»Wohin jetzt, Holmes?«, fragte ich ihn, als wir, in einer Kutsche sitzend, zurück zu unserem eigenen Gefährt gebracht wurden.
»Nach Broad Oak. Sie erinnern sich doch an den Geistlichen, der mit gespaltenem Schädel am Strand in der Nähe von Herne Bay gefunden wurde? Der Pfarrer von Broad Oak wird uns sicherlich ein paar Details über seinen ermordeten Kollegen John S. Minster verraten können. Sie wissen ja, wie das auf dem Land üblicherweise abläuft. Selbst wenn er kein Interesse am Schicksal seines Vorgängers gehabt hat, ist ihm doch einiges über ihn von seiner Gemeinde zugetragen worden.«
»Je weniger Interesse er gezeigt hat, desto mehr hat er erfahren«, fügte ich lachend hinzu.
»Genau, mein Lieber, so ist es!«
Wir fuhren in nordöstliche Richtung und kamen recht bald auf die Broad Oak Road, die wenige Meilen außerhalb Canterburys in Richtung Meer abbog und uns in das Dorf brachte. An der Durchgangsstraße lag linker Hand das Pfarrhaus. Holmes achtete darauf, die Kutsche in einem schmalen Weg abzustellen, der von der Straße nicht direkt einzusehen war. Wir klopften an die Eingangstür und eine ältere, zerbrechlich aussehende, zuvorkommende Dame öffnete uns die Tür. Es war zweifelsohne die Pfarrhaushälterin. Sie stellte sich als Mrs. Laud vor, bat uns herein und bemerkte, dass Pfarrer Stepright nur kurz in die Kirche gegangen sei, um etwas vorzubereiten. Wir könnten derweil in seinem Studierzimmer warten, sie bringe uns etwas Tee.
Es dauerte nicht einmal zehn Minuten, bis ein ebenfalls ergrauter, dicklicher Mann in die Stube trat und uns freundlich lächelnd begrüßte. Gleich hinter ihm ging Mrs. Laud, die auch für den Pfarrer eine Tasse vorbereitet hatte, was dieser mit einem Schmunzeln registrierte.
»Sie nehmen doch auch Tee?«, bemerkte sie und stellte die Tasse vor ihn, noch ehe der Kirchenmann hatte antworten können. Es dauerte ein paar Minuten, bis alle Geschirrteile zu Mrs. Lauds Zufriedenheit platziert waren, dann begutachtete die alte Dame noch einmal deren Anordnung und verließ das Arbeitszimmer. Wir stellten uns kurz vor. Dem Pfarrer war Holmes’ Name ein Begriff, und er beglückwünschte ihn zu seinen Erfolgen. Nach einem Moment des Wartens wollte er wissen, was wir denn genau zu erfahren hofften. Mein Gefährte ergriff das Wort.
»Pfarrer Stepright, ich muss mich entschuldigen, dass wir uns nicht vorab angemeldet haben, aber wir sind auf einer kleinen Tour durch Kent, und da ich vor langen Jahren einmal mit der Aufklärung eines Falls betraut war …«
Der Geistliche hob die Hand.
»Sie möchten etwas über den unglückseligen John S. Minster erfahren. Nun, ich wollte damals eigentlich nichts über die Umstände seiner Ermordung wissen. Aber wie es eben so geht, je weniger man fragt, desto mehr wird einem erzählt. Es scheint ein schreckliches Geheimnis mit seinem Tod verbunden zu sein, so zumindest heißt es hier im Dorf. Er wurde erschlagen, ein paar Meilen von hier, am Strand von Herne Bay.« Dabei deutete er mehrfach mit dem Arm in die entsprechende Richtung.
»Er war noch recht jung und gut angesehen bei den Gemeindemitgliedern. Niemand konnte sich erklären, weshalb er einen solch schrecklichen Tod erleiden musste, es traf alle hier völlig überraschend.«
»War er denn schon lange in der Gemeinde gewesen?«
»Lassen Sie mich überlegen. Nein, er war nur etwa zwei Jahre in Broad Oak gewesen. Wenn ich mich nicht täusche, hat er vorher in Canterbury seinen Dienst verrichtet.«
»Aber Sie können mir nicht zufällig sagen, wo?«
»Warten Sie. Vielleicht kann ich Ihnen diese Frage beantworten.«
Er ging zu seinem Sekretär, öffnete die Klappe und holte ein schwarz eingebundenes Heft heraus.
»Ich habe mir dann schließlich doch Notizen gemacht, nachdem die Erzählungen meiner neuen Gemeindemitglieder einfach nicht weniger wurden. So konnte ich ihnen wenigstens das Gefühl geben, dass ihre Worte Gewicht hätten.«
»Im Nachhinein betrachtet, stimmt das vielleicht sogar«, bemerkte Holmes mit nachdenklicher Miene.
Der Pfarrer blätterte erst eine Weile und las dann an verschiedenen Stellen, bis er schließlich den Zeigefinger auf einen Absatz legte.
»Hier! Meine Erinnerung hat mich nicht getäuscht, Canterbury. Und zwar war er einer der Pfarrer, die für unsere Kathedrale zuständig waren.«
Natürlich sah ich, wie sich das Gesicht meines Gefährten unmerklich entspannte; es schien die von ihm erhoffte und wohl auch erwartete Information zu sein.
»Wäre es Ihnen möglich, dass Sie mir das Heft für ein paar Tage anvertrauen würden? Ich kann Ihnen versichern, dass es im Dienste der Wahrheit eingesetzt wird.«
Der grauhaarige ältere Herr lächelte wie ein gutherziger Schäfer, der unerschütterliches Vertrauen in seine Herde hat und legte Holmes das Heft in die Hand. Dann schenkte er uns Tee nach und wir tranken diesen in nahezu beseelter Stimmung. Als wir uns schließlich verabschiedeten, sah Stepright meinen Freund kurz und eindringlich an, legte ihm die Hand auf die Schulter und ließ vollkommen beiläufig fallen:
»Ich habe mich schon immer gefragt, was sich John Minster zu Schulden hat kommen lassen, dass man ihn auf solche Weise gerichtet hat.«
Holmes flüsterte dem alten Mann etwas zu, der daraufhin nickte. Dann öffnete er die Tür und entließ uns nach draußen. Es sah nach Regen aus, der Himmel war von schweren Wolken durchzogen und die Luft deutlich wärmer als die letzten Tage. Vielleicht würde es am Nachmittag gewittern.