Adam war wie ein See, der ganz still dalag. Aber wenn man genau hinspürte, dann bemerkte man das Brodeln in den Tiefen dieses Sees. Es war wie eine Welle, die über den schlammigen Boden rollte, dort, wo niemand genau hinsehen konnte. Er merkte es, weil er in diesen Momenten in den Besprechungen, wenn es am ödesten wurde, wenn er Melanie am deutlichsten vor sich sah, begann, an seinen Fingern zu knibbeln. Der Zeigefinger kratzte über das weiche weiße Fleisch am Daumen, so lange, bis das Blut kam und er die Hände in den Pulloverärmeln versteckte.
Es ging nicht weg, niemals. Es war das Erste, woran er dachte, wenn er aufwachte, und das Letzte, woran er dachte, wenn ihn nachts um drei endlich für wenige Stunden der Schlaf überkam.
Er konnte Melanie nicht vergessen, ihr Gesicht, so leblos, so leer. Seine eigene Erstarrung, die diesem Tod gefolgt war. Oder war sie ihm vorausgegangen? War er schuld? Natürlich war er schuld. Die Erstarrung war geblieben, sie hatte sein Leben übernommen. Ein erstarrtes Leben.
Sie saßen im Revier um den Konferenztisch, es ging um die Clanstrukturen in Neukölln, um einen neuen Boss, Said irgendwas. Er machte nicht nur in Drogen, sondern auch in Nutten – und ganz neu: in Immobilien. Er wollte auch was Ehrbares machen.
Sie wollten ihn drankriegen, hatten aber bislang nichts vorzuweisen. Adam saß da, hörte zu und suchte fieberhaft an seinen Fingern irgendein Stück gesunde Haut, die er noch nicht abgeknabbert hatte. Nichts zu finden.
Die Kollegen ringsum waren sich alle sicher, dass er ein Karrierist war. Ein Typ, der nur nach oben wollte. Einer, der sich als Polizeipräsident sah. Dabei wollte er eigentlich nur sterben. Ihn wunderte jeden Tag, dass sie nie auf seine Finger achteten. Jeder hätte es wissen müssen, wenn er die abgebissenen, blutigen Fetzen sah, seine bis aufs Leben runtergebissenen Nägel.
Als die Sitzung um war, fragte der Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität: »Wer ist dabei? Kleines Observationsteam heute Abend. Ich will ganz nah an dem Said dran sein. Dicke Bewaffnung. Freiwillige vor. Schmidt, du warst lange nicht mehr draußen. Du machst immer nur die Vernehmungen. Die machst du gut, aber du willst doch auch mal wieder ’ne Knarre tragen, oder? Biste dabei?«
»Heute Abend?« Adam steckte die Hände in die Taschen. »Nee, geht nicht. Ich hab so viele Überstunden, und heute Abend … meine Großmutter, die ist im Krankenhaus …«
»Adams Oma mal wieder«, murmelte einer von den Kollegen. Doch der Leiter sagte: »Okay, Familie geht vor, ich weiß das, ich hab nämlich keine mehr, weil ich euch Luschen schon zu lange anleite. Gut, du bist raus, Schmidt. Andere?«
Während sich die Testosteron-Boys um den Auftrag kloppten, ging Adam nach draußen. Er nahm den Weg zum Klo und stellte sich im Waschraum vor den Spiegel. Sein Gesicht war jung und hübsch. Aber er selbst sah nur Verfall. Graues Elend. Die nackte Wahrheit. Die Angst.
Die Tür ging knarrend auf. Rabenstein, der Wichser. Er musste ihm gefolgt sein.
»Sag mal, Adam, was ist denn los mit dir?« Seine Stimme weich wie Butter. Er wollte schon lange sein Freund sein. »Komm doch mal auf einen Einsatz mit raus. Du bist irgendwie so verstockt. Stimmt was nicht? Ich will dich mal wieder dabeihaben, wir sind doch Kumpel.«
»Ich kann heute nicht, hab ich doch gesagt.«
»Hast du Schiss, oder was?«
Rabenstein ließ die Worte durch den Raum fliegen, wartete aber keine Antwort ab, sondern beugte sich vor und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Adams Hand sah er zu spät. Er spürte nur, wie Adam ihn mit der Kraft eines Verzweifelten unter den Hahn drückte. Das Wasser lief ihm über den Kopf, übers Gesicht. Adam drehte den Wasserhahn auf heiß. »Hey, lass los!«, rief Rabenstein, seine Stimme noch amüsiert. Er musste glauben, dass es sich um einen Scherz handelte. Aber dann wurde das Wasser wärmer, viel wärmer, bis es kochend heiß war. Er schrie auf.
Adam beugte sich zu ihm herab, sein Griff immer noch wie der Biss eines Pitbulls. »Sag das nie wieder zu mir, du Wichser, oder ich bring dich um.«
Er stieß Rabensteins Kopf gegen das Porzellan, dann erst ließ er ihn los. Rabenstein drehte schnell das kalte Wasser auf, um seine verbrühte Haut zu kühlen. Zitternd drückte er sich hoch, doch da war Adam schon in der Tür.
»Ach ja?«, rief Rabenstein schnell. »So wie Melanie?«
Adam drehte sich um. »Was willst du damit sagen?«
»Ich hab das alles noch mal nachgelesen, nächtelang. Ich hab die Pläne studiert, wer wo gestanden haben soll. Es kann nicht sein. Melanie kann nicht geschossen haben, wenn es so war, wie du sagst. Ich will wissen, was da in dieser Wohnung wirklich passiert ist. Und ich werde es herausfinden. Und dann, Schmidt, dann mach ich dich fertig.«
Adam winkte ab, mit all der Coolness, die er sich als schützende Mauer antrainiert hatte. »Viel Spaß, du Bastard.«
Dann war er draußen.
Er hatte seine Oma besucht, wenigstens das. Sie war nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause in Pankow, aber das machte ja nichts. Jetzt stromerte er durch den Kiez. Er musste die Zeit totschlagen, weil ihn die Wände seiner Bude in der Dunckerstraße sonst erdrücken würden.
Er blieb beim Späti in der Lychener stehen und holte sich ein großes Beck’s, es war sein drittes. So langsam wirkte der Alkohol. Die Kirschbäume in der Straße blühten, aber er nahm die weißen Knospen gar nicht wahr.
Als sie vor ihm stand, begriff er. Er hatte sie auch schon gestern gesehen und den Abend davor, aber er war sich sicher gewesen, dass er sich täuschen musste. Dass sein Gedächtnis ihm einen Streich spielte. Doch das hatte es nicht. Sie war es wirklich. Sie war immer da gewesen.
»Hallo, Linh«, sagte er.
»Hallo, Adam«, antwortete sie. »Es tut gut, dich zu sehen.«
»Hm«, murmelte er.
»Dir geht es nicht gut, oder?«
Er sah sie nicht an. »Du bist groß geworden.«
»Ich bin einundzwanzig.«
Er konnte nicht umhin, sie mit seinem Blick zu vermessen. Sie war eine junge Frau geworden, hübscher, als er jemals eine gesehen hatte.
»Was willst du?«
Sie stand da und sah zu, wie er mit einem Feuerzeug sein Bier öffnete. Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand und trank einen großen Schluck, dann gab sie ihm das Bier zurück. Sie war ihm zu nah, viel zu nah.
»Ich habe ewig gebraucht, um dich zu finden. Ich habe nach dir gesucht, aber anscheinend ist es echt schwer, einen Bullen zu finden.«
»Gut für mich.«
»Na, jetzt hab ich dich ja. Ich folge dir seit zwei Monaten.«
Er trank und sah sie nicht an. »Warum?«
»Weil ich auch nicht schlafen kann. Sie überfallen mich auch, die Erinnerungen und der verdammte Schmerz. Ich muss immer daran denken, an deine Kollegin, an Duc, an …« Sie sprach nicht weiter, sondern griff nach seiner Hand, einfach so, als wüsste sie, dass er sie nicht wegziehen würde.
Ihre Hand war klein und zart und warm. Seine Hand war kalt und versehrt, sie war wie ein blutiger Klumpen. Er hoffte, dass sie nicht hinsehen würde.
»Du bist nicht allein mit deinem Schmerz, Adam. Du bist nicht allein. Du hast mich gerettet. Mich und meine Familie. Ich war ein kleines Mädchen damals. Aber ich kann dich nicht vergessen.«
Sie ließ seine Hand nicht los, sondern zog ihn mit sich.
»Niemand weiß von all dem, außer Duc und dir und mir. Vielleicht …«
Sie kam ihm wieder nah, ganz nah, er sah ihre Augen übergroß, er hätte ihr Gesicht streicheln können. »Vielleicht brauchen wir uns, damit wir heilen können.«
»Ich glaube nicht …«
»Gib mir diesen einen Abend, Adam, komm mit mir.«
»Ich will nicht, ich …«
»Komm …«
Er zögerte noch, dabei hatte er sich längst entschieden. Er ging Hand in Hand mit ihr die Lychener entlang, über den Hof der Kulturbrauerei, er wusste nicht, wo sie ihn hinführte, er verstand nichts. Sie kaufte im Kino zwei Tickets, und als der Vorspann von Stolz und Vorurteil begann, fing er an zu weinen. Das Kino war fast leer. Er weinte, er schluchzte, er ließ alles raus, und sie hielt ihn im Arm, hielt seinen zuckenden Körper, ihr Ärmel war so nass, dass sie ihn hätte auswringen können. Und dann, als Keira Knightley im Regen stand, beugte sie sich zu ihm, und er umfasste ihr Gesicht und spürte ihre Lippen auf seinen.