundin.«

»Genau. Das wusste sie nicht von mir. Ich hatte es auf Mallorca nicht gesagt, und unsere Hotels lagen weit genug auseinander, damit sie es nicht zufällig bemerkte.«

»Die alte Frau, die Sie gerade erwähnen … Sie hat etwas ausgesagt, das mir wirklich weitergeholfen hat. Mein Kollege hat es mir vorhin erzählt, bevor wir überhaupt wussten, dass das Geld fehlte.«

»Hm?« Ben Jatznick sah Linh gespannt an.

»Die alte Frau Müller habe ihm erzählt, dass es zwei Doreens gegeben habe während des Überfalls. Eine völlig verstörte Frau, die nicht wusste, was sie da tat. Sie hat die Angst in ihren Augen gesehen, sagte sie. Das war Doreen, als sie noch dachte, Mike Holler habe ihre Tochter in seiner Gewalt. Und dann gab es eine andere Doreen, eine sichere, überlegte, die nur heil rauskommen wollte, um Emily wiederzusehen – und das Geld zu bekommen. Das war …«

»… nachdem sie mich erkannt hatte, genau.«

»Ungefähr zu der Zeit, als ich in die Bank gekommen bin.«

»Ich hatte eigentlich den Plan, dass Doreen da reinrennt und wieder draußen ist, bevor die Polizei kommt. Sie sollte mich erkennen und dem Filialleiter den Schlüssel abnehmen, um das Geld aus dem Tresor zu holen. Aber leider hat der Idiot den Alarm gedrückt. Deshalb musste ich umdenken.«

»Weil mein Kollege und ich auf der Bildfläche erschienen sind.«

»Genau. Aber auch für so einen Fall hatte ich vorgeplant. Ich habe irgendwann mein Basecap aus der Stirn geschoben und meine Tarnung aufgegeben, da Doreen kurz davorstand, die Kontrolle zu verlieren. Das war heikel, weil ich nicht wusste, ob sie in Ohnmacht fällt oder mir eine knallt oder so. Aber sie ist klug, sie hat sofort verstanden. Sie hat mich den Tresorraum öffnen lassen. Da konnten wir kurz reden.«

»Weil sie im Tresorraum waren und Doreen in der Tür stand.«

»Ja. Ich habe ihr zugeflüstert: Ich habe Emily, sie ist in Sicherheit. Mike wird dir nie wieder etwas tun. Sie war überrascht, aber sehr dankbar. Tausch die Geiseln aus, lass die Polizistin rein, hab ich gesagt. Ich war ziemlich aufgeregt, denn da im Tresorraum lag wirklich das ganze Geld. Es waren nur so wenige Scheine, ich dachte erst, da wäre was schiefgegangen mit der Lieferung.« Er musste lächeln, als wäre er wieder im Tresorraum der Sparkasse. »Also habe ich schnell nachgezählt. Aber es stimmte. Ich musste noch warten, ich wollte nicht, dass jemand die Veränderung bemerkt.«

»Sie sind wieder rausgegangen zu Sarah.«

»Wie eine ganz normale Geisel, ja.«

»Dann kam der kritische Moment: der Austausch. In dem Moment war viel los im Raum, deshalb hatte ich die Zeit, die ich brauchte. Alle waren abgelenkt, alle sahen zur Tür.«

»Sie brauchten nur einen kurzen Moment, um Ihr Handy hervorholen, es anzuschalten und die vorbereitete SMS abzuschicken. Die Nachricht an Mike Holler, dass seine Tochter in seinem Bungalow sei.«

»Ihr seid wirklich gute Polizisten.« Wieder lag ein kaltes Lächeln auf seinen Zügen, als bereitete ihm das alles eine diebische Freude.

»Das war nicht so schwer«, antwortete Adam matt. »Und dann war meine Frau in der Sparkasse.«

»Genau, für den letzten Schachzug. Und der hieß: Sarah. Sie musste raus, das war ganz klar. Dass mir die alte Kukrowski so gut helfen würde, hatte ich aber nicht einkalkuliert.«

»Sie haben in der Zeit, als meine Frau die schwangere Geisel rausbringen wollte, wieder auf Ablenkung gesetzt.«

»Ja, ich bin nach hinten in den Tresorraum gerobbt. Doreen hat mich gedeckt. Aber dann ist die Kukrowski losgestürmt. Als der Schuss fiel, hab ich gedacht, alles sei vorbei. Ich hab wie ein Irrer das Geld in den Taschen meiner Jacke versteckt. Als die Rauchbombe explodierte und Doreen schrie, bin ich nach draußen, hab die Hände hochgehoben und so getan, als wäre ich auch auf der Flucht. Es war genial, so was können Sie sich nicht ausdenken.«

»In der Tat.«

»Als dann die Stürmung begann, war ich natürlich in Sorge, aber Ihre Frau hat alles so gut unter Kontrolle gebracht. Ich habe gehofft, dass die SEK -Jungs nicht die Geiseln durchsuchen – aber warum sollten sie? Also bin ich mit 129 000 Euro da rausmarschiert, in Tausenderscheinen, in meiner Jacke verborgen. Und Sie, Frau Kommissarin, haben mir dann noch gesagt, ich solle meine Freundin nach Hause bringen.«

»Die Sie an der nächsten Kurve aus dem Auto gesetzt haben.«

»Tja, wo gehobelt wird … Aber Sarah ist so süß und nett, die findet schon jemanden. Hinter der war doch immer das halbe Dorf her.«

»Sie sind ja wirklich ein fieser Hund«, sagte Linh voller Abscheu.

»Und was macht Sie so sicher, dass Doreen freikommen wird?«, fragte Adam.

»Sie hat ja nichts getan. Es war Notwehr. Kein Staatsanwalt will in der Bild sein Foto sehen, mit einer Schlagzeile wie Sie wollte ihre Tochter retten – dieser Bürokrat schickt Doreen M. deswegen in den Knast! So ist das deutsche Recht, da passiert so etwas nicht. Ihr Flug war schon gebucht. Sie wäre mit Emily übermorgen ausgereist, mit dem Flixbus bis Amsterdam und dann weiter mit dem Flieger. Weil in Holland ihr Name nicht auf der Fahndungsliste steht.«

»Und dann hätten Sie auf Kuba zusammen ein neues Leben begonnen.«

»Während Mike seine gerechte Strafe bekommen und seine Tochter nie wiedergesehen hätte. Wow! Nicht wirklich fair, oder?«

»Er hat Doreen geschlagen. In dem Moment hat er alle Rechte verwirkt, finden Sie nicht, Frau Kommissarin?«

Linh erwiderte nichts.

»Und jetzt?«, fragte Adam. »Jetzt endet alles hier. Und Sie haben nichts, aber auch gar nichts gewonnen.«

»Aber mir wird auch nicht viel passieren. Eine Anstiftung zum Raub, eine falsche Verdächtigung. Wenn es der Richter ernst meint, krieg ich zwei Jahre. Und dann kann ich immer noch mit Doreen zusammen sein.«

»Ich hasse es, belehrend zu sein. Aber Sie haben echt mit dem Leben vieler Menschen gespielt. Ich schau mal, wie ich meinen Bericht so schreibe, dass vielleicht doch fünf Jahre Gefängnis draus werden. So lange werden weder Doreen Matysek noch Sarah Krämer auf Sie warten. Linh, du hilfst mir doch dabei, oder? Wir sind hier fertig. Wache! Sie können den Mann jetzt abführen.«